sie am Tag zuvor schon ihre Enkelin als vermisst gemeldet hatte: „Herr Dietz, ich weiß jetzt, wohin meine Enkelin gegangen sein könnte!“ „Wohin denn, Frau Faust?“ Der junge Herr Dietz hatte wenig Geduld. Sicher hielt er sie für verrückt. Aber sie musste es ihm sagen. „Ich habe daheim im Regal ein Büchlein über alte Urkunden stehen. Das hat meine Enkelin gestern gelesen und eine Bemerkung gemacht, als ob sie in der Gegend etwas nachsehen wollte, die alten Urkunden betreffend. Ich vermute mal, sie ist wirklich dorthin gefahren und ihr ist dort unterwegs etwas zugestoßen!“ Frau Faust fing an zu schluchzen. Deutlich war zu spüren, dass Herrn Dietz das sehr peinlich war. Als neuer Kommissar und frisch zugezogen, hatte er noch nicht so viel Erfahrung, wie er mit emotionalen Angehörigen vermisster Personen umgehen sollte. „Beruhigen sie sich, Frau Faust, das kriegen wir schon hin. Ich werde gleich selbst bei ihnen vorbeikommen. Dann können sie mir die Gegend zeigen, von der sie sprechen!“ Erleichtert brachte Frau Faust nur ein „Danke“ heraus. Seit sie dem jungen Kommissar gestern von dem Anruf ihrer Enkelin erzählt hatte, hielt er sie wahrscheinlich für bekloppt und nun noch die Sache mit der alten Urkunde. Das fehlte noch, um sein Bild von ihr als hysterische alter Frau abzurunden. Aber Frau Faust spürte genau, dass es damit zusammenhing.
Kapitel 20
Allein in der Höhle
Lene hatte sich ein wenig hingelegt und einen Schluck Wasser getrunken. Viel wollte sie nicht trinken, denn wenn sie zur Toilette müsste, hätte sie ein Problem in der Höhle. Es war nicht gerade das Holiday Inn hier, mit seinen prachtvollen Badezimmern! Wo blieb er nur, so langsam müsste Wernher doch wieder zurückkommen! Ihr war ganz weinerlich zumute. Was, wenn er gar nicht mehr zurückkam, wenn ihm etwas zugestoßen war? Er hatte Feinde, mächtige Feinde sogar. Sie drehte sich herum und stand auf. Drei Schritte in der Breite und sechs in der Länge. Größer war die Höhle nicht. Es war zum Verrücktwerden! Sollte sie noch einmal versuchen, Oma anzurufen? Aber in der Höhle hatte sie sicher noch weniger Chancen auf Empfang. Nein, dazu musste sie heraus aus der Höhle. Wenn sie nur ganz kurz hinausginge und versuchen würde zu telefonieren, könnte doch nichts passieren, oder? Sie machte sich selber Mut. Dann fiel ihr wieder ein, was Wernher gesagt hatte. Er hatte ihr fest eingebläut, in der Höhle zu bleiben, egal wie lange er weg wäre. Ja, klar, aber er musste das ja auch nicht aushalten. Er war schon stundenlang weg! Das konnte doch kein normaler Mensch aushalten! Sie ging jetzt hinaus, koste es, was es wolle! Langsam stand sie auf und nahm das Handy in die Hand. Den Rucksack ließ sie lieber hier. Sie versteckte ihn unter der Decke und ging langsam zum Ausgang. Vorsichtig lugte sie um die Ecke – nichts! Noch ein Stück vor, ganz leise. Oh! Die Sonne schien – wie schön! Sie lächelte. Noch ein Schritt nach draußen. Alles friedlich, keiner da. Na also! Lene schaltete das Handy ein und ging ein Stück, bis zu den Bäumen. Es war ein Balken zu sehen. Oder eher ein halber, denn er war dauernd wieder weg. Sie wählte aufgeregt Omas Nummer. Es tutete, sie hörte es genau. Vor Aufregung kniff sie die Augen zusammen und lauschte angestrengt. Mist, der Anrufbeantworter! „Oma, ich bin in eine andere Zeit geraten, oben auf dem Buchberg. Bitte hilf mir! Ich hab dich lieb!“
Kapitel 21
Gefangen!
„Halt stehenbleiben!“ vernahm sie plötzlich eine laute Stimme. Oh je, jemand hatte sie wohl reden gehört! Erschrocken schaltete sie sofort das Handy aus und warf es unauffällig hinter ihrem Rücken ins Gebüsch. Wenn das einer sah, wer weiß was sie mit ihr machen würden! Sie würden sie für eine Hexe oder Zauberin halten und damals gab es kein Erbarmen. Zu eindringlich war ihr noch der Besuch, mit der Schule, im Rothenburger Kriminalmuseum in Erinnerung, mit all den mittelalterlichen Folterwerkzeugen, die sie bei den armen Frauen damals angewendet hatten. Deshalb senkte sie demütig den Kopf und sagte leise: „Guten Tag, werter Herr, ich bin nur ein Wanderer und auf der Suche nach Pilzen und Heidelbeeren.“. Schwere Schritte erklangen auf dem federnden Waldboden und ein Mann in Uniform kam hinter den Bäumen hervor. „Wen haben wir denn da?“ rief er drohend und sah sie misstrauisch an. Lene rutschte das Herz in die Hose. Was sollte sie nur sagen? „Ich bin ein junger Wanderbursche!“ rief sie mit zitternder Stimme. Das war das Erste, das ihr in den Sinn gekommen war. „Aha, ein Wanderbursche.“ Der uniformierte Mann zog seine buschigen Augenbrauen zusammen. Lene beschloss sofort, dass er ihr unsympathisch war. „Und was tust du bei uns hier?“ Der Buschbrauenmann stand nun ganz nah bei ihr und sah ihr streng ins Gesicht. „Äh, wie gesagt, ich suche Heidelbeeren und Pilze!“ Lene fuhr sich nervös durch die Haare. Mist, sie hatte keine Mütze auf! „So, so, Pilze und Beeren! Schon etwas gefunden?“ bellte er unfreundlich. „Ja, aber schon alle aufgegessen“, brachte Lene ängstlich hervor. Nur nichts anmerken lassen, beschwor sie sich fieberhaft. „Aha, wer weiß, das kann ja jeder sagen!“ Er glaubte ihr anscheinend nicht. „Na, ich nehme dich erst einmal mit, zu unserem Amt. Wie ein Wanderbursche siehst du mir nicht gerade aus. Eher wie ein grünes Bürschchen, kaum der Mutterbrust entwöhnt. Ein Milchbubi!“ Er lachte dröhnend. Eine Gänsehaut überlief Lene. Ihr war es egal wofür er sie halten mochte, so lange er ihr nichts antat. Sie hoffte, dass er nichts Schlimmes mit ihr vorhatte. Schließlich hatte sie keine Ahnung von seinem „Amt“ und so richtig geheuer, war er ihr auch nicht. Er packte sie grob am Arm und zerrte sie durch das Dickicht zur Straße, oder besser ausgedrückt - einem befestigten Weg. Nun sah er Lene deutlicher und stieß erstaunt heraus: „Was hast du denn da an? Sind das neue Beinkleider? So welche habe ich ja noch nie gesehen!“ „Ja, die sind neu“, meinte Lene zaghaft. „Die habe ich von einem Verwandten aus Frankreich bekommen. Dort tragen sie nur solche Hosen jetzt.“ „Aha, nur solche Hosen sagst du? Ich habe noch keinen Franzosen mit den Dingern gesehen, obwohl ich in meinem Leben schon einige Franzmänner gesehen habe!“ „Na, ja in der dortigen Gegend aber schon, meinte Lene lauter. Dort braucht man sehr stabilen Stoff, so wie der, den ich anhabe.“ „Aha“, nickte der Mann mit skeptischem Blick. „So will ich dir glauben. Also los, ein bisschen schneller, wenn ich bitten darf du lahme Ente! Ich will heute noch ankommen!“ Der Mann zerrte Lene grob hinter sich her, bis zu einem Pferd mit Wagen. Dort warf er sie ohne Federlesens hinauf und band sie am Wagenrand fest, damit sie nicht fliehen konnte. „So ein Mist aber auch“, durchfuhr es Lene verzweifelt. Was würde Wernher nur denken, wenn sie nicht mehr da war, wenn er zurückkam? Fast hätte sie geheult, aber sie bezwang sich. Das konnte sie sich jetzt nicht leisten. Sie musste sehen, wohin sie fuhren, damit sie wieder zurückfinden würde, falls sie fliehen konnte. Falls! Sie seufzte laut. „Was seufzt du denn wie ein altes Waschweib, Bursche? Wir werden dir schon Mores beibringen. Ich kann einen Burschen brauchen, der mir die Schuhe putzt und die Kleidung in Ordnung hält. Meine Frau ist schon wieder guter Hoffnung. Wenn sie noch eine Weile so weiter hofft, platzt unser Häuschen aus allen Nähten!“ „Daran seid ihr aber auch nicht ganz unschuldig, Herr Wachtmeister!“ Lenes Mund war wieder einmal schneller als ihr Hirn. „Auch noch frech der Herr, wie? Das wird dir schon noch vergehen. Wenn du erst ein paarmal die Peitsche geschmeckt hast, wirst du schon parieren!“ Der Wachtmeister fitzte mit seiner Peitsche nach hinten, dass das Pferd erschrak und einen Satz machte. Lene beschloss bestürzt, sich ganz ruhig zu verhalten um den Wachtmeister nicht weiter zu reizen.
Kapitel 22
Im Gefängnis
Nun rumpelten sie über Waldwege und Kopfsteinpflaster in ein Dorf hinein. Ein paar Häuser - Bäcker und Metzger gab es anscheinend auch, ein Gefängnis, eine Kirche - das wars. Oh je, Lene hatte mehr Angst als Vaterlandsliebe. Der Karren hielt vor dem Gefängnis, was Lene nur unschwer an der Gittertür erkennen konnte und der ungeschlachte Wachtmeister warf Lene hinunter in den Dreck. Den Strick der an ihrem Handgelenk befestigt war, hielt er fest in der Hand, so dass sie nicht weglaufen konnte. Ihr Arm war schon ganz aufgeschürft und blutete. Er zog sie hinter sich her ins Gefängnis, das nur aus einem Raum bestand, abgeteilt durch ein Gitter. „Wenn du vernünftig geworden bist, lasse ich dich heraus, dann kannst du dich nützlich machen!“ Er lachte polternd. „Wollen doch mal sehen ob du nicht zu etwas gut bist!“ Er gab ihr einen heftigen Stoß, woraufhin Lene auf einen Haufen Stroh in der Ecke fiel, das einen sehr zweifelhaften Geruch ausströmte. Iiiieeeh! Aber sie war jetzt so fertig, dass sie nicht lange darüber nachdenken