Rainer Kilian

Regen am Nil


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an kaum mehr erinnern, als dass ich geträumt hatte. Aber mancher Traum kehrte zurück, bis ich ihn sozusagen auswendig konnte.

      Der Griff nach meinem Arm erinnerte mich daran, dass die Landung unmittelbar bevorstand. Entschuldigend lächelnd hatte meine Flug-Nachbarin nach einem Halt gesucht. Im scheidenden Licht des Tages konnte ich die Umrisse des Vulkankraters sehen, die steil aus dem Meer aufragten und die Insel Santorin bildeten. Die Maschine wurde sichtlich durchgerüttelt. Der Meltemi, der allgegenwärtige Sommerwind, sorgte dafür, dass nur erfahrene Piloten die Landung wagen durften. Erstaunlich präzise setzte die Maschine auf dem Rollfeld auf. Erleichtert klatschten die Fluggäste Beifall. Der Hinweis, sitzen zu bleiben, wurde kaum beachtet. Jeder hatte damit zu tun, als Erster das Flugzeug zu verlassen. Ich ließ mir Zeit damit, denn in Griechenland gingen die Uhren etwas langsamer.

      Die Ersten unter den Fluggästen würden genauso lang warten müssen, bis sie ihre Koffer sehen würden. So verließ ich als einer der letzten Passagiere die Maschine und sog die Abendluft ein. Der Duft des Meeres war nur zu ahnen, da er vorläufig von Kerosin-Geruch überlagert wurde. Ein kleiner Bus brachte den Rest unseres Klubs in die Ankunftshalle, wo wir auf die Mitflieger trafen, die es so eilig gehabt hatten. Mehr unwillig förderte das Gepäckband die ersten Koffer zutage. Zu meinem inneren Triumph erspähte ich meinen Koffer als einen der Ersten. Nach den kurzen Einreise-Formalitäten wurden wir vom zuständigen Reiseleiter empfangen.

      „Herr Menzl?“, begrüßte mich die Dame von Odysseus-Tours. „Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass die Fähre nach Ios wegen des starken Seegangs Verspätung hat. Wir haben jedoch ein Zimmer im Hotel Amaryllis zur Übernachtung für Sie in Perissa reserviert.“

      Es gibt Schlimmeres, als eine Nacht auf Santorin zu verbringen, und so ergab ich mich gerne in mein Schicksal. Im Hotel machte ich mich kurz frisch und nahm den Insel-Bus nach Thira. Dort empfing mich der geschäftige Tourismus am Kraterrand. Überall priesen die Wirte ihr Essen an. Obwohl es eigentlich schon recht spät zum Essen war, verführte mich der Geruch der Speisen zu einem Besuch in einer Taverne am Kraterrand. Tief unten konnte ich die Lichter der Kreuzfahrtschiffe sehen, die im Hafen ankerten. Bouzouki-Musik klang von der Dachterrasse, und ich hatte erstmals das Gefühl von Urlaub. Irgendwann in der Nacht kehrte ich zurück ins Hotel und zu meinem Träumen.

       Eine Göttin

      Fast die ganze Nacht hatten sie damit zugebracht, das Leben von Senenmuts Vater noch einmal in Erinnerung zu bringen. Er war ein liebevoller Familienvater gewesen, der seinen Kindern viel beigebracht hatte. Senenmut zum Beispiel hatte er immer wieder die alten Schriften erklärt und wurde nie müde, ihm so die Traditionen und Gebräuche ihrer Vorfahren zu vermitteln. Als Schreiber im Tempel des Amun war Ramose mit den Riten seines Volkes sehr vertraut.

      So wusste Senenmut von seinem Vater, dass seine Lebenskraft, sein Ka, und seine Seele, sein Ba, sich nur wieder vereinen konnten, wenn sein Körper erhalten blieb. So war es die wichtigste und erste Aufgabe für die Familie, Ramoses Körper mumifizieren zu lassen. Das war die Aufgabe der Priesterschaft des Amun-Tempels.

      Senenmut nahm seinen Weg gleich nach Sonnenaufgang in Richtung Tempel. Er wollte gleichzeitig darum bitten, in die Dienste der Priesterschaft eintreten zu dürfen. Er betrat die von Widdersphingen begrenzte Allee, die die beiden Tempelbezirke miteinander verband. Ein kleines Heiligtum befand sich mitten in Theben. Es beinhaltete nur wenige kleine Statuen, die den lokalen Göttern gewidmet waren. Der Hauptteil der Tempelanlage bestand aus dem heiligen Bezirk Karnak, den Generationen von Pharaonen zu Ehren der Götter errichtet und erweitert hatten. Mauern grenzten den heiligen Bezirk von den Speichern und Wirtschaftsgebäuden ab, die zum Tempel gehörten. Mächtige Pylonen bildeten den Eingang zum eigentlichen Tempel.

      Sie zu durchschreiten, hieß heiligen Boden zu betreten, der den Göttern alleine gehörte. Kein lautes Wort wurde hier gesprochen, obwohl unzählige Menschen hier ein- und ausgingen, herrschte weihevolle Stille. Zwischen gigantischen Säulen, die in den Himmel zu wachsen schienen, standen überlebensgroße, steinerne Statuen längst vergangener Herrscher, die die Gunst der Götter beschworen. Sie baten um eine lange Regierungszeit, um Gesundheit im hiesigen Leben und die Aufnahme ins Jenseits. Sie berichteten auch von den großen Taten ihrer Stifter, von Eroberungen fremder Länder zum Wohle des ägyptischen Volkes.

      Einige Statuen waren von den Nachfolgern in Besitz genommen worden, indem sie kurzerhand ihren eigenen Namen über die alte Inschrift meißeln ließen. Auf diese Weise waren manche Namen alter Herrscher in Vergessenheit geraten und nur die Götter wussten um sie. Senenmut schulte sein Wissen, studierte die alten Inschriften und übersetzte ihre Bedeutung, stumm die Lippen bewegend.

      Ein Mann in weißer Priesterkleidung trat ihm entgegen. „Sei willkommen, Senenmut! Mein Name ist Hapuseneb. Ich bin Priester im Tempel des Amun und grüße dich auch im Namen aller derer, die deinen Vater gekannt haben.“ Er streckte ihm als Zeichen des Mitgefühls seine Hand entgegen. Er mochte kaum älter sein als Senenmut, hatte aber wohl schon im Tempel von Karnak eine bevorzugte Stellung erreicht, sonst hätte man wohl einen anderen geschickt, um ihn zu empfangen. Er war kahl geschoren als Zeichen der Priesterwürde.

      „Wir alle vermissen deinen Vater. Er war klug und weise. Aber er wird im Binsengefilde im Reich des Osiris ein schönes Leben haben. Du bist jetzt das Oberhaupt der Familie und wirst sein Andenken bewahren!“

      Senenmut drückte plötzlich die Verantwortung, die er nun auf seinen Schultern spürte. Aber der Gedanke, seinem Vater Ehre zu bereiten, tröstete ihn etwas. Er festigte in ihm den Willen, alles so zu tun, wie er es als Knabe beim Talfest von seinem Vater gehört hatte. Er fasste sich ein Herz und fragte Hapuseneb: „Mein Vater hat mich vieles darüber gelehrt, was seine Aufgaben hier im Tempel waren. Ich glaube, dass ich ihm ein würdiger Nachfolger werden könnte. Ich möchte dich bitten, mich zu prüfen und in den Tempel aufzunehmen.“

      „Das ist wahr“, pflichtete ihm Hapuseneb bei. „Dein Vater hat immer voll Stolz über dein Geschick, wie du die Schrift deutest, gesprochen. Ich denke, ein Versuch könnte nicht schaden.“ Erleichterung zeichnete sich auf Senenmuts Gesicht ab. „Wenn du willst, kannst du morgen gleich anfangen. Ich werde dich einweisen.“

      „Ich werde da sein“, sagte Senenmut.

      „Dann kannst du auch gleich damit anfangen, deinem Vater ein würdiges Grab zu bereiten“, fügte Hapuseneb hinzu.

      Senenmut wurde blass vor Schreck und Überraschung. Er wusste zu gut, was das bedeuten würde. Die Einbalsamierung der Toten war Aufgabe der Amun-Priester. Die Schreiber waren anwesend, um Protokoll über die Zeremonie und Einhaltung der Riten zu führen. Sein Vater indes war noch nicht einbalsamiert, und so würde er dabei sein, wenn die Vorbereitungen beginnen.

      Ihm schauderte davor, aber traute sich nicht zu widersprechen. Hapuseneb forschte in seinem Gesichtsausdruck nach einer Antwort.

      „Ich werde da sein“, wiederholte Senenmut. „Ich danke dir für deine Großzügigkeit“, sprach er und verabschiedete sich. Er beschloss, zum Schrein des Amun zu gehen und ein Räucheropfer für seinen Vater zu entzünden. Er kniete nieder und sprach die alten Gebete, die sein Vater ihn gelehrt hatte.

      Er musste daran denken, wie er als Kind zwischen den Säulen des Tempels Versteck gespielt hatte und sein Vater so tat, als wenn er ihn nicht sehen würde. Voll Wehmut wünschte er sich die Zeit zurück, die nun für immer vergangen war. Sein Vater war ihm immer kluger Freund und Ratgeber gewesen, Senenmut konnte beim Gedanken daran, dass er nicht mehr da war, nicht verhindern, dass ihm Tränen in die Augen stiegen. Ein leichtes Zittern lief durch seinen Körper.

      Eine Hand legte sich sanft auf seine Schulter. Senenmut erschrak etwas, er hatte sich allein im Heiligtum gewähnt. Er drehte sich um und gleichzeitig war der Schreck vergangen, denn er blickte in das schönste Gesicht, das ihm jemals begegnet war. Es war eine junge Frau, die in ein golddurchwirktes Gewand der Hathor-Priesterinnen gekleidet war. Es schmiegte sich um ihren Körper und betonte ihre schlanken Formen mehr, als es sie verhüllte.

      „Du musst deinen Vater sehr geliebt haben, ich habe dich beten gehört“, sagte sie mitfühlend. Ihre Stimme klang so zart und wohlklingend, dass Senenmut sich wünschte, sie