Peter Urban

Der Fluch von Azincourt Gesamtausgabe


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ein stummes Augenpaar, das ihn beobachtete.

      Vom ersten Schreck den alten Mann und die Pferde verloren zu haben, hatte der Knabe sich inzwischen erholt. Er atmete ein paar Mal tief durch, um seinen Herzschlag wieder unter Kontrolle zu bekommen, dann lies er sich mit geschlossenen Augen auf die Knie sinken. Der Wald war sein Freund. Die Bäume sprachen zu ihm, wenn er nur still genug war, um ihnen zuzuhören. Die Augen, die ihn durch die Dämmerung beobachteten bargen keine Gefahr. Er spürte nichts Schreckliches an diesem Ort. Sein Atem ging ganz flach, sein Herz schlug sanft und regelmäßig. Alles, was der Knabe jetzt noch fühlte, war der Wind der über seine Wangen strich.

      Sévran wusste nicht mehr, wie lange er mit geschlossenen Augen auf dem weichen, feuchten Waldboden gekniet hatte. Die Augen, die er zuvor noch in den Bäumen versteckt gespürt hatte, fixierten ihn nun direkt. Er öffnete auch seine eigenen Augen wieder. In der Dämmerung erkannte er den jungen Hirsch. Gelassen stand das zierliche, anmutige Tier vor ihm auf dem Pfad. Sévran lächelte. Dann streckte er vorsichtig seine Hand aus. Der junge Hirsch legte den Kopf schief und blickte ihn aus braunen Augen fragend an.

      Sévran hielt seinem Blick stand: „Gehörnter Bruder, zeig mir den Weg“, dachte der Knabe, „zeig mir den richtigen Weg zurück nach Hause.“ Das junge Tier machte ein paar vorsichtige Schritte. Seine weiche Nase berührte die Hand des Kindes. „Zeig mir bitte den Weg, gehörnter Bruder“, Sévran konzentrierte sich ganz auf den Hirsch. Sein filigranes Geweih deutete darauf hin, dass er gerade seinen ersten Herbst in diesem Wald verlebte. Sein Fell glänzte trotz der Dämmerung, wie Kupfer. Als die weiche Nase seine Hand berührte, hatte der Knabe das Gefühl, den Herzschlag des Hirsches in seiner eigenen Brust zu spüren. Er hatte keine Angst. Er war ganz ruhig und gelassen. Sein Geist und sein Körper waren rein und Kraft durchströmte ihn, wie ein erfrischender Fluss. Langsam erhob Sévran sich aus seiner knienden Haltung, um seinen wilden Gefährten nicht zu erschrecken. Der Hirsch verließ im Schritt den Pfad und bewegte sich zurück zwischen die Bäume. Er folgte ihm. Das schöne Tier bewegte sich lautlos über das Herbstlaub auf dem Boden. Immer tiefer führte es den Knaben in den Wald hinein. Plötzlich beschleunigte es und Sévran spürte, wie sein Herz schneller in ihm schlug und der Geist des Hirsches sich mit seinem Geist verband. Er fing an zu Laufen, um seinem wilden Gefährten zu folgen. Schneller und immer schneller rannte das Tier vor ihm durch den Laubwald. Wendig sprang es über Wurzeln und andere kleine Hindernisse hinweg. Sévran tat es ihm gleich. Er hatte seine Cotte und Surcotte mit der Linken gepackt, damit die langen, weiten Kleidungsstücke ihn nicht störten. Er folgte seinem Hirsch ohne Anstrengung. Nur das Schlagen seines Herzens in der Brust wurde immer schneller und lauter.

      Irgendwann hatten sie den dichten Wald von Uhel Koad hinter sich gelassen und Sévrans Augen, die sich gut an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannten die Schatten einer Mauer und einen soliden, gedrungenen Turms. Oben auf dem Turm brannte ein Feuer. Der Hirsch verlangsamte seine Gangart und kam zum Stehen. Der jüngste Sohn des Herzogs von Cornouailles tat es ihm gleich. Er brauchte ein paar Augenblicke um wieder zu Atem zu kommen. Dann präsentierte er seinem Begleiter erneut vorsichtig die rechte Hand: „Danke, gehörnter Bruder, das Du mich sicher nach Hause zurückgebracht hast“, dachte er. Der Hirsch berührte mit seiner weichen, feuchten Nase vorsichtig die ausgestreckte Rechte des Kindes, bevor er wieder mit raumgreifenden, elastischen Sprüngen im Uhel Koad verschwand, in dem er seit Anbeginn der Zeit lebte.

      III

      Es hatte eine ganze Weile gedauert, bevor Gilles sich von der handfesten Warnung des Bretonen erholt hatte. Dann war er benommen und zutiefst in seiner Ehre verletzt aus der schmutzigen Gosse vor der Taverne in Saint Pol sur Turnoise verschwunden. Seine Nase schmerzte immer noch heftig von dem herben Schlag des verdammten Richemont. Und der Knabe war über alle Masse wütend auf den Mann, der ihn so gedemütigt hatte.

      Natürlich wussten weder sein Großvater, noch der Waffenmeister von Champtocé Yves De Kerma’dhec etwas von der nächtlichen Niederlage. Der junge Laval hatte ihnen lediglich berichtet, was er in der Taverne aufgeschnappt hatte: Die Information bezüglich der Gespräche zwischen d’Albret und Henry IV. über einen kampflosen Abzug. Die Tatsache, dass sowohl der Bretone Richemont als auch Alençon, Nevers und der Barbar mit dem Sigillenreif gegen ein direktes Blutvergießen waren und Amaurys Teilnahme an dem Saufgelage.

      Die wenigen Stunden der Nacht, die nach dem Ausflug des Knaben in die Taverne von Saint Pol noch übrig geblieben waren, verbrachte er in großer Unruhe. Der Wind trug das Donnergrollen eines schweren Gewitters von der See bis zum Feldlager des französischen Heeres. Der feine Regen, der ihn in der Gosse vor der Taverne aufgeweckt hatte war zu einer richtigen Sintflut geworden. Draußen bewegten sich die Wachen seines Großvaters, nur um ein bisschen warm zu bleiben.

      In der absoluten Finsternis, die er ansonsten immer als so beruhigend empfand, erschienen ihm nur Bilder des Schreckens: teuflische Visionen, lebendige Skelette, die tanzten, lodernde Feuer, aus denen widerliche Dämonen ihn ansprangen, die verwesenden Köpfe von Knaben, die sein Großvater dem Leibhaftigen geopfert hatte, um ihn in seinen magischen Kreis in den Gewölben der Festung von Champtocé zu locken. Gilles wälzte sich von einer Seite auf die andere. Die knochigen Hände der tanzenden Skelette versuchten ihn zu packen. Die toten Augen der geschlachteten Knaben wurden plötzlich lebendig. Sie lachten ihn aus. Sie machten sich über ihn lustig. Sie verspotteten ihn in der gleichen Weise, in der ihn die Waffenleute des Bretonen und des Barbaren aus Cornouailles vor der Taverne verspottet hatten, als er sich aus der Gosse hochrappelte, um wegzulaufen. Sie hatten Richemonts wüstes Schimpfen gehört. Sie hatten gehört, dass er ihn einen kleinen, schmierigen Dieb nannte, dem er die Hand abhacken sollte, um ihn zu bestrafen. Sie hatten seine Demütigung mit angesehen.

      Als endlich das Sturmgewitter nachließ und der Wind die Wolken weiter fort ins Landesinnere der Picardie trug, fiel die Morgensonne blutrot durch den schmalen Spalt, den die schweren Vorhänge vor dem Eingang zum Zelt von Jean de Craon offen ließen. Mit einem Satz sprang Gilles von seinem Nachtlager und zog seine Stiefel an. Ohne abzuwarten, bis auch sein Großvater wach wurde, rannte er aus dem Zelt. Der Wind der Nacht hatte abgeflaut und es regnete. Die eiskalten, dicken, schweren Tropfen erfrischten ihn, als er zu den Pferden und den Waffenleuten von de Craon hinüberging. Manche von ihnen hatten es vorgezogen, die Nacht auf dem Pferderücken zu verbringen, um nicht im nassen Schlamm schlafen zu müssen. Ihre Tiere sahen erbärmlich aus.

      „Er hat Nein gesagt“, hörte Gilles einen in einem gelb-schwarzen Waffenrock mit einem Eberkopf auf dem Rücken sagen. Der Mann sprach Französisch, doch sein Akzent war hart.

      „Dann bleibt uns nichts anderes übrig, als sie totzuschlagen“, antwortete Sohier du Bois de Hoves, der Seigneur du Bucq, de la Motte d’Hérignies. Der Ritter aus dem Norden war erst vor wenigen Tagen mit seinen Waffenleuten zu d’Albret und Boucicault gestoßen war. Die Flamen hatten ihre Zelte neben denen der Craon-Laval-Montmorency aufgestellt, weil ihnen die Gesellschaft eines kleinen Seigneur von den Ufern der Loire offensichtlich eher behagte, als die des Grafen d’Ostrevent und Seigneur d’Hertaing, der dem Konnetabel und dem Marschall von Frankreich in der Festung von Ohain seine Gastfreundschaft gewährte.

      Mit einem Schlag verbesserte sich Gilles düstere Laune und die Müdigkeit der schlaflosen Nacht und des Zusammenstoßes mit Arzhur de Richemont fielen von ihm ab. Sie würden sich aufstellen und kämpfen. Nachdem er seinem Großvater und dem Leutnant von Champtocé, Yves De Kerma’dhec berichtet hatte, hatte Jean de Craon bereits laut überlegt, ob es nicht am besten war, einfach abzuwarten: Das Heer der Engländer sah nicht so aus, als ob es d’Albret und Boucicault lange Widerstand leisten würde.

      Die Regenfälle hatten sich seit Ende September in eine wahre Flut verwandelt und was Henry IV. mit einer Woche abgetan hatte, als er Harfleur aufgab, war zu einem endlosen, trostlosen, verzweifelten und hungrigen Monat für die Engländer und ihren jungen König geworden. Als dann auch noch jede einzelne sichere Furt durch die Somme von französischen Truppen besetzt vorgefunden wurde, war Lancaster nichts anderes übrig geblieben, als seine ausgelaugten Männer auch noch auf einen Umweg über Voyennes zu führen. Schließlich gelang es der kleinen Truppe aus etwa neunhundert Rittern und fünftausend Fußsoldaten gegen alle äußeren Umstände und vehementen französischen