Ines von Külmer

Tödliche Zeitarbeit


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werden, und die Normalität konnte wieder in das Leben der Beamten einkehren. Außerdem hasste er nichts so sehr wie Unzuverlässigkeit. Nur auf die Kapriolen des fränkischen Wetters hatte er leider keinen Einfluss! ‚Vielleicht muss ich wieder mehr für meine körperliche Fitness tun, dann kann sich mein Körper bestimmt viel besser temperaturmäßig umstellen‘, dachte sich Keller. Etwas besorgt blickte er an sich herunter. Neulich hatte er beim Hosenkauf nach einer Nummer größer greifen müssen. Diesem physischen Schlendrian musste er einfach mal Einhalt gebieten! Und das möglichst noch vor seinem in nicht allzu weiter Ferne liegenden, nächsten runden Geburtstag.

      Aber jetzt war wieder höchste Konzentration angesagt! Ludwig Keller schob alle sein berufliches Engagement störenden Gedanken beiseite. Seine kriminalistische Kompetenz war wieder einmal gefragt! Doch bevor er seinen Fuß in den Büroraum mit der Leiche setzte, scannte er mit seinen Augen die Momentaufnahme der ersten Tatortbegutachtung. Die Kollegen von der Spurensicherung waren in voller Montur. Jetzt zwängte sich der Nürnberger Kriminalhauptkommissar ebenfalls in seine Schutzbekleidung. Mundschutz und Handschuhe gehörten ebenso dazu. Denn wenn er mit bloßer Hand irgendeinen Gegenstand, mochte dieser auf ersten Blick auch noch so unauffällig erscheinen, anfasste, würde das die Arbeit des Erkennungsdienstes erheblich erschweren. Für die Aufklärung des Falles wichtige Beweismittel könnten so unbedacht zerstört werden. Jede Menge Ärger mit den Kollegen des Erkennungsdienstes hätte das zur Folge. Die Polizeibeamten waren eifrig damit beschäftigt, zur Aufklärung des Mordes relevante Gegenstände einzutüten. Eine Klarsichthülle mit Papieren verschwand ebenso in einer Plastiktüte wie ein Kugelschreiber und eine Heftmaschine. Schmutzig-blutige Fußspuren waren auf dem Teppichboden deutlich zu erkennen. An den Fußabdrücken konnte der Kriminalhauptkommissar bereits erkennen, dass es der Mörder nicht eilig gehabt haben konnte. Der Täter hatte offensichtlich auch überhaupt nicht darauf geachtet, dass an seinen Schuhen jede Menge Blut klebte. Die Schuheindrücke auf dem blaugrauen, kurzhaarigen Fußbodenbelag führten aus dem Zimmer. Martin Krause von der Spurensicherung war gerade dabei, diese blutigen, fein geriffelten Abdrücke zu fotografieren. Sein Kollege hatte einen Blutstropfen in Augenschein genommen, um diesen dann vorsichtig abzuschaben.

      Kriminalhauptkommissar Keller stand jetzt direkt vor der Toten. Die Leiche, die flach ausgestreckt auf dem Rücken liegend vor dem im Raum stehenden Schreibtisch lag, sah grauenhaft zugerichtet aus. Der untere Teil des Gesichts war Blut verkrustet. Er warf einen Blick auf den leicht geöffneten Mund mit den geschwollenen Lippen. Ganz offensichtlich hatte die Frau im Bereich des Mundes schwere Verletzungen erlitten. Folge eines gewaltsam verursachten Sturzes, nachdem sie tätlich angegriffen worden war? Hatte sie sich durch einen Aufprall an der Schreibtischkante so schwer verletzt? Oder hatte sie vor ihrem Angreifer fliehen wollen, war auf ihren Schuhabsätzen gestolpert und auf diese Weise unglücklich zu Fall gekommen? Oder wurde ihr mit einem schweren Gegenstand oder mit einer Faust diese Verwundung zugefügt? Der mächtige Büroschreibtisch, der nach Massivholz aussah, stand in einem Abstand von ungefähr einem Meter von der mit weiß getünchter Raufasertapete beklebten Wand. Mehrere Gold gerahmte Urkunden hingen da, zum Beispiel ‚Personalauswahl – Auswahlgespräche erfolgreich führen‘. Svenja Schilling hatte offensichtlich sehr viel Ehrgeiz und Zeit in ihre Aus- und Weiterbildung investiert. ‚Oh, je‘, dachte sich Keller, ‚wenn da jeder sämtliche im Verlauf seines Lebens absolvierten Volkshochschulkurse an die Wand heften würde, dann könnte man sich ja wohl die Tapete sparen‘. Seine frühere Frau hatte nach ihrer Ausbildung zur Fremdsprachensekretärin Anfang der neunziger Jahre einen interessanten Job bei den amerikanischen Streitkräften in Fürth gefunden. Schon beim Vorstellungsgespräch waren ihr die vielen Urkunden an der Wand ihres zukünftigen Chefs aufgefallen. Ein solcher „Exhibitionismus“ in Bezug auf die persönlichen Qualifikationen lag dem Nürnberger Kripomann fern. Aber na ja, die Tote war ja vielleicht vom Typ ‚Bescheidenheit ist eine Zier, doch weiter komm ich ohne ihr‘ gewesen. Er blickte auf den leblosen Körper herab. Der zierliche, schmale Oberkörper der Toten war mit unzähligen Einstichen übersät. Das cremefarbene T-Shirt der Frau, die zwischen Mitte und Ende Dreißig sein mochte, war zerfetzt und Blut durchtränkt. Das Blut neben der Toten war in den sonst gepflegt aussehenden Teppichboden gesickert und hatte diesen rot gefärbt. Insgesamt ein wirklich grausiger Anblick!

      „Wer hat die Tote gefunden?“

      „Ich, vor ungefähr einer dreiviertel Stunde, als ich ins Büro kam. Ich bin eigentlich immer die Erste hier. Die Tür zum Büro von Frau Schilling war leicht angelehnt, im Vorbeigehen sah ich, dass in ihrem Zimmer Licht brannte. Es kam mir sehr merkwürdig vor, es ist ja Sommer, und da benötigt man um diese Zeit eigentlich kein Licht. Ja, und dann habe ich vorsichtig an die Tür geklopft und gefragt, ob jemand da sei. Als ich keine Antwort erhalten habe, bin ich eingetreten. Und dann …“

      Die junge Frau in modischen Sandaletten presste beide Hände vor ihren Mund. Sie versicherte dem Hauptkommissar, dass sie nichts verändert habe. Sie sei die Erste gewesen und habe dafür gesorgt, dass der Tatort in seinem Originalzustand verblieb. Sie sei ein Krimifan und habe schon viele Romane gelesen, und auch im Fernsehen würde sie jeden Krimi ansehen. Sie wisse, wie man sich in einem solchen Falle verhalten solle. Eine erste Aussage mit Angabe ihrer Personalien hatte sie bei den nach ihrem Anruf eintreffenden Polizeibeamten gemacht.

      „Ich kann das nicht verstehen, Frau Schilling ist glücklich verheiratet und hat einen zweijährigen Sohn. Sie hat sich gut mit der Firmeninhaberin verstanden. So viel Kontakt hatte ich persönlich nicht mit ihr. Ich bin nämlich am Empfang, und sie ist für die Personaldisposition zuständig. Außerdem bin ich erst seit ein paar Monaten bei der Firma PersonalLeasing Nürnberg.“

      „Vielen Dank, erst einmal, “ sagte Kriminalhauptkommissar Keller.

      „Alle haben Frau Schilling gemocht“, sagte die Frau vom Empfang noch, etwas verdutzt blickte sie drein.

      ‚Na alle wohl nicht, sonst würde sie hier ja nicht erstochen in ihrem Büro liegen’, dachte sich Kriminalhauptkommissar Keller.

      Die Polizeibeamten nahmen keine weitere Notiz von Maren Weidlich. Sie war sichtlich enttäuscht. Sie hatte auf etwas Abwechslung in ihrem meist eintönigen Büroleben bei der PersonalLeasing GmbH gehofft. Sie war doch eine wichtige Zeugin, hatte die Tote zuerst gesehen. Im Aufzug, auf dem Weg zu ihrem Arbeitsplatz, war ihr jedoch nichts Besonderes aufgefallen. Der eine Anwalt von der Kanzlei im dritten Stock war mit ihr hochgefahren. Der grau Melierte, der immer versuchte, mir der jungen Frau einen Flirt anzufangen. Anwalt, nee wie langweilig! Aber vielleicht würden sich die Kripobeamten noch bei ihr melden, und sie würde aufs Präsidium geladen werden. In ihrem mit dichtem, schwarz gefärbtem Haar reichlich bedeckten Kopf begann es zu arbeiten. Maren Weidlich versuchte, ihren Weg vom Parkplatz ins Bürogebäude zu rekonstruieren. Nur der silberfarbene Mercedes von dem Juristen hatte schon auf seinem von der Anwaltskanzlei angemieteten Parkplatz gestanden. Die Teamassistentin war nur ausnahmsweise mit dem von ihrer Mutter ausgeliehenen Ford Fiesta gekommen. Normalerweise bestand ihre Anfahrt zum Arbeitsplatz aus mehrmaligem Umsteigen in verschiedene öffentliche Verkehrsmittel. Doch, da war doch etwas gewesen, was irgendwie nicht zu diesen auf den verschiedenen Stockwerken verteilten Firmen passte! Sie waren doch eine eingeschworene Nichtraucher-Clique geworden. Ja, jetzt fiel es ihr wieder ein! Vor der Eingangstür zum Bürogebäude Neumeyerstraße hatte eine Zigarettenschachtel gelegen. Die musste eigentlich noch da sein.

      „Herr Hauptkommissar“, begann Maren Weidlich, „mir ist da noch was eingefallen. Eine Zigarettenschachtel, ganz offensichtlich leer. Und hier gibt es, zumindest meines Wissens nach, keine Raucher mehr. Gauloises, glaube ich. Aber die Schachtel muss noch da sein. Soll ich die Ihnen gleich holen?“

      „Wie bitte?“

      Kriminalhauptkommissar Keller drehte sich um und sah die Dame vom Empfang, die jetzt auf der Türschwelle stand, an.

      „Eine leere Zigarettenschachtel der Marke Gauloises sagten Sie? Aber bitte, nicht anfassen. Mein Kollege vom Erkennungsdienst wird sich umgehend damit befassen. Vielen Dank für Ihren Hinweis.“

      Maren Weidlich fühlte, wie sie rot anlief. Wie peinlich! Und sie hatte damit getönt, eine „Expertin“ in Sachen Kriminalistik zu sein. Na klar! Natürlich durfte sie ein solches Beweisstück nicht ohne Schutzhandschuhe anfassen. Sie ärgerte sich über diesen Fauxpas und verschwand