Peter Urban

Der Fluch von Azincourt Gesamtausgabe


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alle noch gehofft hatten, die Vernunft könne siegen.

      Die Engländer hatten eine einzige Schlachtreihe aufgestellt. An der linken und an der rechten Flanke erkannte Richemont die Bogenschützen. In der Mitte sah er, wie die meisten der Berittenen absaßen und ihre Pferde wegschickten. Lancaster besaß die Kühnheit, ohne Reserven zu kämpfen.

      Hinter Richemont schnaubte ein Pferd. „Sie reden immer noch, Arzhur“, riss ihn eine vertraute Stimme aus seinen nachdenklichen Betrachtungen über den Sinn und Zweck eines bewaffneten Zusammenstoßes mit dem König von England. Die Stimme gehörte dem Konnetabel des Herzogs von Cornouailles, Gud'wal Le Floa'ch de Morlaix. Gud'wal war der einzige von ihnen, der behaupten konnte über mehr militärische Erfahrung zu verfügen, als Grenzschutz zur Normandie, Dauerfehden mit unvernünftigen Nachbarn, lokale Machtkämpfe oder die Vernichtung irgendwelcher Horden von Strauchdieben. Er hatte einst als junger Mann drüben auf der anderen Seite des Meeres zusammen mit seinem Herzog Ambrosius Arzhur gegen den Königsmörder Henry IV. gekämpft, an der Seite von König Cadwalladr Owain Glyn Dwyr, als die Waliser es endlich leid gewesen waren, sich wie Vieh von den sächsischen Eindringlingen abschlachten zu lassen. Yann, sein eigener Bruder hatte dem Cadwalladr damals ebenfalls Männer geschickt, doch er selbst war in diesen Tagen noch ein Kind gewesen. „Und?“

      „Es ist wie immer, Arzhur“, antwortete Gud’wal mit hängendem Kopf, „der alte Berry rät einfach abzuwarten, bis das Lumpenpack da drüben verreckt. Zu beißen haben sie schon seit Tagen nichts mehr gehabt. Sie können weder nach vorne, noch zurück und an der Seite kommt nicht einmal eine Maus aus diesem Kessel.“

      Richemont nickte. Berry hatte Recht. Berry erinnerte sich noch an das Debakel von Poitier im Jahr 1356, als die Engländer mit einer kümmerlichen Truppe Berittener und sechstausend Bogenschützen in einer ähnlich kühnen Angriffsformation ein anderes überhebliches, organisationsloses französisches Ritterheer von gut und gerne fünfundzwanzig tausend Mann in Grund und Boden gestampft hatten. Damals hatte der „Schwarze Prinz“ Edward Plantagenêt den französischen König Jean II. gefangengenommen. Ein böses Omen. Wieder waren sie fünfundzwanzigtausend und wieder stand auf der anderen Seite eine bessere Räuberbande mit knapp sechstausend Bogenschützen und wieder befehligte den Haufen… Nein, er war nicht mehr Thronfolger! Er trug nicht mehr provokant diesen Titel „Prinz von Wales“, diesen geraubten Titel, der alleine dem Erben des Owain Glyn Dwyr aus dem Haus Pendragon zustand. Henry war nun selbst König und sein Vater, der Thronräuber und Mörder, hatte Zeit genug gehabt, aus dem kleinen, nichtsnutzigen Bastard einen richtigen Kriegsmann zu machen.

      „Es hilft nichts, Gud’wal“, sagte Richemont traurig zu Le Floa’ch de Morlaix, „sie werden nicht auf den alten Berry und seine Weisheiten hören. Sie sind gekommen, um sich zu amüsieren, um den anderen zu zeigen, wie wagemutig und unverwundbar sie doch sind. Sie sind hier, um ganz vorne zu stehen und den Engländer zu verspotten...“

      „Das befürchten d’Albret und Boucicault auch, mein Freund!“ Der Konnetabel des Herzogs von Cornouailles wendete sein stämmiges, normannisches Kriegspferd. „Pass auf Dich auf, Arzhur“, rief er dem jüngsten Bruder des bretonischen Herzogs zu, bevor er sich auf den Weg zu seinen eigenen Leuten machte.

      V

      Gilles betrachtete das Schauspiel fasziniert von seinem Versteck aus. Sein Großvater hatte zugestimmt. Hinter ihm lagen sechs Männer und Yves De Kerma’dhec in den Büschen. Er hatte schon lange darauf gebrannt, eine echte Schlacht aus nächster Nähe zu sehen.

      Weder der verfluchte Richemont noch der Kelte Douarnenez drängelten sich in der vordersten französischen Linie. Beide verzichteten auf ihre Pferde und kämpften zu Fuß. Die Bogenschützen und Arbaletiers aus der Bretagne und aus Cornouailles gingen in diesem Augenblick am Waldrand unweit von Gilles’ Versteck in Stellung.

      Das Feld von Azincourt war im totalen Chaos versunken, nachdem die englischen Bogenschützen stumm und diszipliniert nach vorne gegangen waren. Dann hatten sich plötzlich Tausende von Pfeilen wie eine drohende Wolke vor die Herbstsonne gelegt und das Schlachtfeld verdunkelt. Als sie auf die wartenden, französischen Ritter in ihren schweren Rüstungen niedergeprasselten, war der Lärm beinahe unerträglich gewesen. Obwohl die Engländer ihre Langbogen aus der weitest möglichen Entfernung in den Feind geschossen hatten, schrien französische Pferde vor Schmerz, wo die Spitzen der Pfeile sich durch dünne metallene Schutzpanzer hindurch tief in ihr Fleisch gruben. Nach den ersten verheerenden Salven rammten die Engländer lange, scharf angespitzte hölzerne Speere in den Grund und versteckten sich dahinter, um den Angriff der französischen Ritter zu empfangen. Dann zogen sie neue Pfeile aus ihren Köchern und warteten gelassen. Schließlich geschah das Unvermeidliche: Die Franzosen beschlossen mit der schweren Reiterei nach vorn zu gehen.

      Die englischen Langbogen schossen die erste Reihe französischer Ritter ab, wie beim Scheibenschießen. Die Pferde der nachfolgenden Reihe stürzten über die Gefallenen oder schlidderten im Matsch in die angespitzten Holzpflöcke hinter denen die Männer von Lancaster sich verbargen. Aus dem Chaos auf dem Feld von Azincourt wurde Panik. Leichen türmten sich übereinander auf, Pferdekadaver versperrten den Weg, verrücktgewordene, reiterlose Schlachtrösser zertrampelten gleichermaßen zu Fuß kämpfende Engländer und Franzosen. Ein neuer Hagel von Pfeilen prasselte auf alle herab.

      Gilles leckte sich die trockenen Lippen. Er konnte kaum noch atmen; das Schauspiel das sich ihm bot war einzigartig und aufregend. Drei Engländer hatten einen französischen Ritter, der vom Sturz noch betäubt auf dem Boden lag mit ihren Beilen in Stücke gehauen, wie ein Stück Vieh auf der Schlachtbank. Sie hatten genau gewusst, wo seine Rüstung keinen Schutz vor ihren Waffen bot. Einen anderen massakrierten sie gerade mit Spießen. Der Mann stieß einen letzten heiseren Schmerzensschrei aus, bevor sein Kopf zur Seite fiel und Blut aus Mund und Nase in den braunen Schlamm floss. Obwohl der Knabe das grauenhafte Blutvergießen und schreckliche Sterben auf dem Feld von Azincourt genoss, verlor er doch nicht sein Ziel aus den Augen: Die Kriegsfahnen des verfluchten Richemont und des Barbaren Douarnenez.

      Die weiße Fahne des Bretonen hing bereits in Fetzen. Pfeile hatten sie durchbohrt. Doch Arzhur de Richemont kämpfte, wie ein Löwe gegen die zahllosen Engländer, die auf ihn einstürmten. Offensichtlich hatten diese nicht im Sinn, den Bretonen abzuschlachten. Sie wollten ihn lebend gefangen nehmen. Herzog Yann würde für seinen jüngsten Bruder ohne lange zu fackeln ein kokettes Sümmchen Lösegeld bezahlen. Der langhaarige Barbar Douarnenez war in ähnlicher Bedrängnis, doch ihm gegenüber zeigten die englischen Angreifer sich weniger reserviert als mit Arzhur de Richemont. Gilles konnte nur annehmen, dass der Mann entweder weniger Lösegeld wert war, oder das Henry IV. spezielle Anweisungen gegeben hatte. Douarnenez hatte nicht nur einfache gierige Fußsoldaten mit Beilen und grob geschmiedeten Beidhändern zum Gegner. Das Kind sah, wie ein englischer Ritter mit einem auffälligen roten Waffenrock auf dem drei Löwen in Gold aufgestickt waren auf das Kriegsbanner des jungen Aristokraten deutete und seinen Männern zubrüllte, sie sollten den gottlosen Hexenmeister und Zauberer totschlagen und endlich Rache für den Earl of March und die Demütigung von Pilleth nehmen.

      De Kerma’dhec, der direkt neben dem Knaben in den Büschen verborgen lag, pfiff anerkennend durch die Zähne, als Douarnenez einem seiner Angreifer mit einem einzigen Schlag den Schädel spaltete. Doch der geschickte Streich wurde dem Barbaren zum Verhängnis. Der Engländer fiel, wie eine vom Blitz gefällte Eiche nach vorne und brachte Douarnenez aus dem Gleichgewicht. Noch bevor der junge Mann sich wieder hochrappeln konnte, hatte sich der im roten Waffenrock auf ihn geworfen, der Rache für March gefordert hatte. Douarnenez besaß in diesem Augenblick der Lebensgefahr nur noch den Vorteil des leichteren Kettenhemdes und der größeren Beweglichkeit. Er sah den schwer gepanzerten Angreifer und packte seinen Anderthalbhänder mit beiden Händen. Damit rettete der Barbar zwar sein Leben, doch der zweite Tote der auf ihn gestürzt war und auf seinem Schwert, wie auf einem Pfahl aufgespießt steckte, verurteilte ihn zur Bewegungslosigkeit im tiefen Schlamm. Gilles grinste de Kerma’dhec an. Wie ein Opferlamm ausgestreckt auf der Schlachtbank. Der Mann hatte keine Chance mehr. Das Gewicht der beiden Toten und der weiche Boden waren sein Verhängnis.

      VI

      Gud'wal