Kadhira del Torro

Geliebt wird anders


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runtergefallen sind. Aber er hat Ihnen nicht geglaubt.“

      Nicole senkte den Kopf und schloss die Augen. „Lassen Sie mich alleine“, flüsterte sie.

      „Möchten Sie lieber mit einer Ärztin darüber sprechen?“

      „Nein“, schrie sie. Ihr Kopf zuckte hoch. Sie bekam Panik. „Sie haben es doch niemandem erzählt, oder? Wer weiß davon?“

      „Nicht mal Dr. Hartmann. Er hat seinen Verdacht geäußert, aber ich habe ihm nichts erzählt. Er weiß also nicht mehr als damals.“

      „Und da?“ Sie wies auf das Klemmbrett. „Steht da was drin?“

      Er warf einen kurzen Blick auf ihre Akte und lächelte. „Nein. Kein Wort. Aber Sie werden darüber reden müssen. Sie können nicht ihr ganzes Leben ...“

      „Überlassen Sie das gefälligst mir“, fauchte sie, zog die Knie an und umklammerte sie mit beiden Armen. „Lassen Sie mich einfach in Ruhe, okay? Es geht niemanden was an. Auch Sie nicht.“

      „Sie sollten sich einem Psychologen anvertrauen.“

      „Nein.“

      „Dann werden wir darüber reden.“

      „Nein.“

      „Dann mache ich einen Vermerk in der Akte.“

      Sie sah ihn an und schüttelte wieder den Kopf, presste einen Moment die Lippen fest aufeinander. „Okay, aber Sie behalten das für sich.“

      „Natürlich.“

      „Können wir das Gespräch auf später verschieben? Jetzt möchte ich alleine sein.“

      „Ich schicke Ihnen eine Schwester, die Ihnen ein Beruhigungsmittel bringt. Dann können Sie noch etwas schlafen und fühlen sich heute Abend bestimmt besser. Ich werde dann noch mal nach Ihnen sehen.“ Er erhob sich, nahm das Klemmbrett unter den Arm und ging zur Tür.

      „Doc?“

      Seine Hand lag bereits auf der Klinke, aber er drehte sich noch mal um. „Ja?“

      „Wie lange bin ich schon hier?“

      „Vier Tage.“

      „Vier Tage? Um Himmels Willen, ich muss ins Büro. Ich ...“

      „Sie müssen gar nichts. Sie ruhen sich jetzt aus.“

      Rico, fuhr es ihr durch den Kopf. „Rico“, wiederholte sie laut und sah den Arzt fragend an. „Mein Hund. Wo ist er? Es muss sich doch jemand um ihn kümmern.“

      „Der Dobermann?“

      „Ja.“

      „Ich werde mich erkundigen. Und jetzt sollten Sie schlafen.“ Er ging so schnell, dass Nicole keine weiteren Fragen mehr stellen konnte.

      Höchstens zwei oder drei Minuten später kam eine kleine, zierliche Schwester mit einem Tablett rein, gab ihr eine Pille und etwas Wasser und lächelte aufmunternd. Nicole schwieg, nahm das Medikament und starrte an die Decke, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Langsam wurde es dunkel in dem Zimmer. Die Decke wurde erst grau, dann immer dunkler, bis sie schwarz war. Nicoles Lider schlossen sich und sie fiel in einen unruhigen Schlaf, träumte wirres Zeug von einem Mann, der auf Rico schoss, von einem Polizisten, der auf Rico schoss, von dem Park, in dem sie immer joggte, von einer goldenen Armbanduhr, die mitten auf dem Weg lag und ihr bekannt vorkam ...

      „Nein!“ Nicole fuhr hoch, das Gesicht tränenüberströmt. Sie schrie immer wieder, rief nach ihrem Hund und wusste doch, dass es umsonst war. Die Wahrheit hatte sich in ihre Träume geschlichen und ihr vor Augen geführt, was passiert war. Rico ist tot! Wieder schrie sie, spürte den festen Griff an ihren Oberarmen, das Schütteln, ihr Kopf wurde vor und zurück geworfen, die Tränen liefen immer noch, sie schluchzte laut auf, konnte sich nicht beruhigen, schlug um sich, als sie an einen warmen Körper gedrückt wurde und starke Arme sie umschlossen hielten. Eine Hand streichelte beruhigend über ihr Haar. Nicole würgte, hustete, schlug immer wieder in den warmen, weichen Körper, der sie trösten wollte. So lange, bis sie keine Kraft mehr hatte und ihre Hände auf die Bettdecke sanken. Sie drückte ihr Gesicht an die Brust des Mannes, der sie festhielt, nicht losließ, bis sie wieder vollkommen ruhig war und schweigend die Tränen vergoss für den einzigen Freund, den sie je gehabt hatte.

      Dr. Cooper drückte sie zurück in die Kissen, deckte sie zu und reichte ihr innerhalb der nächsten Stunde schweigend ein Taschentuch nach dem anderen. Wechselweise nahm er ihr die benutzten Tücher ab und entsorgte sie. Er gab ihr eine Spritze, wahrscheinlich ein Beruhigungsmittel. Es machte sie müde und sorgte dafür, dass sie ruhiger und entspannter wurde und ihr Körper aufhörte zu zittern, ihre Zähne nicht mehr aufeinander klapperten.

      Eine weitere halbe Stunde später lag sie ruhig in ihrem Bett. Der Herzschlag hatte sich normalisiert und ihre grauen Zellen funktionierten zwar langsam, aber einwandfrei. „Warum hat er das getan?“, fragte sie leise, drehte den Kopf und sah den Mann an, der die ganze Zeit an ihrer Seite gewesen war.

      „Er war auf der Flucht“, meinte er, beugte sich vor und stützte die Ellenbogen auf die Oberschenkel, die Hände gefaltet. „Er wollte weglaufen und Rico hat ihn daran gehindert. Er hat Panik bekommen und keinen anderen Ausweg gesehen, als seine Waffe zu benutzen.“ Er schwieg einen Moment und sah sie wieder an. „Es tut mir Leid.“

      „Ihnen? Es tut Ihnen Leid? Sie haben damit doch gar nichts zu tun.“ Nicole fand es erschreckend, wie nüchtern ihre Stimme klang. Aber sie fühlte nichts. Nicht einmal mehr Trauer oder Wut, die sie über all die Jahre genährt hatte. Es war nur noch eine dumpfe Leere in ihr, die Rico hinterlassen hatte. Er war nicht nur ein Freund gewesen, sondern viel mehr. Er war das einzige Lebewesen, vor dem sie sich nie versteckt hatte, dem sie ihr Geheimnis anvertraute, mit dem sie redete und in dessen Gegenwart sie weinen durfte. Er war das einzige Lebewesen, das sie schwach gesehen hatte. Er hatte sie getröstet, war stets an ihrer Seite, ein treuer Begleiter eben, wie sie keinen wieder finden würde.

      „Der Bürgermeister hat sich nach Ihnen erkundigt. Er möchte Sie besuchen.“

      „Der Bürgermeister? Was will der denn?“

      „Sie haben ihm das Leben gerettet. Oder vielmehr Rico.“

      „Der Mann mit der Uhr war ...?“

      Dr. Cooper lächelte. „Sie haben ihn nicht erkannt?“

      „Nein“, gab sie leise zu. „Ist doch auch egal. Ich will ihn nicht sehen.“

      „Er will sich bedanken. Die Blumen sind auch von ihm.“

      Nicole sah auf. Erst jetzt nahm sie die Unmengen von Blumensträußen und Gestecken, Luftballons und Plüschtieren wahr, die die gesamte Wand am Fußende des Bettes einnahmen. „Bringen Sie das alles bitte weg. Ich will das nicht“, meinte sie, senkte den Blick und starrte auf ihre Hände, die gefaltet auf ihren Oberschenkeln lagen.

      „Er ist sehr betroffen darüber, dass Rico erschossen wurde. Das hat er nicht gewollt.“

      Nicole schüttelte den Kopf und schloss die Augen.

      „Ich bleibe dabei und breche das Gespräch nach ein oder zwei Minuten ab, okay? Geben Sie ihm eine Chance, sich zu bedanken.“

      „Hat er was abgekriegt?“

      „Zwei Messerstiche in die linke Schulter. Etwas tiefer und der junge Mann hätte sein Herz getroffen.“

      „Ist er ein guter Mensch?“

      „Sie sollten nicht sein Leben gegen das von Rico abwägen“, meinte er, gerade so, als ob er ihre Gedanken lesen könnte. „Aber ja, er ist ein guter Mensch. Und er meint es ehrlich, dass es ihm Leid tut. Ein Officer hat sich auch nach Ihnen erkundigt. Malcom hieß er. Er wollte wissen, ob er noch etwas für Sie tun kann. Sie haben eine Menge Freunde.“

      „Nein“, flüsterte sie. „Ich hatte nur einen Freund.“

      „Geben Sie mir Ihre Hand.“