Peter Urban

Der Fluch von Azincourt Gesamtausgabe


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Bertrand de Dinan trat neben Ambrosius und umarmte den alten Mann herzlich. „Du hast Dich überhaupt nicht verändert. Immer noch die gleiche scharfe Zunge..“

      „Und Du, junger Bertrand hast Dich glücklicherweise verändert. Den Göttern sei Dank, Du bist inzwischen nicht mehr so hoch, wie breit...ansonsten hätte die edle Dame von Surgères Dich gewiss nicht zum Gemahl genommen.“

      Dinan erinnerte sich vergnügt an seine Zeit als Edelknappe am Hof von Ambrosius Vater, Emrys Arzhur de Cornouailles: Das musste Jahrzehnte zurückliegen! Aodrén war inzwischen gewiss hundert Jahre alt, denn bereits in Bertrands Jugend hatte er einen langen grauen Bart und ein von tausend Falten zerknittertes Gesicht gehabt. Schon damals hatte der weise Mann ständig großzügiges Essen und Trinken lautstark kritisiert und ihnen allen Mäßigung und Zurückhaltung bei Tisch gepredigt...und ihm selbst ab und an kräftig den Stock übergezogen, wenn er ihn dabei erwischte, wie er Honigwaben stahl oder in der Küche auf Raubzug ging. Vielleicht hatte Aodrén ja auch Recht: Er selbst war trotz seines außergewöhnlichen Alters immer noch schlank wie eine Gerte und lebhaft, wie ein orientalisches Windspiel.

      „Sévran“, unterbrach plötzlich eine ruhige Frauenstimme den amüsanten Schlagabtausch zwischen Dinan und dem weisen Mann, „warum versteckst Du Dich in den Falten der Gewänder des Ollamh anstatt unsere Gäste zu begrüßen, wie es sich ziemt?“

      „Mutter!“ Das Kind bemühte sich würdevoll zu klingen, als es unter dem weiten weißen Überwurf des alten Drouiz hervor kam. Aber seine Knie wollten nicht aufhören zu zittern. Am liebsten hätte er versucht, sich unsichtbar zu machen. Er hatte ein gewöhnliches Abendmahl mit den Eltern, den Gemeinen und dem Ollamh erwartet, eine Gelegenheit seiner Mutter ins Ohr zu flüstern, wie er mit dem Hirsch durch den Uhel Koad gerannt war und was sie den Tag über zusammen mit Aodrén erlebt hatten...nicht aber Bertrand de Dinan, Locmariaquer und Menez-Kador.

      Diese drei Männer waren im vergangenen Frühjahr die Helden des Turniers gewesen, das sein Vater am Hof von Douarnenez abgehalten hatte, um seinen Bruder Glaoda zu ehren, der den Ritterschlag mit erst zwanzig Jahren von Herzog Yann selbst erhalten hatte und nach sechs Jahren in Rennes zu ihnen zurückgekehrt war.

      Wie alle anderen Kinder war auch Sévran staunend und bewundernd auf der Tribüne gestanden, als Dinan, Locmariaquer und Menez-Kador zu Dritt die acht Herausforderer aus Concarneau geschlagen hatten, darunter seinen ältesten Bruder Aorélian, den er vergötterte und für seine Fertigkeit mit den Waffen maßlos bewunderte.

      „Guten Tag, kleiner Rabe“, begrüßte der Seigneur von Locmariaquer das Kind spöttisch, „jetzt kannst Du nicht mehr wegfliegen und Dich in den Bäumen verstecken.“

      Sévran lief feuerrot an, als er sich daran zurückerinnerte, wie er im letzten Jahr nach dem Turnier von Locmariaquer in dessen Zelt dabei ertappt worden war, als er heimlich, still und leise die Waffen des jungen Ritters inspizierte. Eigentlich war es nicht erlaubt und es gehörte sich nicht, ohne eine Einladung in ein fremdes Zelt zu marschieren. Doch ein kleiner Teufel hatte ihn damals geritten und als Locmariaquer ihn überrascht und ausgescholten hatte, war er weggerannt und auf einen Baum geklettert, um seiner gerechten Strafe zu entkommen.

      Der junge Mann grinste, strich ihm gutmütig über die langen, schwarzen Haare und steckte ihm dann einen hübsch verzierten, kleinen Dolch in den Gürtel, den er offensichtlich eigens für diesen Anlass in den Speisesaal mitgebracht hatte. Nachdem die Geste Locmariaquers dem Kind ein wenig seine Scheu genommen hatte, verbeugte es sich zuerst ein bisschen linkisch vor der Gemahlin von Bertrand, dann vor den Begleitern des Barons. Schließlich ergriff er mit der Linken und immer noch feuerroten Wangen die Hand der Mutter und drückte sich an sie, weil ihn die ganze Pracht doch einschüchterte. Seine Rechte hielt den Knauf des Dolches fest, an dessen Besitz er sich in der nächsten Zeit erst würde gewöhnen müssen.

      III

      Auf dem langen Speisetisch waren feinste, leinene Tafeltücher entrollt und zusätzlich Kerzen entzündet, die in Abständen von etwa einer Elle voneinander standen. Die drei großen, schmiedeeisernen Leuchter, die Feuer in den Kaminen und die Kerzenständer auf dem Boden warfen zusätzliches Licht. In einer Ecke, unter einem der Fenster spielten die Musikanten auf Flöten und Harfen leise Melodien. Ambrosius diskutierte angeregt mit Aodrén, Bertrand und seinen Seigneurs. Lachen und tiefe Männerstimmen drangen durch die Musik zu Sévran. Er fühlte sich sicher und beschützt an der Seite seiner Mutter, Maeliennyd plauderte über seinen Kopf hinweg mit der Dame von Surgères, die gerade durch und durch wohlerzogen mit dem Daumen der Rechten und den ersten beiden Fingern einen Spieß mit Rebhühnern ergriff, die in einer schmackhaften Sauce aus Ingwer und Traubensaft auf einer silbernen Platte vor ihr lagen. Durch die vielen Menschen war es in dem großen Saal herrlich warm und die guten Speisen von denen er gekostet hatte, gaben dem Kind nach seinem langen Tag draußen im Wald und an der frischen Luft ein Gefühl der angenehmen Trägheit und Müdigkeit. Seine rabenschwarzen Augen hielt er nur noch mühsam offen, weil er sich auf das sanft flackernde Licht der Kerze direkt vor seinem Platz konzentrierte. Aus dem Augenwinkel bemerkte Sévran, wie der Edelknappe, dem er viele Stunden zuvor zugezwinkert hatte seinen Teller fortnahm und eine kleine Schale mit dampfendem, köstlich nach Zimt riechendem Milchreis vor ihm hinstellte.

      Er würde noch ein bisschen vor sich hin träumen, bevor er die Nachspeise in Angriff nahm. Egal wie viel er gegessen hatte; Milchreis war ein seltenes Ereignis. Reis war wertvoll und rar und gewiss nur dem überraschenden Auftauchen der hohen Gäste zu verdanken.

      „Ein Meisterwerk, diese gebratene Ente“, hörte das müde Kind irgendjemanden bei Tisch sagen.

      „Es muss an der Füllung liegen: Backpflaumen, Kastanien, gerauchter Speck und... Pfeffer. Das verlangt einen kräftigen Nachsch...“

      Die Flamme der Kerze flackerte nicht mehr vor Sévrans Augen. Sie stand für einen kurzen Augenblick ganz still. Ihr gelber Farbton veränderte sich, wurde bläulich, dann rötlich und schließlich grün vermischt mit dem Braun von Erde. Sie breitete sich langsam aus, lief nicht mehr spitz nach oben zu sondern wurde kreisrund.

      Sévran konnte die Stimme seiner Mutter nicht mehr hören und auch die Musikanten mit ihren Flöten und Harfen waren verschwunden. Das Ende des Satzes über die gefüllte Ente?

      Anstatt der gewohnten Geräusche im Speisesaal des Palas von Rusquec vernahm er sonderbare Worte in einer sonderbaren, ungehobelt anmutenden Sprache. Er konnte sie aber nicht verstehen. Plötzlich waren die Kerze und die Flamme und der große Saal mit seinen Gästen und seinen Eltern verschwunden. Es war nicht mehr angenehm warm, sondern kühl und feucht. Panik legte sich wie eine Klaue fest um seine Kehle und schnürte ihm die Luft ab. Sein Atem ging stoßweise.

      Eine harte Herbstsonne strahlte auf ein Feld: Grünes Gras, braune Erde, silbern glänzende Waffen und Rüstungen, gesichtslose Männer in einfachen, schwarzen Lederwamsen sanken gleichzeitig auf die Knie. Ein gefährliches Zischen verwandelte sich in das bedrohliche Brummen eines aufgebrachten Bienenvolkes. Pferde wieherten schrill. Männerstimmen brüllten jetzt wild durcheinander. Manches verstand er, anderes nicht.

      Sévran richtete sich auf und trat einen Schritt zurück um besser sehen zu können. Was war geschehen? Warum war seine Mutter nicht mehr da und wo waren der Vater, Aodrén, Locmariaquer, Blanvalet, Dinan, Poher und die Musikanten? Warum stand seine Schüssel mit süßem, duftendem Reis nicht mehr vor ihm, sondern ein riesiger Berg aus Fleisch und Muskeln und Metall. Warum fühlte er Kälte, Angst, Schmerz, Schrecken und Tod so nah, wo es doch im Palas warm und sicher gewesen war?

      Der Berg schlug wütend auf einen anderen Mann ein. Sévrans Augen weiteten sich vor Schrecken. Der, der angegriffen wurde…

      „Aorélian, mein Bruder…“, rief das Kind entsetzt und sprang einen Schritt zur Seite, um dem Erben des Herzogs von Cornouailles Platz zu machen, damit dieser mit seinem Anderthalbhänder ausholen und sich gegen den Fleischberg zur Wehr setzen konnte. Doch der Bruder antwortete ihm nicht. Er biss nur seine Zähne fest zusammen und ließ mit voller Wucht den Anderthalbhänder nach unten sausen.