Ines von Külmer

Tödliche Zeitarbeit


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würde den bei einer Bäckerei in der Nähe ihrer Wohnung gekauften Schoko-Croissant zur ersten Tasse Kaffee an diesem Tag verspeisen.

      „Diese Firma hier ist eine Zeitarbeitsfirma. Ich hab’s mal rasch auf meinem iPhone recherchiert“, Robert Pelzig war aufgestanden und blickte Kriminalhauptkommissar Keller in die Augen.

      „Keine Ahnung, was so eine Firma macht“, antwortete Kriminalhauptkommissar Keller.

      „Ich habe etliche Sendungen zum Thema Zeitarbeit oder Leiharbeit im Fernsehen gesehen. Und in der Presse sorgt diese Branche immer wieder einmal für Schlagzeilen. Schon seit Jahren. Und die sind nie positiv. Aber nichts ändert sich. Was vor allem für die Betroffenen Sch…… ist.“

      Robert Pelzig, einer von Kellers Mitarbeitern, sah empört aus. „Vergleichsweise niedrige Löhne, befristete Arbeitsverhältnisse, schlechtere Bedingungen als die fest angestellten Arbeitnehmer des Entleiherbetriebs. Und bei den ständigen Stellenstreichungen, auch bei Großbetrieben, wird’s natürlich vor allem für die „älteren Semester“ echt schwierig, wieder angemessen in Lohn und Brot zu kommen“.

      Kriminalhauptkommissar Keller war nicht erstaunt. Die „soziale Ader“ des jungen Kriminalkommissars war im Polizeipräsidium Mittelfranken in Nürnberg bestens bekannt. Er sah seinen jüngeren Mitarbeiter an. Pelzig war wirklich ein echter Franke. Besonders wenn er in Rage geriet, kam sein Dialekt unter Ignorierung der unterschiedlichen Aussprache von „b“ und „p“ und „t“ und „d“ wieder voll zur Geltung.

      Kommissar Keller selbst war jedoch der Sprössling von sogenannten Zugereisten. Sein Vater war Anfang der sechziger Jahre in die Frankenmetropolregion gekommen. Das war noch bevor der kleine Ludwig das Licht der Welt erblickt hatte. Sein Vater hatte ein verlockendes Stellenangebot von einem Großunternehmen der Elektrobranche erhalten, das er wegen des in Aussicht gestellten Gehalts nicht ablehnen konnte. So eine junge Familie wollte doch schließlich ernährt werden! Und so hatten Keller Senior und seine Frau in Hannover ihre Koffer gepackt und sich in der Nachbarstadt von Nürnberg, Erlangen, ein neues Leben aufgebaut. Seine norddeutsche Sprechweise hatte der kleine Ludwig sozusagen mit der Muttermilch aufgesogen. Und in Erlangen war er auch deswegen nicht so aufgefallen. Das Großunternehmen, die Firma Siemens, hatte sehr viele Menschen aus allen Regionen Deutschlands ins Frankenland gelockt. Und so saßen auf den Schulbänken der Erlanger Gymnasien jede Menge sogenannte preußische Kinder. Aber nachdem Ludwig Keller seine dreijährige Ausbildung an der Polizeifachhochschule in Sulzbach-Rosenberg beendet hatte, wollte er eigentlich nicht mehr weg aus dem fränkischen Großraum. Außerdem war er zu diesem Zeitpunkt gerade frisch verliebt – in Kathrin, ein echtes Nürnberger Kindl. Und seine spätere Frau hätte sich ein Leben jenseits Nordbayerns nie vorstellen können. Aber dem Kriminalkommissar fiel es immer wieder auf, wie seine Kollegen der fränkischen Mundart sich immer abmühten, Hochdeutsch mit ihm zu sprechen, obwohl er den Dialekt doch bestens verstand. Nur sprechen konnte er ihn eben nicht! Er fand, es klinge irgendwie gekünstelt und komisch, wenn er sich auf echt Fränkisch verständlich machen wollte. Aber wenn er dann in unregelmäßigen, großen Abständen bei seiner noch in Norddeutschland lebenden Verwandtschaft auftauchte, verriet er seine Geburtsregion mit unbewusst ins Gespräch gemischten Ausrufen wie „Allmächt“ beziehungsweise „Allmächd“.

      „Die hat bestimmt mehr Feinde als Haare auf dem Kopf!“

      „Nicht so laut!“

      Kriminalhauptkommissar Keller versuchte, Robert Pelzig zu beruhigen. Er beugte sich jetzt neben Martin Krause vom Erkennungsdienst über die Tote.

      „Was meinst du, wann ist die Frau wohl gestorben?“

      „Es muss in der Nacht passiert sein, sonst hätte heute Morgen ja nicht das Licht gebrannt. Nein, im Ernst. Einen genauen Todeszeitpunkt kann man noch nicht sagen. Jetzt muss die Leiche erst einmal in die Rechtsmedizin nach Erlangen gebracht werden. Und dann müssen wir die Obduktion abwarten.“

      ‚Sehr schlagfertig‘, dachte sich Ludwig Keller. Er blickte über den aufgeräumten Schreibtisch der Toten. Nichtraucherin, kein Aschenbecher, keine Zigaretten. Der Computer war auf Standby-Betrieb. Offensichtlich hatte die Tote keine Zeit gehabt, ihn herunter zu fahren und auszuschalten. War sie mitten in der Arbeit von ihrem Mörder überrascht worden? Aber was hatte sie so spät noch in der Firma zu schaffen? Musste sie so viele Überstunden schieben? Der Bürostuhl mit dem blauen Bezug war bis an die Wand zurück geschoben. Vor dem Schreibtisch stand ein Stuhl, der zum Besprechungsmobiliar in der Ecke zu gehören schien und umgeworfen worden war.

      „Hier steht eine Kaffeetasse!“

      „Die ist aber noch ganz voll, wahrscheinlich ist die Person, die Frau Schilling gestern gegenüber saß, nicht mehr dazu gekommen, den Kaffee zu trinken.“

      Pelzigs Blick war auf die Tasse gerichtet.

      „Aber vielleicht hat derjenige oder diejenige die Tasse doch angefasst. Egal, wir müssen sie auf Spuren untersuchen. Den Inhalt auch?“

      „Na klar, vielleicht ist in diesem jetzt kalten Gebräu ja noch etwas drin, was Hinweise auf den Tod der Personaldisponentin geben könnte.“

      „Gift vielleicht oder KO-Tropfen?! Und danach hat der Täter dann noch mit einem Messer seine Wut an ihr ausgetobt.“

      „Wir müssen den Computer von Frau Schilling natürlich auch mitnehmen. Hat sie einen Laptop? Wir müssen die Festplatte auslesen. Wir müssen ihre Mails checken, um Informationen über die Person oder die Personen zu erhalten, die Frau Schilling gestern noch lebend gesehen hat oder haben. Frau Schillings Mobiltelefonnummer, Telefonverzeichnisse von Kunden, Mitarbeitern und so weiter und so weiter. Und dann die Telefonnummer von Ihrem Mann. Liegt hier irgendwo ein Handy rum, das Frau Schilling gehört hatte? Die Dame vom Empfang, die die Tote zuerst gesehen hat und die Polizei angerufen hat, hat doch gesagt, dass sie verheiratet ist.“

      „Das ist ein Fass ohne Boden. Diese Art von Firmen hat doch heutzutage kaum mehr einen festen Mitarbeiterstamm. Die heuern Personal für einen aktuellen Auftrag an, und danach entlassen sie die Leute wieder. Und wenn dann wieder ein neuer Auftrag über Personalverleih von einem Kunden vorliegt, dann stellen sie erneut an. Denn wenn die Leiharbeiter länger als ein Jahr bei ihnen arbeiten, würden Sozialleistungen wie beispielsweise ein Weihnachtsgeld fällig. So steht’s theoretisch im Vertrag. Und über das Arbeitsamt kriegen die immer frisches Personal. Ich habe mal bei der Jobbörse von der „Agentur für Arbeit“ reingeschaut. Verwaltungspersonal wird heutzutage nur noch über Leiharbeitsfirmen verscherbelt. Meine Schwester hat es ja auch getroffen. Sie hat ihren Job als Teamassistentin verloren. Vor ein paar Monaten. Und jetzt tut sich die Zeitarbeitsfalle vor Johanna auf. Denn Arbeitslosen werden bei den so genannten Vermittlungsgesprächen immer Stellenangebote von Leiharbeitsfirmen vorgelegt. Und dann müssen die sich auch bewerben, sonst droht ihnen eine Kürzung des Arbeitslosengeldes. Weil sie sich nicht kooperativ zeigen bei der Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt. Wie das schon klingt! Ein Werkstück, das aus der Fertigungsstraße gefallen ist. Und das nun wieder in den Produktionsprozess eingeführt werden muss. Oder es wird eben einfach weggeworfen. So, wie auch die Arbeitnehmer über das so genannte Arbeitslosengeld II entsorgt werden. Und dann wird den armen Seelen der Stempel „Schwer vermittelbar“ aufgedrückt. Einfach widerlich! Und dann wird man Freiwild für auf billiges Personal gierende Unternehmer. Bisher hat sich Johanna mit Erfolg gegen solche wirklich unzumutbaren Jobs zur Wehr setzen können. Da gibt’s doch tatsächlich so genannte Arbeitgeber, die meinen, Arbeitslose sollten für sie kostenlos „auf Probe“ schuften. Bezahlt würden sie ja auch werden – vom Arbeitsamt, also vom deutschen Steuerzahler. Mit der Begründung, sie, als Arbeitgeber, würden ja ein großes Risiko eingehen, einen Arbeitslosen einzustellen! Arbeiten auf Probe. Vor ein paar Wochen hatte Johanna so einen Kleinunternehmer am Wickel. Sie sollte seinen Saftladen auf Vordermann bringen, aber einen Arbeitsvertrag wollte er ihr nicht geben. Gleich am zweiten Tag in dieser Firma ist meiner Schwester dann der Geduldsfaden gerissen. Vertrag her, oder sie würde gehen! Da hat der ihr dann 90 Euro in die Hand gedrückt, und sie war wieder um eine Enttäuschung reicher. Das zehrt an den Nerven, kann ich Ihnen vielleicht sagen.“

      Robert Pelzig ereiferte sich, sein im Laufe der Jahre in den Medien und im wirklichen Leben erworbenes Wissen über