Kadhira del Torro

Geliebt wird anders


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seiner Mutter. Dazu trug er gewöhnlich schwarze Hosen, die viel zu kurz waren und seine behaarten Beine entblößten. Er war schon älter, hatte Markenklamotten an und eine goldene Uhr am Handgelenk. Vielleicht ein Manager. Ein bekanntes Gesicht, auch wenn sie nicht wusste, wo sie es schon mal gesehen hatte. Vielleicht kannte sie es auch nur vom Laufen. Wer weiß? Sie hätten sich vor ein paar Minuten treffen müssen. Hatten sie aber nicht.

      Nicole schnippte mit dem Finger und ging langsam vorwärts. Rico kam zu ihr, lief aber sofort wieder ein Stück vor. Untypisch. Er verweigerte das Kommando bei Fuß. Und nicht nur das. Plötzlich brach das Knurren ab und wurde zu einem wütenden, tiefen Bellen, laut und deutlich. Dann sprang er förmlich vor, lief in der ihm eigenen Art vorwärts und direkt hinein in die Büsche, brach sich seinen Weg mit Gewalt durch die starken, biegsamen Äste.

      Nicole rief nach ihm, tastete nach dem Handy in ihrer Jacke und bekam in ihrer plötzlichen Angst kaum den Reißverschluss auf. Sie ging weiter vor, zog das Telefon raus und wählte den Notruf. Jemand schrie laut und schmerzerfüllt auf. Ricos Bellen endete, war jetzt ein tiefes Knurren, gemischt mit dem Keuchen eines Mannes. Nicole hörte ein Klatschen, rief wieder nach dem Dobermann und wieder kam er nicht. Dann brachen Zweige. Jemand bahnte sich seinen Weg durch das Grün. Nicole bekam noch mehr Angst. Sie lief zur Seite und versteckte sich hinter einer Bank. Sie flüsterte ins Telefon, beschrieb hektisch, was gerade passierte, und gab auch eine Beschreibung des Mannes durch, der aus den Büschen gestürmt kam, mehr stolperte als lief und ein paar Meter weiter zu Boden fiel. Er war jung, sah gehetzt aus, der Schrecken stand ihm im Gesicht – und die Angst. Wieder ein Schrei aus den Büschen, Sirenen waren zu hören, der Mann rappelte sich auf, war nur ein paar Meter entfernt und würde sie sehen, wenn er den Kopf ein wenig drehte. Aber das tat er nicht. Er sah nur kurz zurück, lief weiter, quer über den Rasen. Er hatte etwas verloren. Es lag auf dem Weg im Dreck, neben einer Pfütze und glitzerte in der noch schwachen Sonne. Es war die goldene Uhr des Joggers, den sie vermisst hatte. Im Gebüsch wurde es still. Dann raschelte es wieder, Ricos heiseres Bellen war zu hören. Er flog über den letzten kleinen Busch direkt auf den Weg, fing sich und lief vorwärts. Seine schlanke Schnauze war klebrig und glitzerte feucht. Er lief weiter, beachtete sie gar nicht, rannte quer über den Rasen auf den Mann zu, der den Hund hinter sich entdeckte. Seine rechte Hand verschwand in der Jacke und zerrte etwas hervor. Nicole sah genauer hin, kniff die Augen zusammen und erkannte, was er in der Hand hielt. Sie sprang auf, schrie immer wieder den Namen ihres Hundes und fühlte die Angst in sich, die Panik. Rico, down, immer und immer wieder. Die Tränen kämpften sich nach oben und liefen an ihren Wangen wieder herunter.

      Rico erreichte den Mann. Er stoppte nicht, sondern sprang an die Brust des Mannes und warf ihn nach hinten. Er biss zu, hielt den Unterarm des Mannes fest in seinem Fang und zog ihn nach unten, kämpfte und knurrte, ohne Rücksicht auf die Tritte, die ihn schmerzhaft trafen. Für einen Moment waren die beiden ein Knäuel und Nicole konnte nicht erkennen, was passierte. Sie ging vorwärts, schüttelte den Kopf und rief nicht mehr, weil ihr die Angst die Kehle zuschnürte.

      Der Schuss hallte als mehrfaches Echo von den Wänden aus Bäumen wieder, wurde mit jedem Echo leiser. Nicht aber Ricos Jaulen, die auf- und abschwellenden Töne, als er verletzt zu Boden ging und den Mann freigab. Nicole lief vorwärts. „Nein“, schrie sie, rannte jetzt und sah, dass sich der Mann von Rico fortbewegte. Sie sah das Zucken der rotbraunen Pfoten, wie der Dobermann sich mühsam hoch kämpfte, dem Mann hinterher kroch und noch den Fuß erwischte.

      Noch ein Schuss.

      Die Sirenen wurden lauter.

      Das Jaulen endete und Rico lag still.

      Nicole schlug die Hände vor den Mund. Die Tränen nahmen ihr die Sicht, ließen alles verschwimmen. Noch immer hatte sie das Jaulen im Ohr, als wollte es nie enden. Schritt für Schritt ging sie vorwärts, hörte die Rufe hinter sich, die klatschenden Schritte auf dem matschigen Rasen. Sie sah die Polizisten an sich vorbeilaufen, wie sie sich dem Mann am Boden näherten. Er hatte die Hände erhoben, die Waffe weggeworfen. Ein Beamter legte ihm Handschellen an, ignorierte den Schmerzensschrei des Mannes, dessen Unterarm blutig war, der Jackenärmel von Ricos scharfen Zähnen zerfetzt.

      Ein anderer Officer kniete neben Rico nieder, streichelte über die muskulöse Brust, die sich langsam und unter rasselnden Geräuschen hob und senkte, mit jedem Atemzug einen Blutschwall entließ. Der Officer hob den Kopf und sah Nicole an. Er ging ihr entgegen, hielt die Arme ausgebreitet und schüttelte den Kopf. „Ist das ihr Hund?“

      Nicole nickte langsam und sah über seine Schulter auf den dunklen Körper am Boden. Ihr Verstand weigerte sich zu begreifen. Ihr Herz noch viel mehr.

      „Gehen Sie nicht hin.“

      Sie sah den Mann mit brennenden Augen an. „Aber ... er lebt doch ... Ich muss zu ihm ...“

      Wieder schüttelte er den Kopf, sah seinen Kollegen hilfesuchend an. Es war der Beamte vom Parkeingang. „Warten Sie hier“, meinte er und ging zu Rico. Er kniete sich neben seinen Kopf, streichelte darüber und redete mit ihm. Dann kam er zurück. Sein Gesicht war eine einzige Maske, starr und leichenblass. „Es tut mir leid“, meinte er, klang heiser und räusperte sich. „Er wurde zwei Mal getroffen. Das überlebt er nicht.“

      „Lassen Sie mich zu ihm.“

      „Moment!“ Er zog seine Jacke aus, ging vor und legte sie über den blutigen Körper des Hundes. Er blieb bei Nicole, als sie sich auf den Boden kniete und Ricos Kopf in ihre Hände nahm, ihr Gesicht an seine Schnauze drückte, redete, flüsterte, weinte und streichelte. Sie hörte das pfeifende Geräusch seiner Lungen, spürte die warme Zunge an ihrem Handgelenk und sah den Blick seiner dunkelbraunen, sanften Rehaugen.

      Ein Schluchzen schüttelte ihren Körper durch. „Tun Sie bitte was! Er soll doch nicht leiden. Das hat er nicht verdient!“, flüsterte sie und sah den Officer hilfesuchend an. „Er darf nicht leiden!“, flüsterte sie wieder, vergrub ihr Gesicht in dem dunklen Fell und weinte.

      Der Officer kämpfte mit sich. Ein Kollege kam, flüsterte ihm etwas ins Ohr und hielt die Hand fest, die die Waffe ziehen wollte.

      Nicole sah es, sah flehend von einem zum anderen. „Lassen Sie ihn bitte nicht leiden“, wiederholte sie.

      Der Officer schob die Hand seines Kollegen weg, zog Nicole hoch und schob sie fort, seinem Kollegen in die Arme. „Gehen Sie.“

      Nicole wehrte sich nicht. Sie ließ sich wegführen und starrte stur geradeaus auf den Rasen. Ein einzelner Schuss zerriss die Stille und sie zuckte heftig zusammen. Zwei torkelnde Schritte weiter senkte sich das dunkle Tuch der Ohnmacht über sie.

      Das Erwachen kam plötzlich. Aus Dunkel wurde hell, stach in ihre Augen, obwohl die Lider fest geschlossen waren. Dann kamen die Kopfschmerzen, zentriert auf nur einen einzigen Punkt am oberen Hinterkopf, als hätte jemand eine Stricknadel hineingepiekst. Die Übelkeit war erst gar nicht so schlimm und tat so, als ob sie gleich wieder verschwinden würde. Tat sie aber nicht. Kaum hatte Nicole sich dazu überreden können die Augen zu öffnen und ihren maßlos schlappen Körper aus den weichen Kissen zu pulen, da schoss ein Kloß ihre Kehle hoch, wurde vom Kehlkopf gestoppt und klammerte sich daran, als hinge sein Leben davon ab. Es folgte ein leichtes Würgen, ganz hinten auf der Zunge, die leicht zuckte und den bitteren, leicht brennenden Geschmack bereits Vorkosten durfte. Das war das absolut Letzte, was Nicole jetzt gebrauchen konnte. Das fehlte ihr noch, dass sie hier ins Bett kotzte. Der typische Krankenhausgeruch mogelte sich durch ihre Nase, den Riechnerv hoch und setzte sich irgendwo zwischen ihren grauen Zellen fest, wurde lokalisiert, als eklig eingestuft und das gab Nicole den Rest. Sie ließ sich einfach aus dem Bett kippen, stützte sich mit den Händen überall ab, wo sie hingreifen konnte und hangelte sich so zielstrebig und müden Fußes Richtung Toilettentür. Ihre Augen hatten sich inzwischen entschlossen, jedes für sich ein Bild zu zeigen, was bei ihrem schwankenden Gang nicht sehr nett war und der Übelkeit entgegen kam. Also schloss sie ein Auge und schaffte es. Die Tür aufmachen und sich nach vorne fallen zu lassen war eine Bewegung. Beinahe hätte sie den Toilettendeckel nicht rechtzeitig hoch bekommen und die ganze braune, übel schmeckende Soße hätte sich auf das weiße Plastik ergossen. So aber traf sie zielsicher, wurde von ihren eigenen Würgegeräuschen noch angespornt und ließ raus,