West-Berlin war es auch nicht anders. „Im Berufsverkehr ist kaum noch ein Durchkommen auf den Straßen. Aus dem Grunewald brauche ich jetzt am Morgen ewig lange bis ich zum Betrieb in die Stadt komme“, berichtete Helmut.
Auch Susanne machte das zu schaffen, besonders jetzt, weil sie alles zum Umzug fertig machen musste. „Zu meinen Geschäften brauche ich mich ja nicht mehr durch den Verkehr zu kämpfen“, sagte sie bitter. Die waren nun endgültig verkauft.
Mit den Mädchen hatte sie auch ihren Kummer. Christine, die Große, meuterte, sie wollte nicht in so ein Kaff ziehen und von ihrem ersten Freund getrennt werden. Daniela tat sich wie immer schwer mit Veränderungen und war von Angst vor allem Neuen beherrscht. So war es bereits gewesen, als sie in den Kindergarten und später zu einer fremden Frau in eine zeitweise Pflegestelle musste. An Susanne festgekrallt hatte sie sich geweigert, dort zu bleiben. Nur bei Margot hatte sie nie Schwierigkeiten gemacht, die schien sie mitunter sogar mehr zu akzeptieren als ihre eigene Mutter. Jetzt aber sollte sie noch ihre einzige Freundin zurücklassen. Dabei war sie sich sicher, so eine Freundin nie wieder finden zu können. Also ging sie Susanne klagend und jammernd auf die Nerven. Nur die kleine Petra war zufrieden. Sie, die gebockt und getobt hatte, als sie mit ihren drei Jahren nur begriff, dass ihr geliebter Vati allein nach Harzerode ziehen könnte, sie war wohl die Einzige, die sich auf diesen Umzug freute, weil sie damit auch in die Nähe von Julchen kam, in die sie vernarrt war.
Am liebsten hätte ich Susanne in den Arm genommen, wenn sie mir von all ihren Sorgen erzählte. Der Termin ihres Umzuges kam näher, und sie wussten noch nicht, wo sie in Harzerode wohnen würden. Schließlich kam ein Hilferuf von ihr.
„Jetzt wird es eng für uns“, berichtete sie. „Die Nachmieter drängen uns, zum abgemachten Termin auszuziehen. In Harzerode aber haben sie noch immer nicht entschieden, welches Haus sie für uns mieten wollen. Sie sagen, sie hätten drei Häuser in Aussicht, und es wäre gut, wenn wir selbst die Entscheidung treffen könnten, weil zwei davon eigentlich verkauft werden sollten und nur vorübergehend ein Mietverhältnis möglich wäre. Mit der Umzugsfirma haben wir bereits gesprochen. Unsere Sachen können bei ihnen auf dem Speicher bleiben, bis wir sie abrufen. Wo aber bleiben wir? So dachten wir, wenn du vielleicht ... aber das ist nur eine Frage ... denke nicht, dass wir das von dir erwarten ... Doch schön wäre es, wenn wir vorerst bei dir bleiben könnten, wo du doch so in der Nähe wohnst.“
Zunächst war ich sprachlos. Damit hatte ich nicht gerechnet.
„Du kannst mir ehrlich sagen, wenn dir das zu viel wird“, beeilte Susanne sich, mir zu versichern. Doch es klang beklommen.
Da kam ich zu mir. Natürlich, das war keine Frage. Nie würde ich Susanne abweisen. „Nein, nein! Das wird gehen“, beeilte ich mich zu versichern. „Ich überlegte nur einen Moment, wie ich euch fünf hier unterbringen kann.“
Ich glaubte, den befreiten Atemzug zu hören, als ihr ein Stein vom Herzen fiel, und sie sofort erklärte: „Mach dir um Betten keine Sorgen. Wenn du uns nur zwei Zimmer zur Verfügung stellen kannst. Wir haben bereits alles so geregelt, dass ein Kleintransporter die wichtigsten Sachen von uns zu dir bringt. Dabei sind auch Matratzen für die Kinder. Für uns, dachte ich, geht vielleicht die alte Doppelbettcouch von Euch, die du noch immer hast.“
Verblüfft schwieg ich einen Moment. Dann musste ich lachen. „Ihr habt also schon alles überlegt und geregelt. Dann war das wohl nur noch eine Frage pro forma?“
Da lachte auch Susanne befreit. „Ich konnte mir tatsächlich nicht vorstellen, dass du es uns abschlagen würdest.“
Erst eine Weile nach diesem Telefongespräch fragte ich mich: Und wo bleibe ich in dieser Zeit? So groß war mein Haus ja nicht. Im Erdgeschoss war neben einem kleinen Duschbad die geräumige Küche, in der es sogar eine Essecke gab. Dann waren da noch das Wohnzimmer mit den großen Glastüren und der Terrasse davor sowie daneben, durch breite Schiebetüren miteinander verbunden, ein geräumiges Zimmer mit Blick zum Garten. Früher, als Konrad noch lebte, hatten wir darin unser Schlafzimmer, damit er nicht jeden Tag die Treppen nach oben laufen musste. Nach seinem Tod hatte ich aus diesem Zimmer mein Arbeitszimmer gemacht. Hier stand jetzt mein Schreibtisch, hier saß ich und ließ meiner Fantasie freien Lauf, wenn ich meine Geschichten schrieb. Hier hatte ich auch Platz für einen Computer gefunden. Mein Schlafzimmer war längst wieder oben, wo es noch zwei Zimmer, eine Kammer und ein Bad gab.
Ich könnte mein Bett in mein Arbeitszimmer herunterholen und ihnen die beiden Räume oben überlassen, so überlegte ich. Unsere alte Doppelbettcouch stand ohnehin in einem der oberen Zimmer. Eigentlich hätten wir sie längst nicht mehr gebraucht. Doch trennen hatten wir uns von ihr auch nicht können. Mehrmals neu aufgepolstert wurde sie sogar. Sie war die erste mühsam ersparte Anschaffung in unserer Ehe gewesen, als wir noch zur Untermiete in einem Zimmer bei der Witwe Willinger wohnten, ein besonderes Erinnerungsstück eben. Nun war es gut, dass es sie noch gab. Doch damit war es nicht getan. Ich musste auch Platz für ihre Sachen schaffen. Das hieß, meine persönlichen Dinge mussten aus den Zimmern raus und in die Kammer, die sonst nie richtig genutzt wurde. Mit Julchen würde es keine Schwierigkeiten geben, sie war stets zufrieden, wenn sich ihr Körbchen in meiner Nähe befand. Nachts stand es an meinem Bett und am Tage meistens neben meinem Schreibtisch. Ja, so würde es gehen. dann hätten sie oben die Etage für sich und ich könnte hier unten vielleicht weiterhin ungestört arbeiten. So hoffte ich!
Traudel, der ich gleich davon erzählte, sagte: „Typisch Susanne! Hätte mich gewundert, wenn dieser Umzug ordentlich über die Bühne gegangen wäre. Manchmal frage ich mich, wie sie es überhaupt geschafft hat, mit ihren Geschäften so erfolgreich zu sein, wenn sie alles so gerne bis zuletzt aufschiebt.“
„Nun sei nicht ungerecht. Robert hat sich wohl auch nicht ausreichend um den Ablauf des Umzugs gekümmert“, verteidigte ich Susanne.
Margot war überrascht als sie erfuhr, dass sie bei mir vorübergehend einziehen werden. „Ich dachte, das mit dem Haus in Harzerode sei längst klar. Lieb von dir, dass du helfend einspringst. Doch mach dich auf Einiges gefasst. Bei der quirligen Familie wirst du dich nach deiner gewohnten Ruhe sehnen“, warnte sie.
Na, dachte ich, mal sehen, was da auf mich zukommt! Damals, in Berlin, hatten wir einen engen Kontakt zu Susanne gehabt. Doch inzwischen waren Jahre vergangen und seit wir aus Berlin weg waren, fanden Begegnungen fast nur noch bei Traudel in Hannover statt. Aber Bange wollte ich mir nicht machen lassen. Ich freute mich auf die junge Familie.
Gleich, als das nächste Mal meine Putzfrau zu mir kam, begannen wir mit dem Umräumen. Als Erstes nahm ich auch meinen Schaukelstuhl aus dem Wohnzimmer und stellte ihn ans Fenster neben meinen Schreibtisch im Nebenraum. Das war ein guter Platz. Hier sollte mein Hort sein, in den ich mich zurückziehen konnte, wenn es mir unter meinem Dach zu lebhaft zuging. Auch dieser Schaukelstuhl war ein altes Erinnerungsstück. Er hatte Konrads Mutter gehört. Wie oft schon hatte ich mich gerade in diesen Schaukelstuhl zurückgezogen, wenn mich Kummer oder Enttäuschung quälten. Ich strich mit der Hand über sein schnörkeliges Rohrgeflecht und lächelte, denn auch glückliche Träume hatte ich darin geträumt. Jetzt also würde er wieder zu einer Zuflucht für mich werden. Und Margot meinte ja, Trubel würde es geben.
*
Dann war der Tag gekommen, an dem sie bei mir einziehen sollten. Unruhig ging ich oben noch einmal durch die Zimmer, Schränke und Fächer waren leer, Platz für ihre Sachen gemacht. Mit Hilfe der Putzfrau und ihres Sohnes hatte ich in die Kammer und auf den Dachboden gebracht, wovon ich meinte, dass es im Wege sein könnte. Julchen folgte mir auf Schritt und Tritt. Irgendwie war sie ratlos, wusste nicht, was die Unruhe bedeuten könnte. Als ich mich zum hundertsten Mal davon überzeugt hatte, dass alles vorbereitet war, fiel ich endlich in meinen Schaukelstuhl in meinem Zimmer und Julchen sprang sofort auf meinen Schoß. Ich sah mich auch hier noch einmal um. So ungemütlich, wie ich erst befürchtet hatte, war es nicht geworden. Der Schreibtisch musste nicht einmal verrückt werden, und trotzdem hatte ich einen Sitzplatz am Fenster. Das Zimmer war auch groß genug, so dass mein Bett gleich neben der Tür an der Wand nicht riesig wirkte. Der alte Aktenschrank allerdings, war wieder ein Garderobenschrank geworden, was er früher einmal gewesen war. Dafür stapelten sich die Akten daneben auf einem Regal. So würde es also für einige Zeit gehen.