Andreas Groß

Rosenblut


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schüttelte den Gedanken ab. Noch war es nicht soweit. Jetzt musste er sich dieser Julia widmen. Aufmerksam beobachtete er die Straße. Weit und breit war kein Fußgänger zu sehen. Bei den meisten Fenstern der angrenzenden Häuser waren die Vorhänge bereits zugezogen. Er löste die Finger von dem weichen Stoff und berührte einen festen Gegenstand, den er aus der Tasche holte. Es handelte sich um ein Buch. Ein Standardwerk über Betriebswirtschaft. In seinen Augen war dies ein furchtbar trockenes und langweiliges Thema. Außerdem studierten viel zu viele Menschen dieses Fach. Man konnte es nicht mit dem Bereich vergleichen, mit dem er sich jahrelang beschäftigt hatte.

      Er presste die Tasche fest an sich, in der sich neben dem Schal noch ein weiteres Kleidungsstück und eine kleine, weiße Schachtel befanden. Dinge, die er in der kommenden Stunde noch benötigen würde.

      Entschlossen löste er sich aus dem Schatten der gegenüberliegenden Straßenseite, überwand mit schnellen Schritten die wenigen Meter bis zum Eingang und betrat das Studentenwohnheim.

      Es stellte für ihn kein Problem dar, das richtige Appartement zu finden. Er betätigte die Klingel und ihr kurzer Ton hallte durch den Gang, der aber weitestgehend von den Geräuschen aus einigen Nachbarwohnungen verschluckt wurde. Er nahm auch nicht an, dass sein Läuten besondere Aufmerksamkeit erregen würde. Schließlich gingen in dem Haus regelmäßig Personen ein und aus; es war nicht ungewöhnlich, wenn jemand Besuch erhielt.

      Wenige Augenblicke später öffnete Julia die Tür. Mit einer Mischung von Neugier und Verwunderung schaute sie ihn an.

      Romeo blickte sie mit einem freundlichen Ausdruck an. „Verzeih mir bitte die Störung“, erklärte er hastig, ehe sie eine Frage stellen konnte. Dabei hielt er das Buch vor sich. „Ich wollte deinem Nachbarn dieses Buch zurückgeben. Leider ist er wohl nicht daheim und ...“

      Sie runzelte die Stirn, während sie auf den Wälzer starrte. „Du meinst bestimmt Frank?“

      Romeo nickte stumm.

      „Da hast du wirklich Pech, der ist vor einer Stunde zu seinem Training gegangen. In irgendeine Fitnessbude.“

      Romeo kniff die Lippen zusammen. Unschlüssig trat er von einem Bein auf das andere.

      „Das ist wirklich blöd. Dabei wollte er das Buch unbedingt ... zurück haben. Vielleicht ... äh ... könnte ich dieses unhandliche Teil bei dir lassen? Dann muss ich es nicht dauernd mit mir herumtragen. Das Dumme an der Sache ist auch, dass ich die nächsten Wochen nicht mehr in Kassel bin und er dann länger darauf warten müsste. Ich fürchte, dass er es für seine Hausarbeit benötigt. Also wäre es furchtbar nett, wenn du ...“

      Er ließ den Satz unvollendet, um den schüchternen Eindruck, den er ihr vermitteln wollte, zu verstärken. Offenbar schien ihm das zu gelingen, denn sie lächelte ihn offen an.

      „Hey, das ist kein Problem. Ich kann es ihm geben, wenn er vom Sport zurückkommt.“

      „Toll!“, rief Romeo aus. „Echt klasse von dir. Mann, wenn ich gewusst hätte, was für einen Aufwand diese Sache darstellt, hätte ich es mir erst gar nicht ausgeliehen.“

      „War es in der Bibliothek nicht zu bekommen?“

      „Du weißt doch, wie das ist. Wenn man ein Buch dringend braucht, bekommt man es oft erst ein paar Tage später, weil sämtliche Exemplare ausgeliehen sind.“

      Julia nickte verständnisvoll. „Das kenne ich. Mir geht es meistens genauso. Sag mal, haben wir uns nicht schon irgendwo getroffen? Irgendwie kommst du mir bekannt vor.“

      Romeo lächelte, während er so tat, als müsste er angestrengt nachdenken. „Das kann gut sein. Ich bin öfters mit meinem Laptop in der Cafeteria und schreibe an meinen Ausarbeitungen. Vielleicht hast du mich dort gesehen?“

      Sie legte den Kopf auf die Seite. „Kann sein. Ich bin mir aber nicht sicher. Aber warum kommst du nicht kurz rein? Ich habe mir gerade einen Tee gemacht. Möchtest du auch einen?“

      „Das klingt gut“, erwiderte Romeo. „Ich habe einen echt stressigen Tag hinter mir. Manchmal weiß ich abends gar nicht mehr, warum ich mir mein Studium aufgehalst habe.“

      Julia lachte. „Dieses Gefühl kenne ich nur zu gut. Lass uns den Tee genießen und vielleicht fällt mir dann auch wieder ein, woher wir uns kennen.“

      Romeo schritt über die Türschwelle, als Julia zur Seite wich, um ihm Platz zu machen. Er hatte sein Ziel erreicht. Im Grunde war es auch fast zu einfach gewesen, sie von seiner Harmlosigkeit zu überzeugen. Er war eben doch ein brillanter Schauspieler, auch wenn dies bestimmte Menschen immer noch nicht erkannt hatten.

      „Ich bin überzeugt, du wirst es schon bald wissen.“

      Seine Hand glitt in die Tasche, während er durch den kleinen Flur in den großen Raum mit der eingebauten Wohnküche ging.

      7

      Eine leichte Brise fuhr Wolf durch die Haare. Mit einer unbewussten Geste strich er eine Strähne aus der Stirn, während er Anja zum Parkplatz begleitete. Er fühlte sich nicht besonders wohl in seiner Haut. Ihr Vorschlag hatte ihn völlig überrascht. Noch mehr hatte ihn jedoch seine Antwort verwundert. Warum hatte er sich bloß hinreißen lassen, auf ihren Vorschlag einzugehen? Er war sich jetzt schon sicher, dass ihm das noch einigen Ärger bereiten würde. Er hätte sich von Anfang an nicht auf diese Überwachung einlassen sollen. Doch jetzt war es zu spät.

      „Sie haben doch einen Wagen?“, riss ihn Anja aus seinen Überlegungen.

      „Sicher. Er steht gleich dort hinten.“

      „Schön, dann würde ich vorschlagen, dass Sie mich zu meiner Pension fahren. Ich wohne bei Frau Suchier.“

      „Das trifft sich gut“, erwiderte er. „Ich habe dort auch ein Zimmer bekommen.“

      Sie zog die Augenbrauen hoch. „Ich dachte, die Pension wäre in dieser Woche vollkommen ausgebucht?“

      Wolf fuhr sich über die Lippen. „Ein Gast hat wohl in letzter Sekunde abgesagt, sodass ich das Glück hatte, das Zimmer kurzfristig zu bekommen.“

      „Sie gehören offensichtlich zu den Menschen, denen vieles so einfach in den Schoß fällt.“

      Wolf stieß ein Schnauben aus. „Das sieht nur so aus. Ich stehe auch nicht immer auf der Sonnenseite des Lebens.“

      Sie nickte nachdenklich. „Welcher Mensch tut das schon? Und geben Sie mir jetzt bloß keine Antwort darauf. Selbst die am glücklichsten erscheinenden Menschen müssen meist hart für ihren Erfolg arbeiten. Da bin ich mir vollkommen sicher.“

      „Wenn Sie es sagen“, erklärte Wolf, „werde ich Ihnen auch nicht widersprechen.“

      „Bitte, ersparen Sie mir Ihre Ironie. Es reicht, wenn ich Sie für unbestimmte Zeit ertragen muss.“ Sie beugte sich leicht zu ihm herüber. „Natürlich auf Wunsch meines Vaters.“

      „Ich dachte, das hätten wir bereits geklärt?“

      Anja presste die Lippen zusammen. „Okay, ich werde es nicht länger erwähnen. Fahren Sie mich nun zur Pension?“

      Sie hatten inzwischen seinen Wagen erreicht. Wolf betätigte die Fernbedienung, um die Türen zu öffnen.

      „Was ist mit Ihren Freunden?“

      Sie runzelte die Stirn. „Wen ..., ach, Sie meinen Ben, Harry und Lisa. Da kann ich Sie beruhigen. Die sind keine echten Freunde. Wir bilden lediglich eine Interessengemeinschaft, eine Gruppe, die versucht, über die Kunst zu kommunizieren.“

      „Dann werden die drei Sie nicht vermissen?“

      Sie lachte. „Im Grunde gehen wir seit unserer Ankunft getrennte Wege. Ich bin nicht gerne mit anderen Menschen zusammen.“

      Raphael warf ihr einen verwunderten Blick zu. „Sie wirken aber auf mich nicht gerade wie eine Einzelgängerin.“

      „Das täuscht, Herr Fuchs. Normalerweise bin ich sehr zurückhaltend und öffne mich selten irgendeinem