das soll ich dir von meinem Vater geben, er ist im letzten Jahr verstorben.» Sie lächelte ihn an und hielt ihm ein kleines in rotem Samtstoff eingeschlagenes Päckchen hin.
Überrascht von ihrer Freundlichkeit griff er zögernd zu und murmelte: «Danke!»
«Ich hatte dich beobachtet, sah, wie das Buch von den Schweinen gefressen wurde.»
Das Blut schoss ihm in den Kopf.
«Damals?», stotterte er peinlich berührt, verabschiedete sich eilig und trottete zur Köchin.
«Ach, wie groß wäre die Freude deiner Eltern gewesen, wenn sie dich noch einmal gesehen hätten.» Hilde begrüßte Johann und stellte ihm wortlos eine Tasse kalten Tee hin. Er setzte sich und wickelte das Präsent aus.
«Ein Märchenbuch, bist du nicht ein wenig zu alt dafür?»
«Nein Hilde, dafür ist man nie zu alt! Das ist ein Geschenk vom alten Baron. Hier steht: Für meine Leseratte – das verschwundene Buch – das Einzige, dass du mir nicht zurückgestellt hast. Frederike hatte erzählt, was passiert war. Viel Glück für dein weiteres Leben.» Johann deutete auf die schwungvolle Unterschrift des Streselitz.
«Eine nette Erinnerung an den Baron. Aber jetzt erzähl, wie ist es dir ergangen? Warum bist du nicht zur Beerdigung gekommen?»
«Ich war in Königsberg, zu weit weg», murmelte Johann entschuldigend und schüttete seinen Tee in einem Zug hinunter.
«Eine faule Ausrede – aber das geht mich ja nichts an.» Hilde schenkte nach und knallte den Krug auf den Tisch.
«Der Schulze hat erzählt, meine Mutter soll sich umgebracht haben?»
«Ja! Hat dir das denn niemand geschrieben?»
«Nein, im Brief stand nur der Termin der Beerdigung, meine Rückfragen blieben unbeantwortet, sind vielleicht verloren gegangen. Was ist damals passiert?»
«Es gab wieder einmal Gezänk, Türen krachten, Schüsseln und Teller schepperten. Der heftige Streit hallte über den ganzen Hof. Deine Mutter schrie angsterfüllt, dein Vater wütete. Dann kam sie, blutend aus Mund und Nase, die Kleidung zerrissen, herausgerannt, lief in den Stall und verriegelte die Tür von innen.»
«Wütend donnerte dein Vater mit den Fäusten an die Tür und schrie: ‹Komm raus du Schlampe oder ich schlage dich tot!› Einige Männer packten den Wüterich und zerrten in fort. Er war sternhagelvoll, hatte sich vollgepinkelt und stank fürchterlich.»
Hilde legte Johann die Hand auf die Schulter, «Deine arme Mutter.»
«Schulze behauptet, es war meine Schuld?»
«Ach, der sagt eine Menge, wenn der Tag lang ist, deine Eltern stritten sich öfters, meist wegen dir. Wenn es nach Friedrich gegangen wäre, hättest du hier auf dem Hof bleiben, seine Arbeit übernehmen und für die Familie sorgen sollen. Lass den Jungen, der soll es einmal besser haben, verteidigte deine Mutter dich.»
Johann nickte bedrückt: «Davon hatte ich keine Ahnung!»
«Jedenfalls, als die Männer dann endlich die Stalltüre aufgehebelt hatten, da hing deine Mutter in der Dachbodenluke. Jede Hilfe kam zu spät.» Tränen liefen Hilde über die Wangen.
Still stierte Johann vor sich hin und flüsterte: «Das habe ich nicht gewollt.»
«Dein Vater heulte auf und raufte sich die Haare, als man ihm am nächsten Morgen dies berichtete. ‹Inge tot? Wegen mir?›, wieder nüchtern begriff er das Geschehene, tobte und raste auf den Schlossspeicher, sprang aus der Bodenluke in die Tiefe. Er knallte mit dem Kopf aufs Pflaster und war sofort tot.» Die Köchin legte beruhigend ihre Hand auf Johanns Arm.
«Die haben wegen mir gestritten! Das wollte ich nicht!»
Er wischte sich ein paar Tränen aus dem Gesicht.
«Du kannst nichts dafür, es war nicht deine Schuld!»
Hilde stand auf: «So genug von den unleidigen Geschichten. Warte, ich hol dir den Sack mit den paar persönlichen Sachen. Die brauchbaren Kleider habe ich alle an die anderen verteilt, ich hoffe, du hast nichts dagegen.»
«Nein, ist schon recht so», Johann nahm den Kartoffelsack mit den wenigen Habseligkeiten seiner Eltern, den ihm die Köchin brachte.
«Vielen Dank, besonders für den Tee.»
«Bleibst du nicht? Wenigstens für heute Nacht? Wir feiern, wie jedes Jahr hinter der Scheune die Sommersonnwende, der große Holzstoß ist schon aufgerichtet.»
«Nein, der Schulze will mich hier nicht mehr sehen. Vielen Dank, dass du dich um die Eltern gekümmert hast.»
Fluchtartig verließ er den Gutshof Richtung Oppeln, wo es eine Herberge gab, die er kannte.
Immer wieder fragte er sich, ob es nicht doch seine Schuld war. Hätte er damals, nicht so weit weggehen sollen?
«Mal sehen, wie es weitergehen wird. Kommt Zeit - kommt Rat!»
Er hatte zwar die Zusage seines Meisters, dass er bei ihm wieder anfangen könnte, aber er wusste nicht, ob er sich das wünschte.
In der Gaststube der Herberge saßen schon fünf Rechtschaffende Gesellen am Tisch. Sie begrüßten ihn mit lautem Hallo und bestellten gleich eine neue Runde.
Nach der durchzechten Nacht wachte er erst gegen Mittag auf, seine Stimme heißer vom vielen Schallern und Trinken.
«Was treibe ich hier?», sein Schädel brummte, die Zeche hatte seine letzten Groschen verschlungen.
«Am besten ich wandere weiter.» Er hielt den Kopf am Brunnen vorm Gasthaus unter eiskaltes Wasser und schritt so erfrischt entschlossen los. Die normalerweise zwei Stunden Marsch nach Dembiohammer zogen sich heute lange hin.
Die Glocke vom nahen Kirchturm schlug fünfmal, als er auf dem Bauhof des Meister Kramer ankam.
«Grüß Gott, ist wer da?», rief Johann beim Eintreten in den Hausflur.
Ein strohblondes Mädchen kam angerannt und stockte abrupt: «Äh? - Was wünscht ihr», sie lief rot an.
«Ich bin ...», seine Stimme versagte, der Stenz fiel ihm aus der Hand, schlug krachend gegen die Tür, knallte zu Boden. Er bemerkte es nicht, starrte sie nur an – die Hübsche die ihm gestern vor die Füße gefallen war.
«Was ist denn das für ein Lärm? - Ja da schau her, der Johann!», rief die Frau Kramer beim Eintreten und schaute von einem zum anderen. «Hat´s euch die Sprache verschlagen?»
«Ich, ich – ja, ich bin wieder da, Meisterin», stotterte Johann.
«Na, das sehe ich!» Sie lachte.
«Franziska, setz einen Tee auf und mach den Rest der Suppe von heute Mittag warm.»
Das Mädchen rührte sich nicht.
«Mach schon den Mund zu, das ist doch bloß der Johann, unser bester Geselle, der von der Wanderschaft zurück ist. Der beißt nicht!»
Franziska erwachte aus ihrer Betäubung, wurde noch röter und hastete in die Küche.
«So komm rein in die gute Stube», forderte die Meisterin Johann auf, «mein Mann kommt jeden Augenblick nach Hause, der will bestimmt viel von dir wissen. Setz dich an den Tisch, Franziska bringt gleich die Suppe. Jetzt erzähl schon, wo warst du überall? Ich bin doch neugierig, wie es dir ergangen ist auf deiner Wanderschaft?»
Stockend berichtete Johann.
Nach über einer Stunde kam Meister Eberhardt Kramer, ein großer drahtiger wettergebräunter Mann in den besten Jahren, von der Baustelle und begrüßte den Gast.
«Freut mich, dass du wieder da bist. Darauf müssen wir einen trinken. Franziska – bring denn Schnaps!» Eilig stellte das Mädchen die Zwetschgenschnapsflasche auf den Tisch. Eberhard scheuchte sie mit einer Handbewegung wieder hinaus und füllte die Gläser randvoll.