Peter Urban

Der Fluch von Azincourt Gesamtausgabe


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sich mit braunem Schlamm und schrecklichen Schreien von allen Seiten. Jetzt stürmte ein anderer in einem roten Waffenrock auf den Bruder los, der zu Boden gestürzt war. Aorélian blutete. Er schien es nicht zu bemerken.

      „Mein Bruder, was ist mit Dir?“ Sévran streckte zitternd die Hand aus um den abgebrochenen Pfeil zu berühren, der im Oberschenkel des jungen Mannes steckte. Er wollte Aorélian helfen, doch er konnte den Pfeil in der Wunde nicht greifen. Der Pfeil war aus Luft.

      Schreie, das harte Zusammenschlagen von Metall. Pferde donnerten wahnsinnig geworden durch die Reihen der Kämpfenden in den Wald. Von allen Seiten hatten sie ihn jetzt umringt. Neben dem Bruder lagen Tote, Männer deren Gesichter Sévran schon einmal gesehen hatte, bei einem Mahl im großen Saal des Palas oder draußen in der Ville Close von Concarneau, wo sie ihrem Waffendienst nachgingen. Andere erkannte er nicht. Nur das sie nicht mehr lebten, das war deutlich. Dem einen fehlte ein Arm, ein Pfeil steckte in seiner Gurgel, genau da, wo das Kettenhemd aufhörte, seine Augen starrten leblos den blauen Himmel und die Herbstsonne an. Aorélian hatte seinen Anderthalbhänder umklammert und hielt ihn, wie einen Spieß, um sich gegen den wütenden Angreifer im roten Waffenrock zu wehren.

      „Bruder, gib Acht“, schrie das Kind panisch und stürzte sich mit erhobenen Fäusten auf den Angreifer von Aorélian, doch er konnte ihn nicht treffen. Der Schlag ging ins Leere. Er war aus Luft, aus Luft und Blut…und dann war er plötzlich verschwunden und Sévran stand weit weg von diesem Ort des Schreckens und fühlte sich für einen kurzen Augenblick sicher, als er erkannte, wer neben ihm stand.

      „Meister Juizig, was macht Ihr denn hier“, erkundigte er sich erleichtert bei dem Mann in der dunkelbraune Lederweste. Gerade aufgerichtet stand der neben ein paar anderen Männern, die Sévran schon häufig getroffen hatte, wenn sie am Markttag in Concarneau ihre Fische oder ihr Gemüse anboten. Der, der ihm nicht antwortete, hatte einen Sohn: Szenec war Sévrans bester Freund. Sie kannten sich seit ewigen Zeiten und spielten oft zusammen, denn sie mochten sich gut leiden, auch wenn er der Sohn des Herzogs war und Szenec nur das Kind eines Fischers von der Felsenküste.

      Juizig ignorierte Sévran. Er stand ganz gerade und aufrecht und starrte ein Loch in die Luft des Herbsttages. Die Männer starrten alle Löcher in die Luft. Sévran ging zum nächsten, versuchte ihn zu schütteln, damit er antwortete. Seine Hände griffen ins Leere. Stimmen drangen an sein Ohr. Es waren immer noch Schreie zu hören und Pferde wieherten wild, doch das lag weit weg von dieser Lichtung. Und warum stand sein anderer Bruder Glaoda hier zwischen den Männern? Aber Glaodas Blick war nicht leer; er war, wie Feuer. Der junge Mann brannte förmlich. Er bebte. Sévran spürte die unnatürliche, hasserfüllte Aura seines anderen Bruders und er konnte plötzlich genau erkennen wogegen sie sich richtete. Da knieten sie und wieder waren es diese schwarzen Lederwamse, diese gesichtslose Masse, die er bereits zuvor gesehen hatte, dort wo sich das grüne Gras mit der braunen Erde vermischte. Er wusste, das Aorélian dort hilflos unter den Leichen der beiden Männer begraben lag, die er gerade erschlagen hatte, um sich zu verteidigen.

      Noch bevor das Kind seinen zweiten Bruder erreicht hatte, war da wieder dieses Zischen in der Luft und es wurde zu einem absonderlichen Brummen. Dann trafen hundert zornige Pfeile gleichzeitig. Juizig griff sich an die Kehle und fiel ohne einen Laut vorne über. Der neben ihm schrie gellend, als er nicht mehr sehen konnte und sein Bruder...sein Bruder Glaoda war ganz langsam in die Knie gesunken. Es hatte beinahe wie ein Willensakt ausgesehen. Ganz langsam, bedächtig und kontrolliert. Aus seiner Brust ragten drei Pfeile. Sie steckten genau in der Mitte, im Zentrum des Pentagramm, das die beiden Quinotauren von Cornouailles zwischen ihren Klauen festhielten…Glaoda schloss die Augen und fiel.

      Sévran schrie, wie er noch nie zuvor in seinem Leben geschrien hatte. Er versuchte dort hinzurennen, von wo die Pfeile geflogen waren. Er wollte sich auf diese gesichtslose braune Masse stürzen und ihnen die Augen auskratzen. Seine kleine Hand suchte nach dem Dolch, den Locmariaquer ihm geschenkt hatte. Er würde sie verfluchen. Nicht die Augen auskratzen. Nein, er würde die Gesichtslosen verfluchen, sie und ihre Weiber und Kinder und bis in die siebte Generation sollte sein Fluch tragen. Doch er lief durch die gesichtslosen Männer in ihren schwarzen Lederröcken hindurch.

      Und plötzlich war alles ganz still. Der Lärm der Waffen und das Geschrei der Kämpfenden wurden vom Wind weggetragen. Die Ebene war, wie tot, doch aus den Wäldern die sie umgrenzten kamen dunkle Schatten. Sie beugten sich über die, die am Boden lagen...tot, verwundet, hilflos. Sévran fand das stolze Banner von Arzhur de Richemont, dem besten Freund seiner beiden älteren Brüder Aorélian und Glaoda zerfetzt und in den Dreck getrampelt. Neben dem Eber und der Eiche von Breizh lag ein junger Mann mit weit aufgerissenen, blauen Augen. Sévran hatte ihn zusammen mit Richemont gesehen, vor einem Jahr, während des Turniers. Noch im Tod umklammerten die Hände des blutjungen Knappen die stolze Kriegsfahne des Bruders des bretonischen Herzogs.

      Das Kind ging weiter über das desolate Feld. Es wimmelte von schwarzen, gesichtslosen Schatten, die sich über die Opfer der Schlacht beugten, um sie zu berauben, doch niemand schien ihn zu bemerken. Er erkannte einen roten Waffenrock auf dessen Rücken drei Löwen in Gold gestickt waren. Sévran wollte aufschreien, doch plötzlich erinnerte er sich an die gesichtslosen, grausamen Schatten und schlug entsetzt die Hand vor den Mund um den Schrei zu unterdrücken. Er lief, so schnell er konnte zu der Stelle, an der er den roten Waffenrock erkannte.

      Aorélian! Er lag dort hilflos unter den beiden Toten begraben im Dreck. Sévran würde ihm helfen. Er war kräftig und er wusste, dass er es tun konnte. Er würde zuerst die verdammten Kadaver von Aorélians Körper rollen und dann seinem Bruder die Schulter anbieten, damit er sich auf ihn stützen konnte. Sie würden zusammen von diesem schrecklichen, blutigen Ort weglaufen...nach Hause, nach Rusquec und zu Mutter und Vater und zu Aodrén. Aodrén würde Aorélian den Pfeil aus dem Oberschenkel ziehen und ihn heilen. Alles würde wieder gut werden, wenn sie nur erst in Rusquec waren. Sévran rannte los.

      Plötzlich standen gesichtslose, schwarze Schatten an der Stelle, an der sein Bruder gefallen war. Sieben große Schatten und einer, der etwas kleiner war.

      Sévran riss den Dolch, den Locmariaquer ihm geschenkt hatte im Laufen aus der Scheide und hielt ihn mit beiden Händen fest umklammert. Doch so schnell er auch rannte, er kam nicht voran.

      Die großen Schatten rollten zuerst den im roten Waffenrock zur Seite und dann hoben sie den anderen Mann hoch, dem sein Bruder den Schädel gespalten hatte.

      Sévran atmete stoßweise vor lauter Anstrengung. Er konnte Aorélian einfach nicht erreichen, obwohl die schwarzen Schatten, die um ihn versammelt standen plötzlich Gesichter hatten; sieben erwachsene Männer in Waffenröcken und ein braunhaariger Junge in einem Lederwams und mit dunkelbraunen Lederhosen , der aussah als ob er vielleicht vierzehn oder fünfzehn Jahre alt war. Der Junge hatte dunkelbraune Augen. Sie glänzten boshaft, als er aus der Hand eines der erwachsenen Männer ein Beil entgegennahm. Sévran konnte genau erkennen, das sein Bruder lebte. Aorélian –von den beiden Leichen befreit- versuchte verzweifelt sich aus dem Schlamm aufzurappeln. Doch anstatt ihm dabei zu helfen, versetzte der Junge mit den braunen Haaren und den braunen Augen ihm einen Tritt in die Brust. Dann hob er boshaft grinsend die Axt...

      „Nein“, schrie Sévran so laut, dass er glaubte seine Lungen würden bersten. Die Axt sauste hinunter; einmal, zweimal, dreimal. Aorélian heulte vor Schmerz, wie ein waidwundes Tier. Der braunhaarige Junge lachte fröhlich, als er die abgehackte, blutüberströmte Rechte von Aorélian aufhob und ihm den Sigillenreif des Cadwalladr vom Handgelenk löste, um ihn an sein eigenes Handgelenk zu stecken.

      „Nein“, schrie der jüngste Sohn des Herzogs von Cornouailles noch einmal, so laut er konnte. Doch es war zu spät.

      Aorélian lag stumm, mit gespaltenem Schädel, schreckgeweiteten Augen und abgeschlagenen Armen im Dreck. Einer der erwachsenen Männer hob den hellgrünen Schild mit dem Pentagramm und den Quinotauren von Cornouailles vom Boden. Ein anderer nahm den florentinischen Anderthalbhänder seines Bruders. Der Junge, der ihn erbarmungslos totgeschlagen hatte, lachte laut, als er seinen Begleitern stolz den Sigillenreif des Cadwalladr an seinem Handgelenk präsentierte.