Paul Stefan Wolff

Malin - Vampir und Heilerin


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ihre Kernkompetenz? Antwort: In die Halsader schneiden, ohne dass man es merkt. Aha, sagt die Frau, großartige Aussichten: Wir zahlen ein Jurastudium, was Soziales, Außendienst, vielleicht Handyverkäufer – oder aber wir übernehmen die OP zur Ehefrau.

      Naja, sagt der Wrukola, ich sauge die Leute aus aber nur einmal im Monat. Aha, sagt die Frau, dann bliebe Steuerberater, Finanzamt – oder Frauenarzt.

      Ja ja, sicher, der Wrukola ist sehr deprimiert, aber ich hadere damit! - Und machen es dennoch? - Ja. - Super! Dann Fallmanager beim JobCenter oder Schwiegermutter!

      Aber verstehen Sie mich doch, klagt der Wrukola. Ich will das nicht ewig tun, ich sollte davon ganz sicher geheilt werden. Es ist furchtbar, was ich tue.

      Und was antwortet die Arbeitsamts-Frau? Dann ist nur noch ein Job übrig: Sie passen zu einer Bank!“

      „Wie wahr“, nickte Malin. „Wie wahr.“

      Und so kam es dann, dass zwei Tage später Malin bei Sandus Mutter Marianna auf der Couch saß und Tee aus einem aufwändig dekorierten Samowar trank. Die ältere Frau war korpulent, aber nicht hässlich, sie rauchte lange dünne Zigaretten, die sie mit schlanken Fingern wie eine Grand Dame hielt. Malin hatte sie bei der Hausarbeit unterbrochen, der Staubsauger lag auf dem Boden – aber selbst zur Hausarbeit war Marianna herausgeputzt und geschminkt, mit knallroten Fingernägeln. Sie trug einen Hosenrock aus edlem Stoff, darüber einen Pulli. Sie saß im abgewetzten alten dunkelroten Ledersessel („ist ein Überrest aus dem Kreml, habe ich bei einer Renovierung unter Jelzin teuer erstanden“) und strahlte die Erhabenheit einer Botschaftergattin bis auf die Bilder von Lenin und Che Guevara aus.

      „Weißt du, Malin“, Marianna rührte in ihrem Tee. „Die Kinder von Karrieristen werden Punker und die Kinder von armen Leuten werden Banker. Die Kinder halten den Eltern ihre Leben wie einen Spiegel vor. Sie sind eine Reaktion auf die Erziehung, spiegelverkehrt. Eine Reaktion auf das Leben der Eltern. Auf deren Lebenslügen.“

      „Kann schon sein“, antwortete Malin.

      „Ich war Ideologin. Mein Leben lang. Die Seele des Menschen. Seine Erlösung. Ich bin hierher gekommen, ich habe Deutsch gelernt, gut. Ich bin eine Große in einer extrem linken Partei hier. Ich kenne weite Passagen vom „Kapital“ auswendig. Und was macht mein Sohn?“

      „Das gleiche, nur anders?“

      Marianna stand auf, sie winkte Malin, ihr zu folgen. Sie führte sie in den Keller. Dort stand eine lange Reihe von Kisten.

      „Er macht Internet-Handel“, sprach sie und zog ein Armband hervor und nacheinander Beispiele. „Aus Abfall stanzt er Herzen. Aus Dosen. Aus Verpackungen. Aus Tetra-Paks. Und alle haben in der Mitte ein Loch. Um diese Herzen mit der Mitte verbunden“ sie zeigte eines, „macht eine Frau Wollfäden.“ Und dann zeigte sie ein fertiges Wollherz. „Und daraus wird ein Freundschaftsbändchen. Um die Hand. Um den Hals. Alle möglichen Farben. Der Slogan dieses Müllrecyclings ist: Herzen sind nichts zum Wegwerfen.“ Marianna setzte sich müde auf einen Stuhl „Wrukolas sind an machen Tagen große Romantiker, ganz große Gefühlsmenschen. Sandu hat immer gesagt, dass alles hilfreich ist, was im Leben passiert. Die schlechten Dinge, damit man daran wächst. Die guten Dinge, damit man sich freut. Ich hoffe, du wirst eines Tages lernen, was er dir angetan hat, als Geschenk AUCH zu begreifen.“

      Malin lächelte ihr liebevollstes Lächeln. Sie kam auf Marianna zu und umarmte sie. Und dann schluchzte Marianna auf.

      „Mein Sohn ist weg“, sie hatte Tränen in den Augen, als sie die Umarmung löste. „Ich habe meinen Sohn an etwas verloren, was als etwas Gutes geboren wurde und jetzt als böse angesehen wird. Daran glaube ich, ohne was darüber zu wissen. Die Tragik ist, das ist mit dem Kommunismus genauso. Malin, merke dir eines: das Leben ist Karneval. Die alten Dinger kehren verkleidet zurück.“

      „Danke.“

      „Es will mir wohl sagen, ich soll die alten Kamellen begraben“, sagte Marianna, dann bewegte sie ihren massigen Körper an ihr vorbei und stieß verzweifelt weinerlich aus: „Aber ich kann es immer noch nicht.“ Sie hielt inne, drehte sich zu Malin um, fasste sie bei den Schultern, ihre Stimme hatte plötzlich das Feste der altkommunistischen Überzeugung: „Beweise, dass Wrukolas was Gutes sind. Ich bitte dich!“

      „Ich? Ich bin manchmal so labil wie eine leere Zwangspfand-Plastikflasche. Der leichteste Stoß wirft mich um. Ich habe doch noch nichts geschafft, von dem was ich wollte. Ich bin ausgeliefert. Wo sind meine Träume hin? Ich wollte doch ein Leben haben! Ich habe nicht genug geschafft, um darauf aufzubauen. Aber dennoch genug zu verlieren, um Verlustangst zu haben. Aber Scheiß auf die Verlustangst. Denn meine Angst, nicht ich zu sein ist die größte. Ich habe eine verrückte Gehirnzelle da im Kopf drin, die sagt: ich wollte mehr. Ich weiß nicht, was. Anders. Ich bin so nicht glücklich. Das ist alles einfach von Grund auf falsch verkehrt schief gelaufen! Und ich weiß nicht genau, was! Ich weiß nicht, an welchem Punkt ich was hätte anders machen sollen. Das bin nicht ich! Das ist nicht mein Leben!“ Und flehend: „Ich will hier raus. Ich will aussteigen. Ich bin am Ende! Hilfeee...“

      „Ruhig. Ruuu-hieeg.“, sie sprach betont langsam. „Das sind wir alle. Der ständige Wechsel zwischen starken Phasen und dem Gefühl, nichts weiter zu sein als Laub im Wind. Das ist normal, das geht jedem so!“ Marianna umfasste Malins Oberarme, weit oben, an den Schultern. „Die Fahne hochzuhalten, das heißt, die Fahne weht im Wind. Aber sie bleibt oben. Gehe den Weg!“

      „Wie? Welchen?“

      „Es müsste ein Weg sein, der den Geist der Menschen befreit. Das Rezept des trojanischen Pferdes, wenn die Akzeptanz der Wrukolas mit was Gutem einhergeht“, Marianna deutete zum Fenster hinaus.

      Natürlich hatte Marianna Malin zwei Adressen mitgegeben. Eine von einer Eva, die andere war von einem Paul. Eva war die Wolle-Aufrollerin. Paul arbeitete bei der Müllverwertung. Zuerst ging Malin zu Eva, sie meldete sich an, Eva war einverstanden, sie daheim zu besuchen. Und davor war der Anruf beim Kommissar, Malin log etwas, bislang noch keine Hinweise auf irgendwelche Russen.

      Eva hatte langes glattes rötliches Haar. Sie hatte zwei Kinder, Damian, eineinhalb, Simone, sechs. Beide von verschiedenen Vätern, wo die Kinder sich gerade aufhielten. Sie wohnte etwas außerhalb, in Schniegling, sie hatte ein Haus geerbt. Die strahlende Frau war auf dem ersten Blick eine sehr sympathische Frau von 37 Jahren, sie führte Malin zu einem großen Raum. An der linken Wand schloss sich ein Tisch an, ihr Arbeitsplatz. Hier hatte sie eine Vorrichtung, um die Wollfäden schnell durch die Löcher der Herzen zu stechen und außen an den Rändern zu befestigen, wieder ins Loch und wieder nach außen. Hinter dem Tisch der Linkshänderin standen Kisten mit Wolle in allen möglichen Farben. Die Kisten zogen sich in einer langen Reihe bis ans andere Ende des langen Raumes. An der anderen Wand stand am Tisch ein PC, auf dem pro Bestellung die Anzahl angegeben wurde. Gleich im selben Programm war dann die Möglichkeit gegeben, die Adresse anzugeben, dann sogleich die Rechnung auszudrucken. Weiter hinten am Tisch die Verpackungs- und Versandutensilien und ganz am Ende der Reihe auf einem Postwagen die fertig gepackten Kisten bereit für den Abtransport zur Post, was offenbar durch die hintere Tür passierte.

      Das PC-Programm interessierte Malin sehr, der Kommissar hatte ja die Russen und das Programmieren erwähnt. Und tatsächlich, nicht nur dieses Programm, auch die Website des ganzen Unternehmens stammten von einem Russen. Den Sandu während einer Feier im „Twenty-Eight“ kennen gelernt hatte.

      „Das Twenty-Eight ist ein Club in Fürth“, klärte Eva sie auf. „Dort finden abwechselnd am Wochenende Russische und Rumänische Parties statt. Die kennen sich etwas.“

      „Und du hast die Adresse von dem Programmierer nicht zufällig?“ fragte Malin.

      „Die hat Paul. Er kann dir sagen, wen du da suchen sollst.“ Eva strahlte übers ganze Gesicht. „Paul ist nett. Halt manchmal komisch. Aber sehr nett. Du solltest mal sehen, wie lieb er mit den Kindern ist. Er ist halt neidisch auf den Erfolg von Sandu, aber ansonsten ok.“

      „Danke. Ich gehe die nächsten Tage zu ihm.“

      „Und wann kommt Sandu von seiner Reise zurück?“ fragte Eva. „Weißt