N.K. Wulf

Spur der Vergangenheit


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Nachhinein war sie einfach nur dankbar für seine Hartnäckigkeit, denn sonst wäre ihr Leben wahrscheinlich ganz anders verlaufen. Max watschelte voran, wobei der übergroße Tornister auf seinen Schultern hin und her schaukelte.

      „Hallo, Papa!“

      „Na, wie war der erste Tag?“

      „Gut.“

      „Und du hast schon jemanden kennengelernt, wie ich sehe.“

      Chris war Max gefolgt und hatte zu ihnen aufgeschlossen. Voller Respekt blickte sie zu dem großen Mann hinauf. Er war schlank und durchtrainiert, hatte dunkelbraunes, glänzendes Haar und in seinen Augen lag ein warmherziger Blick.

      „Ja. Stell dir vor, ihre Eltern haben einen total wichtigen Beruf. Die müssen immer nachts arbeiten.“

      „Aha. Und was genau machen deine Eltern?“

      „Die sind ... ähm … bei den ... ähm … Allo… Allo…“ Er drehte sich zu ihr um. „Wie heißt das noch mal?“

      „Alkoholikern.“ Auch den konsternierten Gesichtsausdruck ihres späteren Mentors würde Chris niemals vergessen.

      Nach einer kurzen Pause räusperte er sich und fragte: „Wirst du nicht abgeholt?“

      „Nein. Aber es ist nicht weit. Ich laufe immer.“

      „Tja. Heute nicht. Du kannst mit uns fahren.“

      „Ich darf aber nicht mit Fremden mitgehen. Hat mir meine Tante beigebracht. Und sie wäre bestimmt sehr böse auf mich, wenn ich mich nicht daran halte.“

      „Womit du absolut recht hast.“ Nik ging vor ihr in die Hocke und hielt ihr seine rechte Hand hin.

      „Da die Knalltüte da versäumt hat, uns miteinander bekannt zu machen, hole ich das jetzt nach.“

      „Ey! Selber Knalltüte!“

      „Ich bin Nikolas. Und wer bist du?“, fragte er sanft.

      „Ich heiße Christin, aber du darfst mich Chris nennen“, gab sie frech zurück.

      „Nett, dich kennenzulernen, Chris.“ Er schüttelte ihre kleine Hand.

      „Na ja. Und die Knalltüte da kennst du ja bereits.“

      „Boah, Papa! Du bist so peinlich!“

      „So! Und nun sind wir nicht mehr fremd und du kannst mit uns fahren. Oder was meinst du?“ Nik stand wieder auf und lächelte auf sie herab.

      „Ich glaube, das stimmt wohl.“

      „Na, dann los!“

      Sie gingen gemeinsam zu seinem Auto hinüber. Nik öffnete die hintere Tür seines VW Busses.

      „Die Herrschaften, darf ich bitten!“

      Max sprang als Erster hinein, gefolgt von Chris. Sie hatte bis dahin noch nie in einem so großen Auto gesessen.

      „Dein Papa ist lustig!“, flüsterte sie Max ins Ohr und musste kichern. Nik stieg vorne ein und schaute in den Rückspiegel.

      „Sagst du mir noch, wo wir hinmüssen?“

      „Ja. Die Straße rauf und dann rechts.“

      „Alles klar. Los geht’s.“

      Bereits wenige Minuten später parkte Nik den saphirblauen VW vor dem Haus, in dem Chris die meiste Zeit bei ihrer Tante Doris verbrachte. Inmitten einer heruntergekommenen Wohnsiedlung. Alle Häuser versprühten den gleichen ungepflegten Charme, der einer Müllhalde gleichkam. Der graue Außenputz bröckelte überall von den Wänden. In einzelnen Vorgärten, sofern man überhaupt davon sprechen konnte, standen alte, verrostete Campingmöbel. Umringt von umgefallenen oder zerschlagenen Bierflaschen. Definitiv nicht der passendste Ort für ein Kleinkind. Aber sie kannte nichts anderes. Es war das normale Leben. Ihr normales Leben.

      Nik stieg aus und öffnete die Schiebetür, damit sie aussteigen konnte.

      „Hier wohnst du also?“ Seine Miene war unergründlich.

      „Ja. Meistens“, sagte sie zögerlich. Auf einmal hatte sie das Gefühl, dass er böse auf sie war. Aber warum bloß? War sie zu frech gewesen? Mit gesenktem Kopf hüpfte sie von der Rückbank.

      „Danke fürs Nachhausebringen.“ Plötzlich hatte sie Angst, Maximilians Vater in die Augen zu blicken. Sie vergeudete keine Zeit und schlenderte davon.

      „Hey! Warte mal.“

      Erschrocken zuckte sie zusammen. Nik stand mit ausgestrecktem Arm an seinem Wagen und schaute sie über das Dach hinweg mit einem sanften Lächeln an.

      „Du hast was vergessen.“ Mit der anderen Hand hielt er ihren bunten Tornister in die Höhe. Aber sie rührte sich nicht und blickte weiter zu Boden. Nik spürte, dass sich etwas in dem kleinen, blonden Mädchen verändert hatte. Er folgte ihr auf dem schmalen, betonierten Weg, an dem das Unkraut rechts und links schon längst die Oberhand gewonnen hatte. Vor ihr angekommen, verlagerte er sein Gewicht auf das rechte Knie und schaute in ihre traurigen Augen.

      „Außerdem dachte ich, du wolltest uns deiner Tante vorstellen. Jetzt, da wir doch keine Fremden mehr für dich sind.“

      Sein Lächeln wirkte ansteckend und mit einem Male war die Keckheit der kleinen Christin zurückgekehrt. Sie nickte begeistert und reckte sogleich ihren Arm in die Höhe, um an die richtige Türklingel zu gelangen. Als der Summer ertönte, drückte Chris die dreckige Haustür mit ihren kleinen Händen auf und sprang in den Hausflur.

      „Max! Komm schon“, rief Nik seinem Sohn zu, der die Szene aus dem Seitenfenster des Busses beobachtet hatte. Schmollend stieg er aus und drückte die Schiebetür zu.

      „Ich habe Hunger, Papa“, sagte er verstimmt.

      „Sei nicht so unhöflich, alter Griesgram.“

      „Ich habe noch Kekse!“, verkündete Chris stolz, und Max‘ Miene erhellte sich schlagartig.

      Vor der Haustür im ersten Stock angekommen, öffnete eine hager wirkende Dame, etwa Mitte vierzig, die Tür. Der letzte Friseurbesuch lag schon mehrere Wochen zurück und war mehr als überfällig. Der graue Haaransatz stellte einen krassen Kontrast zum Rest der dunkelrot gefärbten Haare dar und ließ sie noch älter wirken, als sie in Wirklichkeit war. Erschrocken wich sie zurück.

      „Hast du etwas angestellt?“

      „Nein, nein. Alles in Ordnung. Mein Name ist Nikolas Berger. Das ist mein Sohn Maximilian. Die beiden gehen in die gleiche Klasse. Ich habe mich einfach gewundert, dass sie am ersten Tag niemand abholt, und hab sie mitgenommen.“

      „Oh, vielen Dank. Darf ich Ihnen vielleicht einen Kaffee anbieten, als kleine Wiedergutmachung?“

      „Wenn es keine Umstände macht, sehr gern.“

      „Kommen Sie doch bitte rein.“

      Nik war mit ihrer Tante in der Küche verschwunden, während sie mit Max im Wohnzimmer Mau-Mau spielte. Welche Dinge dort in der Küche genau besprochen wurden, sollte Chris nie erfahren. Es war ihr auch egal, aber sie vermutete, dass Tante Doris ihm einiges über ihre Lebenssituation erzählt hatte. Ihr Geld reichte kaum für sich selbst, geschweige denn für zwei. Nik hatte sich spontan bereit erklärt, sie künftig auch weiterhin von der Schule abzuholen, und es dauerte nicht lang und schon bald ging Chris bei den Bergers ein und aus.

      Und mehr noch. Ihre Eltern scherten sich einen Dreck um ihre Tochter und als man bei Doris Krebs diagnostizierte, nahmen die Bergers, oder besser gesagt Nikolas, Chris ganz bei sich auf. Nicht dass sie mit Claudia irgendwelche Probleme gehabt hätte, aber ihre Beziehung beruhte doch eher auf gegenseitigem Respekt. Sie hatte ihre Einwände durchaus vorgebracht, allerdings Niks Entscheidung und damit auch das kleine blonde Mädchen mit der Zeit akzeptiert.

      Tobias kam erst einige Zeit später dazu. Er war mit seinen Eltern aus dem Norden hierher ins Sauerland gezogen. Sie verstanden sich auf Anhieb