Martin Winterle

Brief an Marianne


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Preis. Die längsten Aufenthalte nahmen Schuhgeschäfte in Anspruch. Eva war voll in ihrem Element, geriet vor dem Schaufenster halb in Ekstase. Bis zur Hafenrundfahrt war sie um zwei Paar, hochhackige Männerhälseverdreher reicher. Marianne organisierte vorsichtshalber, zwischenzeitlich zwei leckere Räucherlachsbrote, ebenso viele Dosen Cola. Notfalls konnten sie diese Touristenmahlzeit auch auf dem Schiff verspeisen, was sie dann auch taten.

      Der Michel, von außen und von innen, war sich zeitlich gerade noch im Eiltempo ausgegangen. Pünktlicher als sie zwei, konnte kein Mensch, im Laufschritt, zum Ablegen antanzen. Setzten gerade ihre Füße auf das Schiff, als nach ihnen, die Gangway auch schon eingezogen wurde. Bis die Fahrkarten gelöst, das Oberdeck erklommen, zwei aussichtsreiche Sitzplätze angesteuert waren, fuhr das Schiff bereits. Die Begrüßung via Lautsprecher begann gerade. Wäre das bunte Durcheinander von Booten aller Art auf dem Wasser, schon spannend und abwechslungsreich zu beobachten gewesen, die Highlights rundherum waren noch beeindruckender. Schipperten an der historischen Speicherstadt, der sündhaft teuren Elbphilharmonie, dem gigantischen Containerhafen vorbei. Bekamen die Alsterschleuse erläutert, fühlten sich neben mondänen Kreuzfahrtschiffen aus aller Welt, wie Ameisen auf einem Treibholz. Besonders sehenswert für beide, Hamburgs´ Skyline vom Wasser aus.

      Zwei Stunden entspanntes schaukeln und staunen. Von Seemannsliedern unterbrochenen Informationen zu lauschen. Gleichmäßig langsam vorüberziehende Bilder, eine Wohltat für ihre brennenden Füße. Die Luft schmeckte für Marianne nicht nach Teer und Abgas, sondern nach Salz und Freiheit.

      Beide hatten eine richtig gesunde Farbe im Gesicht bekommen. Dafür verantwortlich eine Mischung von strahlender Sonne am wolkenlosen Himmel und eine stetige Prise Seeluft…

      Zu ihrem Leidwesen waren beide ziemlich streichfähig, echt voll super! Hätte ihnen jemand, zwei weiche Betten angeboten, vor dem nächsten Morgen, wäre keine wieder wach geworden. Ihr Boot hatte angelegt, die Passagiere strömten dem Abgang zu.

      Eva schielte sie an, diese ebenso geistreich zurück.

      Mein Gott, der Höhepunkt des heutigen Tages wartete noch auf sie. Löwenkönige konnte man nicht warten lassen, es waren immerhin Majestäten. Marianne drückte ihr Kreuz durch, Eva verlängerte ihre, ohnehin bis zum Boden reichenden Mannequinbeine, um noch ein paar zusätzliche Zentimeter – WOW! Das konnte heiter werden, wenn ihnen da nicht pronto etwas voll Wirkungsvolles, gegen ihre bleierne Müdigkeit einfiel.

      Beinahe 17 Uhr zeigte Evas Handydisplay. Um 20 Uhr mussten sie im Stage Theater ihre Plätze eingenommen haben. Viel Zeit bleibt nicht, aber es könnte reichen. Marianne winkte einem Taxi, die kurze Fahrt, ein willkommener Zeitgewinn.

      Sie hatte ihre Schuhe ausgezogen, sich wie ein Brett auf ihr Bett fallen lassen, war kurz darauf im Traumland untergetaucht. Eva hatte das Bad erobert, ging unter der Dusche überhaupt nicht mehr heraus, wechselte jede Minute die Temperatur. Einen Happen essen sollten sie auch noch irgendwo, das wird knapp hergehen. Sie hatten sich einfach ein zu umfangreiches Programm gesteckt. Die halbe Stunde war besser als nichts gewesen, Marianne streckte sich nach allen Seiten, schlug die Augen auf, gähnte, sich aufrichtend, einmal herzhaft:

      >Wenn du im Bad fertig bist, werde ich mich kultivieren. <

      >Guter Gedanke, ich fühl mich wieder fit wie Turnschuh. <

      Entgegnete Eva, ohne den Blick von ihren Krallen zu erheben, die sie gerade nachdesignte.

      Glitzer für den König der Löwen, ja fast Pflicht. Als abendliches Outfit hatten beide Schwarz, zur passenden Einheitsfarbe erkoren, Sportschuhe, dazu bunte Umhängebeutel aus Evas Fundus.

      Wenn nun noch der kleine Italiener, nicht nur in Evas Handymemo, sondern echt am Wege zum Theater liegen würde, ihnen eine leckere Pasta oder pikante Lasagne offerieren täte, wäre das knurrende Magenproblem, auch vom Tisch.

      Seit dem opulenten Frühstück am Morgen, hatten sie nur eine Fischsemmel zwischen die Zähne bekommen. Die Vorstellung würde bis fast 23 Uhr dauern. Zwischenzeitlich wären sie unter Garantie verhungert. Den Sizilianer gabs tatsächlich. Zwei freie Stühle an einem Sechsertisch auch. Diesen teilten sie mit vier jungen Damen, welche auch zum Löwenkönig pilgerten. Die zweimal Nudeltöpfchen mit frischen Meeresfrüchten plus Salat waren molto bene, der Rot Süß angenehm kühl, der Preis gepfeffert, hätte jeder Pizza Diavolo die nötige Schärfe verliehen. Aber was soll´s…

      Der zum Musical passende Dschungel war offensichtlich auf die Straße verlegt worden. Nur mit Mühe konnten sie sich zwischen mehrreihig stehenden, haltenden, abfahrenden Autobussen, Taxen, Privatautos, den daraus hervorquellenden menschlichen Massen durchschlängeln. Hatten Mühe, nicht voneinander getrennt zu werden. Die Billets hatte Eva in ihrem Beutel. Nach nervigem hin- und her Geschiebe, genauer Eingangskontrolle und Platzsuche, hatten sie es endlich geschafft.

      >Einmal kurz für kleine Mädchen ist nicht angesagt, artet zur Tagesreise aus. <

      Eva´s lakonische Statements, nachdem ihre langen Beine irgendwie verdreht, im engen Fußraum verschwunden waren.

      >Ich war ja beim Italiener, in weiser Voraussicht. <

      Marianne, sich nach hinten drehend, um ihre Position besser zuordnen zu können. Ein kontrollierender Blick auf ihr Handy, bevor sie es auf lautlos schalten wollte, zeigte zehn Minuten bis Vorstellungsbeginn – und ein SMS von Horst.

      Eva hatte es mitbekommen:

      >Was schreibt er den schmalziges zum Samstagabend, dein Ex? <

      Marianne reichte ihr wortlos das Telefon.

      >Ich kann es einfach nicht glauben, dass es mit uns vorbei sein soll. Was kann ich nur tun, damit du mir verzeihst? Alles würde ich dafür geben, nur einmal noch mit dir reden zu dürfen. Ich flehe dich an, gib mir, unserer Liebe noch eine, einzige winzige Chance! Bitte schreib mir nur ein einziges Mal zurück, dass du meine Nachrichten erhalten hast, BITTE! <

      >Kann ich´s löschen, oder machst es selber? Der kapiert´s wohl nie. <

      Eva ungläubig kopfschüttelnd. Sie ließ Eva das SMS löschen. War ja vollkommen egal, wer von ihnen, die endgültige Taste drückte.

      Die Aufführung begann, die Vorstellung war ausverkauft. Besucher aus aller Herren Länder saßen erwartungsvoll auf ihren Plätzen. Marianne ließ sich einfach davontragen, von einem faszinierenden Schauspiel verzaubern. Unbeschreibliche Farben, unwirkliches Leuchten, unter die Haut gehenden Melodien und eine berührenden Handlung, begeisterten sie restlos. Bekam sprichwörtlich nasse Augen, nicht nur bei Songs wie „Er lebt in dir“, „Endlose Nacht“ oder „Der ewige Kreis“.

      Jede Einzelheit der getragenen Bewegungen, der dahinschmelzenden Töne, versuchte sie aufzusaugen, sich mittragen zu lassen. Wollte nicht mehr an die Vergangenheit, ihre letzten durchlittenen Wochen denken. Diese endgültig von sich abzuschütteln. In eine neue Haut schlüpfen, sich in ein Löwenfell kleiden, selbst eine Löwin zu werden…

      Die Lichtreflexe, die beeindruckenden, fantasievollen Masken, eine unnachahmliche schauspielerische Leistung, Ergebnis einer perfekten Inszenierung, machten für sie, und auch für Eva, den Abend zu einem Erlebnis der Extraklasse. Mit großen Erwartungen waren sie gekommen, diese wurden um Dimensionen überboten. Nicht enden wollender Applaus, als verdientes Dankeschön an Schauspieler und Regie für die grandiose Darbietung. Noch ganz gefangen in der gerade erlebten Fantasiewelt, reihten sie sich in eine, total begeisterte Menschenmasse, ein. In Trippelschritten mit Zwangsstehpausen, erreichten sie endlich den Ausgang, endlich Luft zum Atmen.

      Eva benötigte jetzt dringendst eine Nachdenkzigarette, Marianne genoss es, einen Freiraum von einem Meter im Quadrat, für sich alleine zu haben. Ohne von links, rechts, hinten, geschubst oder geschoben zu werden. Nach einigen wieder-zu-sich-selber-finden Minuten und einem Blick, auf das soeben wieder aktivierte Handy, äußerte Marianne, mit fragenden Augenaufschlag:

      >Eigentlich möchte ich auf dieses Traumerlebnis hinauf, heute keinen Wirbel mehr, ruhig nachklingen lassen. Du nicht? <

      >Von mir aus gern. Ja, ist mir recht. Im Hotel haben sie keine Lounge Bar, aber schräg über die Straße,