„Schön!“ strahlte Lene und folgte Wernher voll Vertrauen. Sie arbeiteten sich durch eine verwachsene Hecke auf einen kaum sichtbaren Pfad, bis sie ans Ufer der Mümling gelangten. „Die Mümling - wie schön!“ rief Lene. „Sieht sie noch so aus, wie in deiner Zeit?“ wollte Wernher neugierig wissen. „Fast!“ rief Lene verhalten. „In der heutigen Zeit ist alles ein bisschen gerader, aber sie ist noch so tief und so breit wie hier und mir gefällt sie so, wie sie von Natur aus ist, am besten.“ meinte Lene und fing schon an, sich auszuziehen. Hand in Hand gingen sie vorsichtig ins Wasser. „Ist es auch nicht so tief?“ Lene war ängstlich. „Nein, es ist nicht sehr tief und die Strömung ist zwar da, aber nicht zu stark. Ich halte dich, dann wird dir nichts passieren.“ „Schade, dass wir keine Seife haben“, meinte Lene. „Aber wir haben doch welche!“ rief Wernher belustigt und zog ein Stück Kernseife aus der Hosentasche. Aha, deshalb war sein Haar so weich und deshalb roch Wernher so angenehm, obwohl er so primitiv lebte. Er seifte Lene ein, von Kopf bis Fuß, auch die Haare vergaß er nicht einzuschäumen und danach nahm ihm Lene das Seifenstück aus der Hand und tat bei ihm das gleiche. Schön seifig sahen sie aus und kicherten wie kleine Kinder. Hand in Hand tauchten sie immer wieder unter, wo das Wasser tief genug dafür war. Das tat gut, wenn das Wasser auch eiskalt war. „Weißt du, dass später einmal genau hier ein Stadion stehen wird?“ rief Lene lachend aus. “Ein Stadion? Was ist denn das?“ Wernher sah sie neugierig an. „Ein Stadion ist ein großer Platz, der oval angelegt ist, für den Sport. Außen herum geht eine Laufbahn, die Aschebahn, da laufen die Kinder um die Wette gegeneinander, um fit zu bleiben. Sie haben Sport als Schulfach im Unterricht.“ „Sport? Schulfach? Unterricht? Ich hatte nicht viel Unterricht. Nur ein paar Stunden im Winter, bei einem alten Pfarrer und bei meiner Ziehmutter. Die war sehr belesen und wusste vieles, aber Sport hatten wir nicht. Was ist das eigentlich?“ wollte er wissen. „Sport ist nichts anderes, als Bewegung. Die Kinder lernen Bewegungsübungen, sie rennen und springen, um ihre Muskeln zu trainieren und den Körper zu ertüchtigen.“ Wernher sah sie verständnislos an: „Wir hatten genug Bewegung bei der Arbeit und beim Laufen! Ich denke, mehr brauchten wir nicht.“ „Das ist wahr“, grinste Lene. „Aber heute haben die Kinder kaum Bewegung, sie sitzen viel und das ist nicht gut.“ „Das verstehe ich nicht. Haben die Eltern nicht so viel Arbeit, dass die Kinder mithelfen müssen? Ich kann mir das nicht vorstellen“, meinte Wernher erstaunt. „Das glaub ich dir gerne“, verstand Lene ihn, „weißt Du, heutzutage hat kaum noch jemand Landwirtschaft, bei der die Kinder helfen könnten.“ Das konnte sich Wernher nun überhaupt nicht vorstellen, sah ihm Lene an und lächelte in sich hinein. „Hinter der Kurve ist eine kleine Mühle“, murmelte Wernher leise. „Brunnenmühle heißt sie. „Zeigst du sie mir später?“ Lene sah ihn fragend an. „Von weitem, es ist zu gefährlich“, erklärte Wernher. Dann legten sie sich ein wenig in die Sonne auf die Sandbank und waren nach kurzer Zeit trocken. Außer Lenes Haaren versteht sich, die brauchten immer lange. Aber das war nicht schlimm, es war ja warm. Sie zogen sich an und liefen weiter. „Siehst du, hier!“, deutete Wernher nach links, „dort liegt Momlingen! Wir werden uns vorsichtig durch den Mais arbeiten. Das merkt niemand, wenn wir leise sind und nicht zu sehr an die Stängel geraten, damit sie nicht wackeln!“ „Gut, Wernher!“ Lene folgte ihm im Gänsemarsch und sie liefen vorsichtig von einem Maisfeld ins andere. Es waren viele kleine Felder, nicht nur ein paar riesige Äcker, wie es Lene kannte. Die Flurbereinigung lag noch in weiter Ferne. Gott sei Dank, fand sie. Aber das war trotzdem kein Problem, die Äcker lagen rings um den Ort und so liefen sie vorsichtig von einem in den anderen, wenn einer zu Ende war - nicht ohne sich vorher sorgsam umzuschauen. Wernher nannte ihr alle Flurnamen, aber Lene konnte sich nicht alle merken, es schwirrte ihr der Kopf. Dennoch bemerkts sie erstaunt, dass sich einige der alten Namen, fast unverändert, bis in ihre Zeit gehalten hatten.
Kapitel 15
In Mömlingen
„Schau“, flüsterte Lene. „Da ist die Stelle, glaube ich, wo heutzutage ein Kreisel ist.“ „Ein Kreisel?“ verwunderte sich Wernher. „Ja, da fahren die Autos im Kreis hintereinander in rechter Richtung und biegen da ab, wo sie hinwollen. Entweder zum Königswald hoch, nach Mömlingen hinein, in den Odenwald oder nach Eisenbach.“ „Das gibt es noch?“ Wernher war froh, dass nicht alles anders war in Lenes Zeit. „Ja, das gibt es alles noch.“ „Aber was sind Autos?“ Wernher sah sie verwirrt an. „Autos? „Das sind Kutschen ohne Pferde, die von einem Motor betrieben werden, mit Benzin als Treibstoff.“ Auf Lenes Erklärung hin, sah er nur noch verwirrter aus. Lene lächelte, nahm seine Hand und sagte: „Das erkläre ich dir ein anderes Mal, wenn wir mehr Ruhe dafür haben.“ Jetzt stand hier anstelle des Kreisels eine winzige, offene Kapelle. „Ist das schon die Wendelinuskapelle? Ich kannte nämlich noch eine Kapelle, die früher hier stand, als ich ein Kind war - die Wendelinuskapelle. Jetzt steht sie auf dem Berg, über der Schule.“ Lene sah ihn fragend an. Wernher betrachtete das Kapellchen nachdenklich. „Das ist das Wendelshäuschen. Hier beten die Menschen für eine gute Ernte und gesundes Vieh. Der Wendel ist ein guter Heiliger, ein Hirte, der die Tiere geliebt hat. Darum habe ich ihn auch gern“, antwortete Wernher. „Komm, wir gehen Richtung Ort.“ Lene lächelte, weil sie sich freute, in dem Häuschen ein kleines Stück Vertrautheit gefunden zu haben. „Da vorne wohnt meine Oma!“ rief Lene aufgeregt und deutete auf eine alte Scheune. „Ganz am Ortsrand?“ Wernher deutete in Richtung heutige Hauptstraße. „Ja“, Lene zog ihn voran. „Da, am Amorbach. Er fließt ja mitten durch den Ort. Heute sieht man ihn leider nur noch teilweise, weil das größte Bachstück unterirdisch gelegt wurde - also unter der Straße fließt.“ „Das geht?“ Wernher war ganz erstaunt. „Ich möchte nur wissen, wofür das gut sein soll. So ist es doch viel einfacher, man hat immer das Wasser parat, wenn man es braucht und die Tiere können direkt daraus saufen.“ Er schüttelte verständnislos den Kopf. „Dann wollen wir mal, komm!“ Auch hier fanden sie ein Maisfeld als Unterschlupf und vorsichtig setzten sie ihren Weg fort, bis Lene abrupt stehen blieb. „Hier ist es!“ „Was?“ meinte Wernher erschrocken. „Na, Omas Haus!“ Da war jedoch nur die Scheune, die sie von weitem gesehen hatten. Gegenüber erhob sich eine Ziegelei. „Das wird wohl erst noch gebaut.“ meinte Wernher trocken. „Oh je“, - Lene traten die Tränen in die Augen. „Es sieht alles so fremd aus. Gar nicht, wie ich es kenne und es gefällt mir kein bisschen so. Zum Beispiel diese Ziegelei, die steht heute gar nicht mehr, dafür steht dort das Haus meiner Freundin Jo.“ Sie schluchzte leise auf. „Dann komm!“ Sanft nahm Wernher ihre Hand und zog sie den Hang hoch, zum Kühtrieb hinauf. „Hier sind wir schneller!“ Flink huschten sie den Weg zwischen hohen Hecken hoch. Hier konnte sie niemand von der Seite aus sehen, es sei denn, jemand kam ihnen des Wegs entgegen. Lautes Muhen machte dem Kühtrieb-Weg alle Ehre und sie sahen den Hirten vor sich laufen, der ein paar Kühe und Rinder den Weg hochtrieb. „Da oben weiden die Kühe immer?“ Fragend sah Lene Wernher an. „Ja, die Kühe grasen da oben, begleitet von Kuhhirten, meist sind es ein oder zwei Kinder. Die Schweine werden an einem anderen Ort gehütet. Es gibt dafür einen extra Sauhirten. Er führt die Schweine in den Wald, wo sie Eicheln fressen und noch so einiges, was sie finden und mögen. Die Leute sind arm und könnten die Schweine sonst nicht mästen.“ „Das verstehe ich“, nickte Lene. „Und die Gänse und Hühner?“ „Die laufen überall frei herum“, sagte Wernher. „Sie wissen ganz genau wohin sie gehören. Sie sind nicht dumm. Besonders Gänse sind sehr intelligent. Sie sind sogar besser als jeder Hofhund, weil sie fremde Leute vertreiben, indem sie zischen und ihnen in die Beine zwicken. Das tut ganz schön weh - kann ich dir aus Erfahrung sagen.“ Lene grinste, das konnte sie sich lebhaft vorstellen. Trotzdem war sie nicht scharf darauf, mit einem Gänseschnabel Bekanntschaft zu machen. Sie erzählte Wernher von ihrem Vater, der aus Aschaffenburg stammte und dort als Kind die Gänse gehütet hatte und sogar mit ihnen im Main geschwommen war. Wernher war gehörig beeindruckt und Lene freute sich darüber. Mit dem Erzählen verging die Zeit wie im Flug und ehe sie sich versahen, waren sie oben angekommen und sahen unter sich, auf der anderen Seite, den Buchberg vor sich liegen. Übermütig spielten sie Fangen und waren schnell unten angekommen. „Halte dich dicht hinter mir“, bestimmte Wernher und zog Lene hinter sich über den schmalen Holzsteg, der die Mümling überspannte. Nun waren sie bald bei der Hütte angekommen und rechtschaffen müde. In der vorigen Nacht hatten sie alles, außer Schlafen im Sinn gehabt, aber nun waren sie erschöpft. Hungrig waren sie auch