die Ville Close. Bis auf die leeren Regalböden schien das Zimmer fertig eingerichtet zu sein. Zum Auspacken der Bücher war de Rochefort wohl noch nicht gekommen. Paul ging in die Küche und sah sich dort um, während Ewen das Wohnzimmer einer genaueren Inspizierung unterzog.
Das Notizheft neben dem Telefon erregte seine Aufmerksamkeit. Er schlug die erste Seite auf und sah, dass Alain de Rochefort seine ganzen Kontakte hier alphabetisch eingetragen hatte. Noch jemand, der lieber mit dem Bleistift umging als sich auf die Elektronik zu verlassen. Für Ewen war ein Smartphone eine Arbeitserschwernis und keine Erleichterung. Es dauerte ihm viel zu lange, wenn er in einem Handy anfangen musste, nach einer dort abgespeicherten Adresse zu suchen. Ihm war schon bewusst, dass es an ihm lag, an seinem Verhältnis zu den neuen Kommunikationsmitteln und an seiner Abneigung der Elektronik gegenüber. Wenn die Batterie sich ihrem Ende zuneigte, war man aufgeschmissen. Das gute alte Notizheft funktionierte immer und brauchte keinen Strom. Er stand mit dieser Auffassung ziemlich alleine im Kommissariat. Auch für Paul gab es nur noch diese multifunktionalen Apparate, die anscheinend alles konnten. Als er vor einigen Monaten mit Paul unterwegs gewesen war, hatte der zu seinem Telefon gegriffen, um die Rollläden in seiner Wohnung zu schließen, weil sich ein Sturm angebahnt hatte. Ewen wollte zuerst nicht glauben, dass das möglich sein sollte. Paul versicherte ihm aber, dass er keine Witze mache, er könnte mit dem Handy seine Rollläden schließen und wieder öffnen.
Als sie dann später in einem Restaurant saßen, einen Cidre tranken und sich ihre Crêpes schmecken ließen fragte Ewen Paul, ob es wohl möglich wäre, mit dem Handy auch die Flasche zu öffnen. Der Wirt hatte vergessen den Korken zu entfernen. Paul sah ihn verstört an, es dauerte einige Sekunden bis er merkte, dass Ewen ihn auf den Arm nahm.
Ewen blätterte langsam die einzelnen Seiten durch. Er las die Namen und betrachtete die Telefonnummern. Alles schien völlig normal zu sein. Kein Eintrag erregte seine Aufmerksamkeit, wenn man davon absah, wessen Adressen hier zu finden waren. Für Ewen stand fest, dass so mancher bereit gewesen wäre, für dieses Notizbuch Geld zu bezahlen. Es enthielt die privaten Anschlüsse des Präsidenten, die Telefonnummern von allen Ministern und Staatssekretären und von zahlreichen gut situierten Personen aus der Wirtschaft. Darüber hinaus befanden sich die Verbindungsdaten der wichtigsten Abgeordneten aus den Reihen der PS in dem Heft.
Ewen nahm das Heft an sich, es könnte vielleicht noch an Bedeutung gewinnen. Dann suchte er nach weiteren brauchbaren Spuren.
Auf dem kleinen Sekretär neben dem Fenster lag ein weißes Blatt Papier, das wohl als Unterlage gedient hatte, denn es waren darauf durchgedrückte Buchstaben zu erkennen. Ewen sah sich nach einem Bleistift um. Im Sekretär fand er einen kleinen Zinnbecher, der verschiedene Schreibutensilien enthielt. Neben Kugelschreibern, einem Füllfederhalter und einem Drehbleistift entdeckte er auch einen einfachen Bleistift. Er nahm den Bleistift und strich mit der flachen Seite der Spitze über die eingedrückten Stellen. Langsam wurde das Geschriebene sichtbar.
MD, jf
12 MJ M
14 PG
14 SB
12 CR
Es war die Liste, die sie auf dem kleinen Notizzettel gefunden hatten.
Damit stand fest, dass Alain de Rochefort an diesem Schreibtisch gesessen hatte, als er die Buchstaben und Ziffern notiert hatte. Es konnte nicht so lange her sein, dass er den Zettel geschrieben hatte. Die Eindrücke waren noch nicht überschrieben worden. Seine erste Annahme, dass die Notiz auch schon älter sein konnte, war jetzt widerlegt.
Ewen suchte weiter in den Unterlagen des kleinen Sekretärs. Es handelte es sich beinahe ausschließlich um Unterlagen für die nächste Wahl. Er fand Kopien von diversen Anschreiben an die Sozialistische Partei in Paris, an einen Rechtsanwalt, Jacques Lamball und an einige regionale Parteivorsitzende der PS. In dem Schreiben an den Rechtsanwalt stand lediglich, dass er ihm einige Unterlagen in Kopie zusenden werde. Leider fehlte der Hinweis auf die beigefügten Anlagen.
Der Anwalt hatte seine Kanzlei in Quimper. Ewen beschloss, ihn baldmöglichst aufzusuchen. Vielleicht konnte er von dem Mann erfahren, warum de Rochefort hier ins Finistère gekommen war. Ein Mann, der früher wohl kaum die Hauptstadt freiwillig verlassen hätte. Wenn man etwas erreichen wollte in der Politik, dann blieb man in der Nähe der Macht, außer man hatte einen entsprechenden Posten in einer der anderen großen Städte des Landes inne. Bürgermeister von Bordeaux, Lyon oder Nantes zum Beispiel.
Ewen sah sich weiter um. Er zog die linke Schublade des Sekretärs auf und sah sich den Inhalt dort an. Allerlei Visitenkarten und diverse Ansichtskarten lagen verstreut darin. Er öffnete die rechte Schublade. Sein Blick wurde sofort von einem schmalen, schwarzen Terminkalender angezogen. Ein Terminkalender in der Schublade? Den trägt man doch normalerweise bei sich. Ewen nahm den in Leder gebundenen Terminkalender heraus und schlug ihn auf.
„Interessant, sehr interessant“, sagte er laut zu sich selbst.
„Was ist so interessant?“, fragte Paul, der gerade ins Wohnzimmer getreten war.
„Ich habe seinen Terminkalender gefunden. Nur, warum hat er ihn nicht bei sich getragen? Ich habe meinen immer zur Hand und trage ihn in der Innentasche meines Jacketts.“
„Vielleicht hat er ihn schlichtweg vergessen. Du vergisst doch deinen Kalender auch schon mal.“
„Hmmm, stimmt. Auf jeden Fall sind hier drei Termine für den vergangenen Samstag eingetragen. Bei dem zweiten steht das Wort essen vor dem Namen. Das müsste dann der Mann sein, der auf dem Foto zu sehen gewesen ist, dass wir von den beiden Amerikanern erhalten haben. Hier steht der Name Yves Taridec. Davor hat er sich noch mit einem Emile Hervy getroffen. Um 17 Uhr wollte er dann mit einem gewissen Ronan Creac´h sprechen. Wir müssen versuchen herauszufinden, wer diese Leute sind. Vielleicht finde ich ihre Telefonnummern in seinem Notizbuch. Auch das habe ich vorhin gefunden. Hast du etwas Besonderes entdeckt?“
„Ja, ich denke schon. In seinem Schlafzimmer habe ich sein Notebook gefunden. Das Notebook hat einen Passwortschutz und so habe ich mir den Inhalt nicht ansehen können. Wir müssen es von Robert Gallic untersuchen lassen. Dann habe ich vier Fotos gefunden, die alle auf einem Spielplatz aufgenommen worden sind. Sieh sie dir an.“
Paul reichte Ewen die Aufnahmen. Der sah sie sich genau an.
„Ich sehe nur die Kinder, die hier im Sand und auf der Schaukel spielen. Auf den Bänken sitzen die Mütter und sehen ihren Kindern zu.“
„Genau, das habe ich zuerst auch gesehen. Aber sieh mal, hier in dem Auto hinter dem Zaun sitzt doch ein Mann. Sein Blick geht eindeutig in Richtung des Spielplatzes.“
„Vielleicht bekommen wir mehr zu sehen, wenn wir das Bild vergrößern lassen. Das Kennzeichen kann man so jedenfalls nicht erkennen.“
„Denkst du das, was ich denke?“ Paul sah Ewen an.
„Du meinst, dass es sich hier um Pädophilie handeln könnte? Wir sollten nicht so vorschnell mit unseren Schlüssen sein, aber es wäre möglich.“
„Wer wäre dann der Pädophile? Der Tote de Rochefort oder jemand, den er als solchen beschuldigt hat oder dabeigewesen ist zu beschuldigen?“
„Das herauszufinden ist Teil unserer Ermittlungen, Paul, lass uns sofort an die Arbeit gehen. Wir geben die Bilder Dustin, der soll sie uns vergrößern. Er muss sich auch noch hier im Haus umsehen.“
Ewen und Paul verließen die Wohnung von Alain de Rochefort. Sie verschlossen und versiegelten sie.
Gerade als sie zu ihrem Wagen gehen wollten, sahen sie eine Frau auf die Haustür zugehen. Ihre Hand war bereits auf dem Klingelknopf, als sie das Polizeisiegel erkannte. Sie zögerte und überlegte was sie jetzt tun sollte. Ewen sah, wie sie ihre Hand zurückzog und sich langsam umdrehte. Sie schien zu zögern, dann griff sie in ihre Handtasche, entnahm ihr einen großen Umschlag und steckte ihn in den Briefkasten. Sie drehte sich um und wollte den Platz überqueren.
Ewen, der die Frau die ganze Zeit über beobachtet hatte, ging