Jörgen Dingler

Oskar trifft die Todesgöttin


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rückte in seinem Sitz nach links und beugte sich etwas vor, sodass er den rechten Außenspiegel einsehen konnte. Das tat er so unauffällig wie möglich, als ob die Schaukelei des Wagens daran schuld war. Im Rückspiegel sah er einen Jean-Pierre, der sichtlich Mühe hatte, an ihnen dranzubleiben. Christine schaffte es, mit einem Straßensportwagen auf unwegsamen Pisten einen getunten Geländeboliden abzuhängen. Und sie bekam Oskars dezente Aktion auch dieses Mal mit, obwohl sie auf die Straße sah. Oskar linste aus Augenwinkeln zu ihr: Sie hantierte souverän wie ein Rallyefahrer, sah durch ihre große Sonnenbrille auf die staubige Piste vor sich und schmunzelte breit und frech. Es sah ganz danach aus, als ob Fräulein Vaarenkroog mit sich zufrieden war.

      »Ich liiieeebe Allradantrieb!«, rief sie begeistert aus und trat ebenso begeistert aufs Gas, sodass der Wagen kontrolliert driftete und über den Schotter dahinschoss. Stimmt, sie war mit sich und ihrem Lamborghini V10 hochzufrieden.

      Die Bäume lichteten sich, auf einmal war das Meer wieder zu sehen. Und davor eine große Mauer. Als hätte man die Schnapsidee besessen, der Berliner Mauer ein Comeback in den Cinque Terre zu ermöglichen. Wo man hinsah, nur Mauer. In der Tat: In echt wirkt alles immer viel größer. Oder schöner, wie zum Beispiel Christine. Diese hatte ihre Fahrt verlangsamt und hielt auf ein großes Metalltor zu. Beide Flügel öffneten sich nach innen. Oskar hätte bemerkt, falls Christine einen Knopf gedrückt hätte. Zudem näherte sie sich der Einfahrt mit schlafwandlerischer Sicherheit und gleichbleibender, mäßiger Geschwindigkeit. Auch davon würde man absehen, falls ein Wachmann – der just in diesem Moment mal abgelenkt sein könnte – die Tore per Kameraüberwachung und Knopfdruck zu öffnen hätte. Er tippte darauf, dass ihre Fahrzeuge – wie der Lamborghini und der Touareg – funkcodiert waren, also selbsttätig von der Sicherheitsanlage erkannt wurden. Niemand aus Fleisch und Blut musste für das Öffnen des Tores verantwortlich zeichnen – Hitech, vollautomatisch.

      Die Mauern um die Firmenzentrale gemahnten erst recht vom Boden aus an ein Gefängnis. Hohe helle Betonmauern mit Stacheldrahtkronen und Überwachungskameras. Auf der rechten Seite der Toreinfahrt bildeten große schwarze Lettern dieselben Schriftzüge wie auf dem Label der Lederjacke von Martina, der Zürcher Dessousladenbesitzerin. Die Erhabenheit der Lettern sprach dafür, dass auf der Rückseite montierte Strahler die Wand nächstens beleuchteten. Die dunklen Schriftzüge würden vor der hell erleuchteten Wand stehen und so perfekt die weißen Etiketten mit schwarzer Schrift nachbilden. Diesen Effekt konnte er nur mutmaßen, da es – wie im Sommer üblich – um sieben Uhr abends noch taghell war.

      »Die Cinque Terre sind übrigens ein Nationalpark«, platzte Christine in seine Überlegungen.

      »Echt?«, tat Oskar überrascht – eine ihm bekannte Information. Natürlich hatte er sich im Zuge der Arbeitsvorbereitung über ihre ‚Hauptwohnsitze‘ schlau gemacht.

      »Ja. Meine Firma liegt schon knapp drin. Eigentlich ist es schon lange nicht mehr erlaubt, hier noch was Neues hinzubauen.«

      »Und wie hast du es geschafft?«

      »Sondergenehmigung.« Sie schmunzelte verwegen.

      Oskar wollte es nicht näher wissen. Vorerst. Der Gedanke, dass sie zu diesem Zweck möglicherweise einen ‚Entscheider‘ beschlafen oder dem einen geblasen hatte, behagte ihm nicht. Ihm behagte es allerdings auch nicht, Christine so einzuschätzen. Oder es ihr zumindest zuzutrauen. Am wenigsten behagte ihm, dass ihm das alles andere als egal war.

      »Ich hoffe, du musstest keine mafiösen Beziehungen nutzen«, sprach er bierernst eine andere Vermutung aus. Eine Vermutung, die ihm genauso unlieb wie die erste war. Seit einigen Jahren expandierte die Mafia ins nicht so mafiaverseuchte Norditalien und vergrößerte hier ihren Einfluss.

      Christine sah ihn durch ihre große Sonnenbrille scharf, fast strafend an. Er merkte es, obwohl er ihre Augen nicht sehen konnte. Die schmalen Lippen sagten genug. Oskar riss es in seinem Sitz, nicht nur wegen ihres Blickes. Bevor sie die Mauer touchieren konnten, riss sie ihren Kopf nach vorn und das Auto wieder auf Spur. Hasste sie die Mafia so wie er es tat? Auf jeden Fall deutete er ihre Reaktion als klares Nein. Sie durchquerten die Einfahrt.

      Das Innere des Anwesens wirkte so gar nicht nach Gefängnis: viel Grün, schöne parkähnliche Anlage. Es hatte etwas von einem Country-Club in einem Schwellenland. Auch hier schienen sich die Reichen hinter hochgesicherten Mauern vom überwiegenden Teil der Bevölkerung abzuschotten. Insofern war es doch eine Art Luxusgefängnis – aber eins, das mehr wie eine Bilderbuchferienanlage als eine Produktionsstätte wirkte.

      Sie passierten den Swimmingpool, der die Ausmaße eines besseren Hotelpools besaß, fuhren an einem kleinen Pavillon vorbei, bis sie zu den wichtigsten Gebäuden vorfuhren, darunter auch das Hauptgebäude: Haupteingang gleich Hauptgebäude, klar. Alle Parkplätze waren leer. Fast alle. Christine parkte sich etwas abseits des Hauptgebäudes ein, unweit eines schwarzen SUVs, der vor einem separaten Bungalow stand. Dieser vermutlich zweite Dienstwagen besaß eine gewisse Ähnlichkeit zum Touareg, den Jean-Pierre bewegte, und wirkte dennoch höchst unterschiedlich. Es war das einzige andere Auto auf dem Gelände.

      »Sind alle schon im Wochenende«, bestätigte Christine die Vermutung ihres Beifahrers. Es war schließlich Freitag abend. »Manchmal wird bei uns noch spätabends gearbeitet. Aber nur, wenn sich‘s nicht vermeiden lässt. Ich will, dass die Leute ihre Freizeit haben. Erst recht in den Cinque Terre und erst recht im Sommer.« Sie sah ihn an und bestätigte eine weitere Vermutung. Die, dass auch in der Modebranche kein ‚Dienst nach Vorschrift‘ geschoben, sondern über normale Bürozeiten hinaus gearbeitet wird. Wie sie als Chefin damit umging, lieferte sie als Erklärung gleich nach. Sie achtete darauf, dass ihre Leute trotz der hippen wie taffen Modebranche genug Freizeit hatten. Oskar fand das cool, so cool wie sie.

      »Voilà, mein Allerheiligstes!« Sie zog eine alberne Schnute mit Hasenzähnen, schob ihre Sonnenbrille auf die Nasenspitze und setzte einen clownesken Schieler auf – das unwiderstehliche Spaßvögelchen. Oskar grinste und ließ dann seine Blicke über das Anwesen schweifen.

      »Cool«, war sein knappes Statement.

      »Och, das war doch noch gaaar nix, mein Schatz«, sprach sie so albern wie ihre Mimik aus. Der Gedanke, dass sie sicherlich noch mehr Erstaunliches zu bieten hatte, ließ ihn nachdenklich schmunzeln.

      Jean-Pierre konnte in der Tat an ihnen dranbleiben, obwohl Christine einen ziemlich heißen Reifen fuhr. Sie fuhr schnell, aber stressfrei, war eher das Gegenteil einer hektischen Raserin, bei der man sich als Beifahrer unwohl fühlte. Trotz des Christine-artig flotten Tempos empfand Oskar die Fahrt mit dem Straßenrenner als entspannend. Das ein oder andere Mal war er unterwegs eingenickt, und die flotte Fahrerin hatte dann schmunzelnd zu ihm geblickt.

      Als Christine und Oskar ausgestiegen waren, schwebte der Touareg ein. Jean-Pierre stieg aus. Er hatte während der Fahrt sein Jackett ausgezogen und lehnte seine muskulösen Arme lässig auf dem Türrahmen des hohen SUVs.

      »Jetzt hab ich doch noch ein paar Meter auf euch verloren, Oskar. Und das auch noch im Gelände«, witzelte er.

      »Tja, ist halt nicht leicht an Christine dranzubleiben«, witzelte Oskar zurück und hoffte, nicht zu zweideutig gewesen zu sein.

      »Wenn du wüsstest, wie recht du hast«, orakelte Jean-Pierre, sodass Christine die Augenbrauen hob. Auch das eine typische Christine-Mimik. Oskar kannte mittlerweile einiges davon und konnte es auch zuordnen. Dieses war die Kombination hochgezogene-Augenbrauen-mit-schmalen-geraden-Lippen – nicht optimal für den Empfänger, quasi die mimische Vorstufe zur gelben Karte.

      »Oskar schafft es sicher, an mir dranzubleiben«, bemerkte sie salopp und doch irgendwie ernst.

      »Das befürch…« Jean-Pierre hielt inne, als Christine ihren Zeigefinger hob. Er reagierte ebenso schnell, wie Christine ihren Zeigefinger hob. Da war sie, die gelbe Karte. Die niedliche, geradezu zuckersüße Frau hatte eine scheints naturgegebene Autorität. Durch und durch die geborene Chefin. Wenn jemand sogar Kali kuschen lassen konnte, dann sie. Unschwer zu erraten, dass Jean-Pierres Satz in seiner Vollständigkeit wohl so lauten sollte: ‚Das befürchte ich auch.‘ Oskar überließ es den beiden, Augenblitze auszutauschen. Dass Christines Vertrauter und Bewacher nicht begeistert von ihrem neuem