Christine Jörg

Geh in die Wueste


Скачать книгу

      „Ich denke“, Ruth heulte beinahe, „dieser Illusion sollten wir uns nicht hingeben.“

      „Oder vielleicht doch“, berichtigte Fernando und küsste sie auf den Mund, „dann wird die Zeit kürzer.“

      „Aber auch die Enttäuschung, wenn es nicht klappt“, sagte Ruth nüchtern.

      Diese Art von Gesprächen hatten sie, bis zum Tag der Abreise des Öfteren. Ruth musste sich zwingen regelmäßig die Vorlesungen zu besuchen. Sie war mit ihren Gedanken stets weit weg.

      Ruth feierte am 8. Oktober ihren Geburtstag. Sie war überaus glücklich, denn sie konnte ihn mit Fernando feiern. Da ihr Schatz nur noch einen Monat in München verweilen würde, wollte Ruth nur mit ihm ganz allein sein. Sie kochte für Fernando und Gabi. Es gab Albóndigas, Hackfleischbällchen mit Minze gewürzt und Reis. Dazu gemischten Salat und als Nachtisch Obstsalat.

      Gabi nahm an dem Abendessen teil, verabschiedete sich dann jedoch sofort. Sie wusste, wie es um die Beiden stand und wollte die Zweisamkeit nicht unnötig stören.

      Die Tage bis zu Fernandos Abreise konnte man nun ohne große Schwierigkeit zählen.

      Er war inzwischen vom Wohnheim ganz zu Ruth gezogen. Nur zweimal die Woche ging er noch zur alten Adresse und holte seine Post ab. Briefe von seinen Eltern, wie er ihr erklärte. Er wollte ihnen für die kurze Zeit keine neue Adresse mehr geben, sagte er zur Begründung.

      Dann war die letzte gemeinsame Nacht angebrochen. Eine letzte Gelegenheit sich nochmals zu lieben, doch Beiden stand der Sinn nicht mehr nach Sex. Sie lagen nebeneinander im Bett und streichelten sich, doch Erregung wollte keine aufkommen. Eine große Traurigkeit legte sich auf die Liebenden.

      Ruth meinte: „Jetzt kann man sagen, morgen um diese Zeit bist du schon weit weg. Und ich liege alleine hier in dem Bett. Ich glaube, ich werde die Bettwäsche nie abziehen, damit ich wenigstens deinen Geruch in der Nase habe.“ Sie brach in Tränen aus. „Ich halte das nicht mehr aus, Fernando. Bitte bleib.“

      „Liebling“, auch Fernandos Stimme klang gebrochen, „ich kann nicht. Das weißt du. Aber du weißt auch, dass ich alles in Bewegung setzen werde, damit du nachkommst. Das habe ich dir versprochen.“

      „Ja“, Ruths Tränen kullerten aufs Kopfkissen und hinterließen einen nassen Fleck, doch es war ihr egal.

      Am nächsten Morgen sah Ruth schrecklich aus. Man konnte ihr ansehen, dass sie sich die Augen ausgeweint hatte. Auch Fernando vermittelte einen mitgenommenen Eindruck.

      Zum hundertsten Mal sagte Fernando zu Ruth: „Bitte komm nicht mit zum Flughafen. Oscar und Atilio bringen mich hin. Bleib hier. Es ist besser für uns beide.“

      „Ich möchte dich aber begleiten“, beharrte Ruth, der schon wieder die Tränen in den Augen standen. „Ich will bis zur letzten Sekunde an deiner Seite bleiben.“

      Fernando sah schließlich ein, dass er Ruth nicht davon abbringen konnte, ihn zu begleiten und gab nach.

      Zu viert fuhren sie zum Flughafen. Ruth und Fernando saßen hinten im Auto und hielten Händchen. Gespräch kam zwischen den Beiden keines auf, also sorgten Atilio und Oscar für eine lockere Unterhaltung um die Situation zu entspannen. Vergeblich!

      Am Flughafen kam Hektik auf. Fernando hatte zu viel Gepäck und wollte keinen Aufpreis bezahlen. Also öffnete er den Koffer nochmals und nahm ein paar Mitbringsel heraus. Er überließ sie Ruth, Oscar und Atilio. Vielleicht konnten sie die Sachen gebrauchen.

      Bis zur letzten Minute blieb Fernando bei seinen Begleitern, dann war der Augenblick des Abschieds unwiderruflich gekommen.

      Zuerst sagte Fernando seinen Freunden Adiós. Die verschwanden sofort in Richtung Ausgang. Nun wandte sich er Ruth zu.

      „Ich werde dir jeden Tag schreiben“, versprach er ihr und strich die Tränen von ihren Wangen. „Vergiss nicht, ich liebe dich.“

      Ruth konnte nicht viel sagen. Sie hatte die Augen voller Tränen und sah ihren Liebsten verschwommen vor sich stehen.

      „Ich liebe dich“, war alles, was sie gequält herausbrachte. Noch einmal küssten sie sich auf den Mund. Dann ging jeder in seine Richtung, ohne sich nochmals umzusehen.

      Wie in Trance erreichte Ruth Atilio und Oscar, die am Ausgang auf sie warteten. Sie bestiegen das Auto. Ruth saß wieder hinten. Diesmal alleine! Sie hatte keine Tränen mehr. Völlig ausdruckslos schaute sie aus dem Fenster und sah doch nichts. Sie fühlte sich leer, wie ausgehöhlt.

      Nun war sie also alleine. Wie sollte sie die Zeit ohne Fernando nur durchstehen? Sie wusste es nicht. Im Augenblick wollte sie es auch nicht wissen. Sie war viel zu einsam.

      Zu Hause angekommen, war sie alleine. Gabi hielt sich an der Uni auf. Ruth warf sich, so wie sie war, mit Kleidung und Schuhen auf ihr Bett und schluchzte haltlos.

      Zweieinhalb Jahre würde es dauern, bis sie Fernando wiedersah. So lange gab es nur Briefe.

      Später setzte sie sich hin und schrieb den ersten Brief für Fernando. Das würde während der nächsten Monate ihre Hauptbeschäftigung sein. Die Briefe an Fernando! Mehr war ihr für den Augenblick nicht geblieben.

      3

       Der Zug fährt am Bahnhof in Sonthofen ein. Zusammen mit den anderen Reisenden steigt Ruth ein und versucht einen Sitzplatz zu ergattern. Erfolglos! Also bleibt ihr nichts anderes übrig, als die Reisetasche im Gang vor sich abzustellen und sich am Haltegriff eines Sitzes festzuhalten.

       Vor ihr, auf vier Plätzen sitzen fünf pubertierende Jugendliche und schäkern miteinander. Ruth lächelt amüsiert. Es ist doch immer dasselbe mit den jungen Menschen.

       Die Bremsgeräusche des Zugs holen Ruth wieder in die Wirklichkeit zurück. Immenstadt. Sie hat den Halt am Bahnhof Blaichach gar nicht bemerkt.

       Hastig schnappt sie ihre Tasche und folgt den anderen Reisenden zur Türe. Es ist ein schreckliches Gedränge und Geschiebe. Beim ersten Mal versteht sie die Ansage aus dem Lautsprecher nicht richtig, doch schon sieht sie den Anschlusszug auf dem gegenüberliegenden Gleis stehen.

       Sie steigt ein und sucht sich einen freien Platz. Schließlich wird sie in diesem Zug bis München Hauptbahnhof sitzen bleiben. Die meisten Fahrgäste bleiben in Immenstadt und verlassen deshalb hier den Bahnhof. Im Zug nach München geht es zum Glück ruhiger zu.

       So lange der Zug im Bahnhof stehen bleibt, schaut Ruth interessiert hinaus. Ist das nicht der Kollege Schneider? Hoffentlich steigt er nicht in diesen Wagen ein. Sie hat absolut keine Lust sich mit ihm zu unterhalten. Nein, er geht am Zug entlang und steigt weiter vorne ein. Umso besser! Das hätte ihr gerade noch gefehlt! Sicherlich hätte er sie ausgefragt oder ihr ein Gespräch aufgedrängt. Und sie hat niemandem, außer Anne von ihrer Reise in die Vergangenheit erzählt. Und die hält dicht! Es geht schließlich niemanden etwas an. Ein bisschen Privatsphäre braucht der Mensch ab und zu.

       Der Zug fährt an. Vorbei geht es an der Hauptschule, später am Krankenhaus Immenstadt. Dann kommt Stein.

      *

      Ruth schrieb Fernando jede Woche einen Brief. Das hatten sie sich beim Abschied versprochen.

      Als sie den ersten Brief zur Post trug, war es für sie als würde sie einen Teil ihrer selbst mitschicken. Sie hatte versucht, Fernando so viel wie nur möglich zu erzählen und zu beschreiben was vorgefallen war. Aber sie wollte ihm natürlich in erster Linie ihre Gefühle übermitteln. Die Einsamkeit, die sie seit seiner Abreise empfand. Dies alles sollte, ja musste, Fernando erfahren. Schließlich liebten sie sich und Gefühle gehörten dazu. Ruth war sich sicher, Fernando verstand sie. Durch die Liebe, die sie verband, mussten sie sich einfach verstehen. Es ging gar nicht anders.

      Fernandos erster Brief traf erst drei Wochen später bei ihr ein. Sie war enttäuscht, vollkommen beunruhigt und verunsichert. Würde er sich überhaupt