Peter Urban

Der Fluch von Azincourt Gesamtausgabe


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hatte im Verlauf der letzten Monate gespürt, wie die Magie ihres jüngsten Sohnes immer stärker wurde. Seine Kräfte schossen, wie ein junger Baum im Frühjahr. Wenn Aodrén und die Weiße Brüder ihn in den nächsten Jahren richtig leiten würden, dann würde er nicht nur sie, sondern sogar seinen alten Lehrmeister eines Tages bei Weitem übertreffen.

      „Mein Schatz. Mein süßes Kind“, entfuhr es ihr, als sie beobachtete, wie der junge Hirsch zutraulich seine weiche Schnauze an Sévrans ausgestreckter Rechter rieb. Das Herz schlug schneller in ihrer Brust. Am Ende seiner Ausbildung würde Sévran die weiße Welt mit seinem Geist besuchen müssen, um dort den Geistern der Natur zu begegnen. Es war ein gutes Omen. Sie würden ihn im Heiligen Wald lehren, sich mit dem Geist eines Tieres zu verbinden. Er hatte in dieser Nacht instinktiv den Hirsch gewählt und dessen Eigenschaften in sich aufgenommen, um das Problem zu lösen, vor das Aodrén ihn gestellt hatte. Ein Drouiz der sich mit einem Hirsch verband, reinigte Körper und Geist und erlangte Ruhe und Kraft. Der Hirsch – Hu-Gadarn - wandelte bereits seit Anbeginn der Zeit in den Wäldern. Er war ein gutes Krafttier für einen Drouiz. Es würde nicht mehr lange dauern und sie würde ihren Kleinen in die Arme schließen und an sich drücken. Er hatte es geschafft. Er war aus dem Uhel Koad zurückgekehrt und der junge Hirsch hatte ihm den Weg gewiesen, Hu-Gadarn selbst, der strahlende Sohn des Lichtes.

      Aodrén lächelte und nickte Maeliennyd anerkennend zu. Ihre Entscheidung das Kind auszutragen war damals richtig gewesen, wie die Seine, ihn aus Inis Gwenva zurück zu locken. Sévran vereinte in sich die magischen Kräfte des roten Pendragon und der schwarzen Quinotauren der Volcae. Er war wahrhaftig ein Kind der Götter.

      In den Flammen beobachteten die Herzogin und der Ollamh, wie die Wachen von Rusquec sich tief vor dem jüngsten Sohn von Ambrosius Arzhur verbeugten. Auch sie hatten aus der Ferne die kleine Szene beobachtet. Das Kind hatte die Arme hinter dem Rücken verschränkt und sah die beiden Männer aus seinen schwarzen Rabenaugen an, wie ein Spitzbube, dem gerade ein besonders durchtriebener Streich gelungen war. Die Spannung in Maeliennyds Brust löste sich. Sie schmunzelte und legte ihre feingliedrige, milchweiße Hand sanft auf die Schulter des alten Mannes. Aodrén hob kurz die Rechte und machte eine Handbewegung, so als ob er etwas aus der Luft greifen wollte und das lodernde Feuer im Kamin verwandelte sich augenblicklich in ein sanftes Glossen. Die Bilder verschwanden.

      „Werdet Ihr uns beim Nachtmahl Gesellschaft leisten, liebster Freund“, fragte die Herzogin den alten Drouiz.

      „Sobald ich dafür gesorgt habe, dass unser junger Mann Euren noblen Gästen vorgeführt werden kann. Er sieht ein bisschen zerfleddert und schmutzig aus. Nach dem langen Tag im Wald und seinem kleinen, nächtlichen Abenteuer wird ihm eine Schüssel Wasser gewiss nicht schaden“, Aodrén erhob sich von seinem bequemen Platz vor dem Feuer, strich sich die Gewänder glatt und verlies zufrieden die Gemächer von Maeliennyd Glyn Dwyr. Sein Schüler hatte die erste Prüfung mit Auszeichnung bestanden.

      II

      Obwohl es sich nur um ein gewöhnliches Nachtmahl handelte, sah Aodrén zahlreiche Gäste im großen Saal von Rusquec umher wandeln. Sie tranken und unterhielten sich. Ambrosius Arzhur hatte seinen Tag mit Freunden auf der Jagd verbracht und war dabei bis nach Huelcoët geritten, wo der Graf de Poher mit zwanzig Lanzen den Weg nach Morlaix und an die Küste schützte. Von der Jagd hatte er nicht nur viele schöne, fette Enten mitgebracht.

      Einer der Knappen, die am Hof des Herzogs ihre Ausbildung zum Ritter absolvierte, an dessen Namen Aodrén sich aber beim besten Willen nicht erinnern konnte, präsentierte dem Drouiz eine Schale Wasser zum Händewaschen. Guethenoc, der herzogliche Truchsess, ein beleibter Mann mit spärlichem Haarwuchs, blasser Haut und tiefliegenden, bernsteinfarbenen Augen, rauschte wichtig an den trinkenden und plaudernden Gästen vorbei. Zuerst warf er dem Knappen mit der Waschschale einen vernichtenden Blick zu, dann verbeugte er sich tief vor Aodrén und dem Kind.

      „Ollamh, der Herzog und die Herzogin würden sich freuen, wenn Ihr und der junge Baron an ihrer Tafel speisen würdet. Der Herzog hat heute Nachmittag auf der Jagd überraschenderweise Bertrand de Dinan, den Seigneur von Châteaubriand und Châteauceaux getroffen und ihn eingeladen. Die Dame von Surgères, seine junge Gemahlin ist auch anwesend, ebenso Poher, Blanvalet, Locmariaquer, der Graf von Trevezel und Benead Menez-Kador“, Guethenoc schnaufte. Der schnelle Schritt und die lange Liste der Geladenen hatten den rundlichen Mann ganz außer Atem gebracht.

      Aodrén seufzte und bedeutete dem aufdringlichen Guethenoc, das er ihm folgen würde, obwohl er von solchen gesellschaftlichen Ereignissen nur wenig hielt. Doch selbst er konnte es sich nicht erlauben eine Bitte von Ambrosius und Maeliennyd ausschlagen, wenn sie so förmlich vorgetragen wurde.

      Guethenoc verbeugte sich noch einmal tief, bevor er dem Ollamh und dem Kind den Weg aus dem großen Saal in den Speisesaal wies. An beiden Seiten des Raumes im ersten Stock des herzoglichen Palas brannten Feuer in riesigen Kaminen. Über dem einen drehten vier kräftige Küchenburschen gemeinsam den Eber, den der Herzog vor ein paar Tagen auf der Jagd im Uhel Koad erlegt hatte. Vier lange Tische waren mit flachen Holztellern und Schüsseln aus bemaltem Steingut gedeckt. Wegen der unerwarteten, vornehmen Gäste hatte der Speisemeister die üblichen Zinnbecher am herzoglichen Tisch durch die dunkelblauen, venezianischen Glaskelche ersetzt, die zu Maeliennyds reicher Aussteuer gehörten.

      Ambrosius machte bei den Speisen zwischen seinem Tisch und dem seiner Waffenleute und Magistraten traditionell keinen Unterschied, denn Cornouailles war durch das Meer und den Argoat ein reiches Land. Auch die ganze Wildsau am Spieß deutete darauf hin, dass selbst die Gemeinen heute Abend nach Herzenslust Fleisch essen konnten. Obwohl der Herzog und seine Gemahlin noch nicht anwesend waren, saßen bereits viele bei Tisch und bedienten sich aus Körben mit ofenfrischem, weißem Brot und Töpfen mit gesalzener Butter.

      „Was für eine Verschwendung“, schmunzelte Aodrén, als er sah, wie zwei kräftige Küchenmägde mit vier Kannen voller Gewürzwein in jeder Hand an den Gemeinentisch traten und ihre Last dort schwer atmend abstellten. Hinter ihnen tauchten noch einmal zwei Mädchen auf, die einen großen Bottich mit Dünnbier schleppten.

      Der Truchsess des Herzogs hielt kurz in seinem Schritt inne und starrte den alten Mann ungläubig an. Eine Verschwendung? Sie hatten hohe Gäste zum Nachtmahl und es war für ihn undenkbar an einem solchen Abend nur Wasser und Apfelmost auf den Tisch zu stellen. Die großzügige Bewirtung von Gästen und ein erlesener Menüplan waren Zeichen von Anstand, Wohlgeborenheit und Bildung. Die Tatsache, dass selbst die Gemeinen Wein bekamen, deutete für die Gäste klar darauf hin, dass sie bei einem sehr reichen und wohlgeborenen Seigneur eingeladen waren. Wer sich als Herr geizig zeigte und Besucher oder Spielleute unzureichend versorgte, musste mit dem Verlust seines Ansehens und seines guten Rufes rechnen. Das Ansehen und der gute Ruf der Herren von Cornouailles waren Guethenoc weitaus wichtiger, als die Konsequenzen von spanischem Wein für seine Haushaltskasse. Ambrosius konnte sich eine solche Freizügigkeit leisten. Doch er würde dem Ollamh nicht widersprechen, sondern die Demütigung gelassen hinnehmen. Kaum einer bei Hof widersprach einem Drouiz. Niemand widersprach Aodrén Jaouen Kréc’h Elis.

      „Nun, es wäre eine Sünde die gebratene Wildsau nicht ordentlich zu begießen, mein Freund“, hörten Aodrén, Guethenoc und Sévran plötzlich eine vertraute Stimme.

      Ambrosius Arzhur, der Herzog von Cornouailles war zusammen mit seiner Gemahlin endlich aus den fürstlichen Gemächern im zweiten Stock des Palas zur Abendgesellschaft gestoßen. Hinter ihm standen Bertrand de Dinan, der Seigneur von Locmariaquer, Blanvalet, Poher und der junge Ritter Benead Menez-Kador, der Dinans Gemahlin höflich den Arm angeboten hatte. Der Truchsess verbeugte sich kurz und verschwand.

      „Ich hatte nicht gewusst, dass das heutige gesellige Beisammensein zu Ehren solch hoher Gäste veranstaltet wird“, log Aodrén kaltblütig und mit einem ausgesprochen einnehmenden Lächeln auf dem verwitterten, bärtigen Gesicht.

      Seine Augen blitzten vergnügt, als er sich leicht vor der jungen Dame von Surgères verbeugte. Natürlich hatte er es gewusst, denn der aufdringliche Truchsess hatte ihm ja sofort nach seinem Auftauchen im großen Saal die Ohren vollgeweint. Doch trotzdem war dieser Luxus