Angela Zimmermann

Erlös mich, wenn du kannst


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an.

      Er sitzt mir mit einem breiten Grinsen gegenüber, was ich schon lange nicht mehr bei ihm gesehen habe.

      Ich setze mich auf und lächele ihn etwas gezwungen an, was er aber gar nicht wahrnimmt.

      „Du kannst dir das nicht vorstellen. Ich bin der einzige Mann an dieser Schule, außer dem Hausmeister natürlich. Glaubst du das?“, spricht er weiter, ohne auf eine Antwort zu warten, auf seiner selbst gestellten Frage.

      „Ich sehe es dir an. Du freust dich anscheinend wie ein Teenager darüber“, lache ich ihn nun aufrichtig an, denn ich bin mir sicher, dass das kein Problem für uns werden wird. Aber hier geht es ja auch nicht um ihn, anscheinend ziehe ich die Probleme magisch an.

      Denn, was mir dagegen passiert ist, macht mir wirklich Sorgen. So ändert sich mein Gesichtsausdruck wieder und ich lasse mich zurück in die Polster fallen.

      Wie soll ich das Manuel erklären, wenn ich es selbst kaum begreifen kann? Ich habe gehofft, dass sich hier alles ändert, jedoch das Gegenteil ist eingetreten. Manuel hatte wohl recht. Ist das etwa ein Puzzleteil? Aber wie passt das in mein Leben?

      „Stella, was ist passiert?“ Manuel sieht plötzlich ernst aus und greift nach meiner Hand.

      Ich weiß, dass ich mich gerade an diesen Händen festhalten kann, denn sie waren schon immer für mich da. Aber Manuel ist gerade so gut drauf. Kann ich ihn jetzt die gute Laune damit verderben? Während ich mir diese Frage stelle, klingelt es an der Tür und so komme ich gar nicht dazu, ihm irgendetwas zu erklären.

      Er springt auf und läuft aus dem Wohnzimmer. Im Hintergrund höre ich, wie sich Manuel mit einer Frau unterhält, aber leider verstehe ich von hier aus kein einziges Wort. Kurz darauf schließt sich die Haustür wieder.

      „Wer war das?“, will ich wissen und quäle mich von der Couch hoch. Wie benommen gehe ich in die Küche und sehe, wie Manuel gerade einen Kuchen auf die Arbeitsplatte stellt.

      „Das war die Nachbarin. Sie begrüßt uns hier in der Gemeinde mit einem Kuchen. Ist doch nett, oder?“, wendet sich Manuel mir zu.

      „Ja, sehr nett“, antworte ich und bin mir im selben Moment nicht ganz sicher. Die Erfahrungen mit den hier lebenden Leuten stecken mir wortwörtlich noch in den Knochen.

      Aber der Kuchen sieht wirklich köstlich aus und so mache ich Kaffee. Nach ein paar Minuten ist er fertig und ich stelle Tassen und Teller auf das Tablett. Das Wetter ist so schön, da muss man draußen auf der Terrasse sitzen.

      Ich hole ein Messer, um den Kuchen anzuschneiden. Aber als ich den Teller berühre, fällt es mir aus der Hand. Augenblicklich durchfährt ein fast nicht auszuhaltender Schmerz meinen Kopf. Meine Hände greifen nach Manuel und er kann mich gerade noch festhalten, sonst wäre ich gestürzt. Er bringt mich mit aller Kraft in das Wohnzimmer. Dort drückt er mich in einen Sessel. Reagieren ist nicht mehr möglich, ich schließe nur noch die Augen und dann sehe ich auch schon wieder die Bilder.

      Ich bin mitten in einem Wald und vor mir stehen zwei Waldarbeiter. Sie haben die typischen grünen Arbeitssachen an und tragen orange Helme. Der eine hat eine Motorsäge in den Händen und sägt gerade eine große Fichte an, wo er als nächstes wahrscheinlich einen Keil hineinschlägt. Der andere wartet wahrscheinlich darauf, dass der Baum fällt, damit er danach mit seiner Säge die Äste entfernen kann. Im Augenwinkel sehe ich, wie er sich hinkniet und eine Flüssigkeit in das Gerät füllt. Ich kenne es von meinem Vater, er hat auch so eine Motorsäge. So muss es Öl oder Benzin sein. Aber die Bilder führen mich zurück zu den anderen Arbeiter. Dort ist indessen der Keil schon fast komplett in dem Baumstamm geschlagen. Sogar ich weiß, in welche Richtung der Baum fallen sollte. Aber so ist es nicht. Aus einem nicht ersichtlichen Grund beugt sich der gewaltige Stamm zur falschen Seite. Dann fällt er über den Schwerpunkt, was eigentlich gar nicht passieren dürfte, in die Richtung des immer noch knienden Arbeiters. Mir bleibt ein Schrei im Halse stecken, genauso wie dem Mann mit der laufenden Säge in der Hand und schon saust der Baum zu Boden. Dann wird es still. Das Gerät verstummt und sogar die Vögel hören auf zu singen. Absolute Stille erfüllt den gesamten Wald und langsam nähere ich mich den unter dem Baum liegenden Mann. Zwischen den Zweigen hindurch sehe ich ihn liegen. Den Helm hat er nicht mehr auf, der ist durch den Aufprall meterweit davongeflogen. Seine Augen sind weit geöffnet und aus Mund und Ohren läuft Blut. Ehe der andere Arbeiter bei ihm ist, wird mir wieder klar, dass auch er tot ist. Ich wende meinen Blick von ihm ab und bin gleichzeitig zurück in der Gegenwart.

      Manuel sitzt vor mir auf dem Fußboden und hält meine Hände. Ihm steht das Entsetzten ins Gesicht geschrieben. Seine Augen beobachten jede Bewegung, die ich mache, aufmerksam und er ist wie auf dem Sprung. Wenn ich jetzt in Ohnmacht fallen würde, wäre er sofort da und würde mich auffangen.

      Ich versuche, ruhig und gleichmäßig zu atmen und gleichzeitig lasse ich die Infos noch einmal durch meinen Kopf laufen. Wieder kommt die Hilfe, die ich anbieten könnte, zu spät. Das ist nun der dritte Mann, dem ich beim Sterben zusehen musste. Warum kommen diese Visionen? Was soll das verdammt noch mal, wenn ich sowieso nicht helfen kann? Das war doch immer so. Diese Gabe kommt mir plötzlich sinnlos und als eine unbeschreibliche Last vor.

      „Stella“, höre ich Manuel ganz leise neben mir sagen.

      „Das war die dritte Vision heute“, flüstere ich mit kratziger Stimme, denn mein Mund ist staubtrocken. Ich stehe auf und gehe mit immer noch zitternden Beinen in die Küche, um mir ein Glas Wasser zu holen. Den Kaffee habe ich total vergessen, aber als ich den Kuchen sehe, schnürt es mir schon wieder die Kehle zu. Noch eine Vision von der Art erträgt mein Körper nicht mehr. Der Kopf fühlt sich wie in einem Schraubstock an und ich muss mich anstrengen, überhaupt einen klaren Gedanken fassen zu können.

      „Was hast du gesehen? Wo müssen wir hin?“, fragt Manuel aufgeregt. Er ist schon fast an der Tür und wartet nur noch auf mich. Er denkt natürlich, dass jetzt jemand schnellstens meine Hilfe braucht, wie es auch normalerweise wäre.

      „Wir müssen nirgendwohin“, erwidere ich gequält und gehe mit dem Glas Wasser hinaus auf die Terrasse. Manuel folgt mir und setzt sich mit einem unverständlichen Blick zu mir.

      „Ich hatte heute schon zwei andere Visionen“, wiederhole ich mich, aber Manuel hört einfach nur zu. „Bei allen waren die Männer, um die es ging, schon tot“, lege ich nach und er sieht ungläubig zu mir herüber.

      „Das ist aber neu. Ich denke du sollst helfen“, murmelt Manuel fast zu sich selbst, aber ich habe jedes Wort verstanden.

      „Das dachte ich auch. Aber ab heute ist das wohl anders. Warum kann ich dir nicht sagen. Ich verstehe es selbst nicht“, gebe ich von mir und schüttele meinen Kopf, der immer noch schmerzt.

      „Welche Männer waren es denn? Sind sie hier aus der Stadt?“, will Manuel wissen.

      „Ja, sie sind alle von hier. Der erste war der Fleischermeister und dann ein anderer Nachbar. Zwei Häuser von uns entfernt“, antworte ich mit einer Hand an der Schläfe und die andere hält das Glas, an dem ich immer wieder kurz nippe.

      „Aber wie ist es denn dazu gekommen?“, hakt Manuel nun ungläubig nach.

      „Ich habe die Frauen berührt. Die Fleischerin, als sie mir die Tüte mit der Wurst, die ich eingekauft habe, gegeben hat und die andere Frau hat mir zur Begrüßung einfach nur die Hand gegeben, als wir vor ihrem Garten standen. Der Fleischer ist schon zwei Monate tot. Bei dem zweiten Mann, ich glaub, der hieß Büttner, weiß ich es nicht“, erkläre ich Manuel, der mir mit offen stehendem Mund gegenüber sitzt und gespannt zuhört. „War denn die Nachbarin, die den Kuchen gebracht hat auch schwarz gekleidet?“, frage ich leise und schaue zum Nachbargrundstück hinüber, kann aber niemanden sehen.

      „Ja, war sie. Aber da habe ich mir nichts dabei gedacht“, kommt kopfschüttelnd von Manuel.

      „Wie denn auch. Woher solltest du denn wissen, was ich heute schon alles erlebt habe“, winke ich ab und überlege dann, wie es weiter gehen soll.

      Waren es alle, oder gibt es hier noch mehr Verstorbene?