Angela Zimmermann

Erlös mich, wenn du kannst


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Brot und im nächsten Moment stehe ich in der Fleischerei. Der Geruch von leckerer Wurst steigt mir in die Nase und das Wasser läuft mir förmlich im Mund zusammen. Die Verkäuferin ist sehr freundlich und bedient mich ohne eines neugierigen Blickes. Das sie anscheinend in ihren eigenen Gedanken gefangen ist, fällt mir nicht auf.

      Ich kaufe nicht so viel, eigentlich nur einzelne Proben, da wir erst einmal sehen müssen, ob es uns schmeckt. Man kann ja nicht nur nach dem Geruch gehen, obwohl der wirklich lecker ist. Ich lege das Geld in die kleine Schale, die auf der Theke steht und dann nehme ich die Tüte, die die Verkäuferin mir herüber reicht. Dabei berühren sich eher flüchtig unsere Hände und sofort durchfährt mich ein Schlag. Wie vom Blitz getroffen taumele ich nach hinten und stechende Schmerzen explodieren regelrecht in meinem Kopf.

      Eine Vision! Jetzt und hier? Ich hatte schon ewig keine mehr und dachte, ich könnte hier endlich ruhiger leben. Mit den Gedanken stolpere ich an den Stehtisch, der in der Ecke des Ladens steht und kann mich gerade noch festhalten. In der Sekunde kommen die Blitze, die ich nur zu gut kenne und kurz darauf sehe ich die Bilder. Ich höre die Frauen hinter mir tuscheln, aber ich schließe die Augen und widme mich allein den Bildern, um vielleicht helfen zu können, obwohl ich hier noch fremd bin.

      Ich sehe zwei Männer, die mit einer Kuh kämpfen. Sie versuchen, diese auf einen Anhänger zu ziehen, jedoch stemmt sich das Tier so sehr dagegen, dass sie kaum etwas ausrichten können. Dann geht der eine nach hinten und legt seine Hände auf das Hinterteil der Kuh und versucht sie mit aller Kraft auf den Wagen zu schieben. Aber auch das klappt nicht. Gerade als er zur Seite treten will, holt das Tier aus und tritt mit den Hinterbeinen dem Mann voll gegen den Oberkörper. Dieser fliegt nach hinten und bleibt regungslos an der Mauer des Stalles liegen. Der andere lässt erschrocken die Kuh los, die natürlich ihre Chance nutzt und schnellstens auf die Weide zu den weiteren Tieren zurückläuft. Er unternimmt nichts dagegen, sondern rennt zu dem verletzten Mann und beugt sich zu seinem Kollegen hinunter. Er rüttelt ihn, aber es kommt kein Lebenszeichen mehr von ihm. Ich sehe, wie das Blut aus einem Mundwinkel läuft und ich bin mir sofort sicher, dass er tot ist.

      In diesem Moment spüre ich eine Hand auf meiner Schulter und öffne erschrocken wieder die Augen.

      „Junge Frau, alles in Ordnung?“, fragt mich die Verkäuferin und stellt mir gleichzeitig ein Glas Wasser auf den Tisch.

      „Ja, Danke. Es geht schon wieder“, antworte ich leise, denn die Kopfschmerzen sind noch nicht ganz verschwunden.

      „Trinken Sie einen Schluck Wasser. Das tut Ihnen bestimmt gut“, redet sie höflich weiter.

      „Danke“, nicke ich ihr zu und sie geht wieder hinter ihre Theke, um ihrer Arbeit nachzugehen.

      Das kühle Wasser läuft durch meine Kehle und überraschend schnell verschwinden die letzten Schmerzen.

      Jetzt kann ich wieder klar denken und überlege, wie ich das dieser Frau sagen soll. Es ist bestimmt ihr Mann, denn die Berührung unserer Hände hat diese Vision ausgelöst. Normalerweise kommen sie stets ohne Kontakt zu den Betroffenen. Ich habe sie weder gesehen noch gekannt. Das hier ist also etwas ganz anderes, was mich mehr als nervös macht.

      Was wird sie wohl sagen, wenn ich ihr jetzt damit komme, dass ihr Mann einen Unfall haben wird? Sie kennen mich nicht und der richtige Zeitpunkt, mich gerade mit einer Vorhersehung vorzustellen, ist es wohl auch nicht. Ich grübele, wie ich am besten vorgehen sollte, denn viel Zeit werden wir aus meiner Erfahrung her nicht mehr haben.

      In diesem Moment kommt eine andere Frau in den Laden und begrüßt die Verkäuferin sehr vertraulich. Ich nehme einen weiteren Schluck Wasser und lausche gezwungener Maßen dem Gespräch, denn jetzt kann ich mich erst recht nicht an die Frau des Fleischers wenden.

      „Hallo meine Liebe. Ich habe dein Päckchen schon fertig gemacht“, sagt diese hinter der Theke und reicht eine volle Tüte zu der anderen hinüber.

      „Danke dir“, lächelt die Kundin und redet weiter: „Und, wie geht es dir heute? Ich habe wie versprochen die verwelkten Blumen von dem Grab deines Mannes heruntergenommen und einen bunt gemischten Strauß aus meinem Garten in die Vase gestellt. Du musst also nicht gleich loslaufen. Es hat bis zum Wochenende Zeit.“

      „Das ist aber lieb von dir. Ich habe sowieso keine Zeit. Heute kommen noch Schweinehälften und so muss ich auch noch im Schlachthaus mit helfen“, antwortet die Frau mit einem Schulterzucken.

      „Katrin, da wirst du dir wohl doch noch jemanden holen müssen. Ihr zwei könnt das doch nicht alleine schaffen. Und er hat doch auch Familie und kann nicht rund um die Uhr hier bei dir sein“, sagt die Frau vor der Theke.

      „Es sind doch gerade zwei Monate. Ich brauche noch etwas Zeit, um einen genauen Überblick zu bekommen, was ich mir noch zusätzlich leisten kann oder auch nicht. Ich will ja schließlich den Laden nicht verlieren. Frank hat das alles aufgebaut“, schluchzt die Frau und ich wende nun den Blick zu ihnen hinüber.

      Beide flüstern noch etwas, was ich jedoch nicht verstehe. Dann drückt die Katrin ruckartig den Rücken durch, atmet einmal tief ein und ist nur Sekunden später wieder die resolute Verkäuferin. Wie kann man nach dem Tod des eigenen Mannes so einfach weitermachen? Aber sie wird nicht umhinkönnen und schon ziemlich stark sein. Die Frauen nicken sich noch einmal zu und dann verlässt die Kundin wieder das Geschäft.

      Ich schaue ihr durch das Fenster hinterher und die Fragen schleichen sich in meinem Kopf und breiten sich rasend schnell aus.

      Ihr Mann ist schon tot. Seit zwei Monaten! Wieso habe ich dann diese Vision erlebt? Ich brauche und kann doch nicht mehr helfen. Was soll das? Welche Aufgabe wird mir jetzt gestellt? Oder gibt es für mich nichts mehr zu tun und es waren nur die übergroßen Gefühle der Frau, die mir diese Vision geschickt haben. Ihr Schmerz und die Trauer sind wahrscheinlich so stark und trotzdem steht sie hier im Geschäft und zusätzlich noch im Schlachthaus. Irgendwie ist es klar, dass sich das über kurz oder lang entlädt. Aber warum gerade bei mir? Weil ich wohl die Einzige bin, die dafür empfänglich ist. Ich bin froh, nicht auf sie zugegangen zu sein, um helfen zu wollen. Da hätte ich mich ja komplett zum Affen gemacht und schneller einen Ruf hier in der Stadt, als mir lieb gewesen wäre.

      Da ich momentan keine Antworten auf die vielen Fragen in meinem Kopf finde, trinke ich das Glas Wasser aus und stelle es auf die Theke. Ich bedanke mich noch einmal höflich und verlasse den Laden. Vor der Tür atme ich mit einem tiefen Zug die frische Sommerluft ein. Nach ein paar weiteren Zügen fühle ich mich wieder richtig gut. Mein Kopf ist klar und die Gedanken sind weg. Ich möchte unbedingt das Erlebte vergessen und mache mich schnellstens auf den Heimweg.

      

       Kapitel 4

      Ich bin aus der Stadtmitte heraus und meine Schritte werden langsamer. Ich schnaufe durch, denn die Schrittgeschwindigkeit, die ich an den Tag gelegt habe, ist nicht typisch für mich. Jetzt fallen mir die schönen Vorgärten der Eigenheime auf, die an der Straße entlang gebaut wurden. Sie sind nicht die neusten und wahrscheinlich genauso alt, wie das was wir gekauft haben, aber sie sind alle hübsch und ordentlich. Ich schaue an den Häusern entlang und am Ende dieser Straße steht unseres, es ist das Letzte in der Siedlung. Ich hoffe, dass es bei uns in einiger Zeit ebenso so schön aussehen wird. Ich nehme den Anblick der vielen Blumen und Sträucher und deren Anordnung in mich auf. Ich werde noch langsamer und bleibe letztendlich stehen, denn eine Pflanze, die ich noch nie gesehen habe, hat mein Interesse geweckt. Sie leuchtet in einem tiefen Lila. Die Blüte ist groß und voll und sie wird von fleißigen Bienen umschwirrt. Fasziniert von der Schönheit bemerke ich nicht, wie sich mir jemand nähert.

      „Sie ist wunderschön, nicht wahr“, spricht plötzlich eine Frau neben mir und ich fahre erschrocken zusammen. Schnell ziehe ich meine Hand zurück, die gerade eine der Blüten berühren wollte.

      „Ja, so eine Blume habe ich noch nie gesehen“, finde ich meine Stimme wieder und lächele die Frau an.

      „Ich kann Ihnen nicht sagen, wie sie heißt. Wir