Kadhira del Torro

Geliebt wird anders


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gefüllt war. Nicole setzte sich auf den Fußboden, eine Hand am Toilettenbecken und bereit, sich sofort wieder darüber zu werfen, sollte es notwendig werden. Die andere Hand griff nach dem Toilettenpapier, riss einige Streifen ab und wischte über ihren Mund, ein weiterer Streifen trocknete die Tränen, die über ihre Wangen kullerten.

      „Sie sollten doch im Bett bleiben“, erklang eine freundliche, aber bestimmte Stimme von der Tür.

      Nicole öffnete die Augen, drehte ein wenig den Kopf und sah den Witzbold an. „Sie hätten mir einen Zettel hinlegen sollen, dann hätte ich selbstverständlich ins Bett gekotzt.“ Ihre Stimme klang schwach und etwas rau. Das Sprechen bereitete ihr Mühe und das Kratzen in ihrem gepeinigten Hals wurde schlimmer.

      „Kommen Sie. Wenn Sie hier sitzen bleiben kommt noch eine Blasenentzündung dazu.“ Er griff nach ihrem Oberarm und wollte ihr auf die Beine helfen.

      „Nehmen Sie die Finger weg“, fauchte Nicole und rupfte ihren Arm aus seiner Hand. „Ich kann alleine aufstehen.“ Und das versuchte sie dann auch. Ein Seitenblick zeige ihr, dass sich der weiß gekleidete Mann in der Tür nicht über die Art und Weise amüsierte, in der sie in die aufrechte Haltung wechselte.

      Er beobachtete interessiert die Verrenkungen und diversen Fehlversuche, bis sie stand, machte dann aber Platz und wies mit einer einladenden Geste ins Krankenzimmer. „Nur zu. Wenn Sie es bis zum Bett schaffen, können Sie heute noch nach Hause gehen.“

      „Pah“, machte Nicole, richtete sich kerzengerade auf und marschierte los. Sofort begann das Zimmer zu schwanken. Das hieß, das Bad in die eine Richtung und das Krankenzimmer in die andere. Sie hatte das Gefühl, als befände sich jedes ihrer Augen auf einem anderen Schiff mit hohem Seegang. Noch ein Schritt und sie geriet in Untiefen. Die Zimmer schwankten nicht mehr, jetzt kreisten sie. Nicole schloss die Augen, streckte die Hände aus und suchte die Wand. Wenigstens eine Wand, an der sie sich abstützen konnte. Sie fand keine. Ihr Gleichgewichtsorgan strich die Segel und verriet ihr nicht mal mehr, in welchem Winkel sie gen Fußboden flog – und mit welcher Geschwindigkeit. Aber noch bevor sie als Höhepunkt des Tages den Aufschlag genießen durfte, wurde sie aufgefangen. Plötzlich waren zwei starke Arme da, griffen fest zu und sie verlor den Boden unter den Füßen.

      „Frauen“, knurrte ihr Besucher und trug sie zum Bett.

      Nicole fühlte die kalten Laken unter sich, das flauschige Kopfkissen und die Bettdecke, die er über sie zog. Sie musste noch etwas warten, bevor sie sich traute, die Augen erneut zu öffnen. Sie starrte stur an die weiße Decke, wartete noch einen Moment und drehte langsam den Kopf. Mister Ich-wusste-es-doch-vorher stand neben ihrem Bett, ein Klemmbrett mit ihrer Krankenakte in der Armbeuge, und sah sie prüfend an. „Wieder besser?“

      „Sind Sie Arzt oder Pfleger?“

      Er hielt Klemmbrett und Stethoskop hoch. „Was denken Sie?“

      „Nur weil Sie ein Stethoskop haben, heißt das noch lange nicht, dass Sie auch damit umgehen können.“

      „Ich bin Dr. Andrew Cooper und übe seit Jahren mit dem Stethoskop. Und soll ich Ihnen was verraten? Ich bin kurz davor rauszufinden, was man damit alles machen kann. Und glauben Sie mir, ich habe schon einiges damit ausprobiert.“ Er sah es einen Augenblick an, so als fiele ihm gerade jetzt eine ziemlich abstrakte Idee ein, die er schon hinter sich hatte.

      Aber Nicole hatte momentan keinen Sinn für Humor und konnte sich nicht mal zu einem ganz kleinen Lächeln hinreißen lassen. „Warum bin ich hier?“

      „Sie sind ohnmächtig geworden, mit dem Kopf auf einen Stein gefallen und haben sich eine nette Gehirnerschütterung und eine kleine Platzwunde an der Stirn zugezogen. Die Wunde haben wir mit zwei Stichen genäht, aber an der Gehirnerschütterung dürfen Sie sich noch ein paar Tage erfreuen.“

      Nicoles Hand wühlte sich unter der Bettdecke vor, tastete sich an ihrem Gesicht hoch und erkundete die Stirn. Sie war bandagiert. „Na Klasse“, seufzte sie. „Dann werde ich ja ein hübsches Andenken an ...“ Sie brach ab und sah den blonden Mann neben sich an. „Warum bin ich ohnmächtig geworden?“

      Er runzelte die Stirn und setzte sich auf die Bettkante. „Woran können Sie sich noch erinnern?“

      „Zuerst einmal daran, dass irgendjemand vor sehr langer Zeit Stühle erfunden hat“, schnauzte sie und boxte gegen seinen Oberarm. „Warum versuchen Sie nicht mal einen?“

      „Danke, ich sitze bequem. Also?“

      „Ich hatte gestern Abend ein Geschäftsessen mit einem Partner“, meinte sie langsam und kramte weiter in den chaotischen Resten ihres Gehirns. „Dann bin ich nach Hause gefahren und habe noch gearbeitet.“ Sie schwieg einen Moment und runzelte die Stirn, was weh tat und sie zu einem leisen „Au“ verleitete. „Heute Morgen war ich bestimmt joggen“, erklärte sie dann.

      „Bestimmt? Glauben Sie das oder wissen Sie es genau?“

      „Ich gehe jeden Morgen Joggen“, antwortete sie gereizt.

      „Sie wissen es also nicht mehr“, meinte er und notierte etwas in ihrer Akte.

      „Hey, was schreiben Sie da?“

      „Das Sie Erinnerungslücken haben.“

      „Habe ich nicht“, widersprach sie heftig. „Ich bin doch nicht verrückt, nur weil ich mich nicht erinnern kann, ob ich heute Morgen gejoggt bin. Die Erinnerung kommt schon wieder.“

      „Das hat nichts mit verrückt zu tun.“ Er ließ das Klemmbrett sinken und sah sie ernst an. „Was nicht heißen soll, dass Sie nicht wirklich auf eine bestimmte Art und Weise verrückt sind.“

      „Was soll das denn schon wieder heißen?“

      „Sie sind Nicole Leah Baker. Auch bekannt unter dem Spitznamen Iron Virgin. Die eiserne Jungfrau.“

      Sie kniff die Augen etwas zusammen. „Na und?“

      „Und wer außer mir weiß, dass Sie diesen Titel zu Unrecht tragen? Dr. Julius Hartmann?“

      Ihre Lippen formten den Namen ihres Hausarztes. Kein Laut drang dabei aus ihrem Mund. Ihr Gesicht fühlte sich plötzlich kalt an, blutleer. Sie schluckte und versuchte so den plötzlichen Druck auf den Ohren weg zu bekommen. Sie schüttelte den Kopf, erst langsam, dann heftiger, ihre Augen ruhten unverwandt auf dem Arzt. „Nein, ... das stimmt nicht.“ Sie zerrte an der Bettdecke, wollte sie wegschieben, aufstehen und nach Hause gehen. Nicht eine Minute länger würde sie hier bleiben. „Sie müssen mich verwechseln“, meinte sie und rupfte wieder an der Bettdecke. Aber er hielt sie fest, drückte die Decke fest auf die Matratze neben ihrem Körper und war ihr plötzlich so nah, dass sie zurückwich. Ihre Hände fuhren zu ihrem Hals, rieben über die Oberarme und wollten die Gänsehaut wegstreichen, die deutlich sichtbar war. Sie fröstelte, wiederholte leise „Das stimmt nicht“ und schüttelte dabei immer wieder den Kopf.

      „Sie haben es mir vor drei Tagen erzählt.“

      „Was?“

      „Ron Simeons, der damalige Freund Ihres Stiefbruders. Sie waren vierzehn, als er betrunken zu Ihnen nach Hause kam und ...“

      „Hören Sie auf! Hören Sie sofort auf!“, rief Nicole und presste die Hände auf die Ohren. Sie wollte nichts hören von dem, was er sagte, wollte sich nicht daran erinnern. Obwohl sie jede Nacht wieder davon träumte, wie er über sie hergefallen war, sie vergewaltigt hatte, sie zurück ließ, schmutzig, verängstigt und verletzt. Der Hass kam aber erst viel später, entwickelte sich über mehrere Monate, in denen sie vergessen wollte und allen aus dem Weg ging. Und dann kam die Nachricht, dass Ron Simeons bei einem Autounfall verunglückt war. Sie empfand es als eine gerechte Strafe. Aber seitdem hasste sie die Männer. Alle! Sie konnte es nicht ertragen von ihnen berührt zu werden und ekelte sich vor ihnen. Sie hatte lange Jahre gebraucht, um überhaupt wieder tanzen zu können und ihre Abscheu soweit unter Kontrolle zu haben, dass sie sich nicht bei der geringsten Berührung übergeben musste. Ihre Familie hatte keine Ahnung. Sie hatte ihnen nichts erzählt. Sie hatte sich nie jemandem anvertraut. Und Ron hatte