N.K. Wulf

Spur der Vergangenheit


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so sehr vermisste.

      Nik merkte, wie die innerliche Wut wieder hochkochte und mit aller Macht an die Oberfläche drängte, als sein Blick auch die dritte Person auf dem Bild erfasste. Er konnte es nicht mehr verbergen, ihr eine gewisse Mitschuld an dem Dilemma zu geben. Seine Frau Claudia schlang innig und verliebt ihre Arme um seine Hüften und schien der Welt damals zeigen zu wollen, wie glücklich ihre kleine Familie doch war. Nur was ist danach bloß geschehen? Nik verstand es eigentlich immer noch nicht. Irgendwann hatte er wohl einfach den Anschluss an den schnellen und luxuriösen Lebenswandel seiner Noch-Ehefrau verloren.

      Zum ersten Mal in den vielen Jahren hatte er sie freigeben wollen und das Wort „Scheidung“ in den Mund genommen. Der letzte Streit zwischen ihnen zeigte bis dato unerreichte Dimensionen und Nik musste sich eingestehen, dass eine weitere gemeinsame Zukunft eher unwahrscheinlich schien. Sie hatten sich einfach auseinandergelebt. Manchmal wünschte er sich, diese Erbschaft damals nie angenommen zu haben.

      Völlig überraschend hatte ihn seine Großtante als Alleinerbe eingesetzt, und wie sich später herausstellte, sollte die alte Dame ihm nicht nur diese Hofanlage, sondern auch eine beträchtliche Summe an Ersparnissen hinterlassen haben. Nik hatte zu der Zeit an einen Sparstrumpf unterm Kopfkissen gedacht. Doch wie sich wenig später gezeigt hatte, passte die Summe in keinen Strumpf der Welt. Die alte Dame hatte im Laufe ihres Lebens mehrere Hunderttausend Euro zur Seite gelegt.

      Im ersten Moment ein großer Schock, den Nik erst mal verdauen musste. Warum nur hatte sie nie auch nur ein Sterbenswörtchen über das Vermögen verloren? Der Hof war marode und man hätte ihn schon viel früher wieder sanieren können. Was hatte sich Tante Hannah nur dabei gedacht? Zwei Tage nach der Trauerfeier durchforstete Nik ein paar Unterlagen in der alten Wohnstube. Er ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Auf den alten Wohnzimmerschrank aus massiver Eiche, hinüber zu dem braunen Sofa, das schon bessere Tage gesehen hatte. Zu guter Letzt auf die gegenüberliegende Wand, an der sich in unregelmäßigen Abständen verschiedenste Bilder, in unterschiedlichen Größen und Formen eingerahmt, präsentierten.

      Und er verstand. Tante Hannah hielt an den unzähligen schönen Erinnerungen aus vergangenen Tagen fest. Sie wollte keine Veränderung. Alles sollte so bleiben, wie es war. Das war ihr wichtiger als alles Geld der Welt. Und wie sich zeigte, sollte sie recht behalten.

      Wenn er damals auch nur annähernd geahnt hätte, welche Veränderungen mit so viel Geld einhergehen würden, er hätte es mit Sicherheit nicht angenommen. Ein sorgenfreies, glückliches Leben, das hätte es wohl für jeden anderen Menschen bedeutet. Für ihn war es eher der Anfang vom Ende seines glücklichen Lebens. Gemeinsam hatten er und seine Frau beschlossen, die Wohnung in der Hemeraner Innenstadt aufzugeben und wenige Kilometer weiter auf den Hof zu ziehen.

      Ein Großteil der Ersparnisse ging für die längst überfälligen Renovierungsarbeiten an Stall und Wohnhaus drauf, ein weiterer für die Planung und Umsetzung einer neuen, moderneren Praxis im Nebengebäude. Bei der Einrichtung der privaten vier Wände hatte Claudia als gelernte Innenarchitektin freie Hand. Sie besaß schon immer den besseren Geschmack und legte viel Wert aufs Detail. Um Geld einzusparen, stemmte Nik beinahe den gesamten Umbau der Praxisräume allein. Ab und an kam Max dazu und half, wo er nur konnte. Claudia hingegen zeigte wenig Verständnis für seinen Einsatz. Zu oft hatte sie auf ihren Mann verzichtet, ihre Wünsche und Ziele immer wieder zurückgesteckt.

      Heute war ihm das bewusst und das schlechte Gewissen allgegenwärtig. Jedoch zu dem Zeitpunkt glaubte er fest daran, das Richtige zu tun. Sicherheit für die Zukunft und damit verbunden ein sorgenfreies Leben für sich und seine Familie, genau das war es, was ihn immer wieder antrieb.

      Er merkte nicht einmal, wie sich seine Frau immer mehr von ihm entfernte. Designermode, Dinnerpartys und damit verbunden neue Freunde aus der Welt der Erfolgreichen bestimmten fortan ihren Tagesablauf. Hin und wieder begleitete er sie auf die eine oder andere Veranstaltung, allerdings bereitete ihm das ständige und oberflächliche Gerede über Aktien, Wirtschaft und Politik jedes Mal Kopfschmerzen. Meist zog er sich zurück an die nächste Bar, bestellte ein Bier und beobachtete die Gäste.

      Es kam, wie es kommen musste. Die Spannungen zwischen ihnen nahmen zu und Max blieb auf der Strecke. Wie sehr sein Sohn darunter litt, in den Augen seiner Mutter den falschen Weg eingeschlagen und damit auch seine große berufliche Zukunft weggeworfen zu haben, erkannte Nik leider zu spät. Ein erfolgreicher Anwalt, das war es, was Claudia sich für ihn wünschte.

      Irgendwann wurde der Druck einfach zu groß und Max zog es nach Boston. Das war nun fast ein Jahr her und zum ersten Mal seit Ewigkeiten sollte Nik seinen Geburtstag nun allein verbringen. Ganz allein, denn auch Claudia wohnte schon seit geraumer Zeit nicht mehr hier. Sie hatte ein Apartment in Münster angemietet. Berufliche Gründe hatte sie vorgeschoben, aber es sollte einfach nur der endgültige Schritt für die räumliche Trennung bedeuten.

      Das Vibrieren seines Smartphones riss Nik aus seinen Gedanken. Er öffnete die oberste Schublade seines Schreibtisches und legte das Foto hinein. Später würde er einfach einen neuen Rahmen kaufen.

      Er trat ein Stück zur Seite und spähte durch das Fenster. Auf der angrenzenden Weide spitzte ein brauner Wallach seine Ohren, als er sich der Aufmerksamkeit des Tierarztes sicher war, und begrüßte ihn mit einer kopfnickenden Geste. Mit der rechten Hand öffnete Nik die Terrassentür und ging ein Stück hinaus. Er spürte die laue Frühlingssonne auf seiner Haut. Das Wetter wurde langsam besser. Der Regen hatte in der Nacht aufgehört und die Temperaturen waren angestiegen.

      „Eigentlich perfekte Bedingungen für einen ersten Ausflug mit dem Bike“, dachte er. Sein Mountainbike, eine weitere Leidenschaft, der er allerdings weitaus weniger nachging. Meist nur in den Sommermonaten und auch nur dann, wenn es die Zeit erlaubte. Zu dumm, dass seine neuste Errungenschaft noch nicht bei dem Händler seines Vertrauens eingetroffen war. Nach reiflicher Überlegung und einigen Probefahrten hatte er sich für eine 29er Variante entschieden. Die größeren Räder ermöglichten ihm ein wesentlich laufruhigeres Fahrvergnügen im Gelände. Zwar war er in Kurven damit nicht mehr ganz so spritzig unterwegs, aber da er sowieso immer eher der Marathon- und weniger der Downhilltyp gewesen war, störte ihn das kaum.

      „Guten Morgen, alter Knabe!“ Vergnügt schüttelte Sir William, kurz Will genannt, seine prächtige Mähne, wodurch einzelne Haare wild in alle Himmelsrichtungen abstanden.

      Ein Lächeln umspielte Niks Mundwinkel und er widmete sich wieder dem Handy. Er gab einen vierstelligen Code ein, um das Gerät zu entsperren. Sofort erschien das Hauptmenü. Er tippte auf den WhatsApp-Button und in der Chatliste sah Nik, dass bereits drei neue Nachrichten eingegangen waren. Die erste Mitteilung stammte von einem Kollegen aus dem Nachbarort.

      „Alles Gute zum Geburtstag, du alter Sack. Lust, den Tag bei einem Bier ausklingen zu lassen? Melde dich einfach. Gruß Sascha.

      Mit einer kurzen Antwort bedankte er sich für die Geburtstagsgrüße und suchte im Chatverlauf die nächste Nachricht. Als er den Absender erkannte, öffnete er diese voller Vorfreude.

      „Hey Dad, Happy Birthday und viele Grüße aus Boston. Hoffe, bei euch ist alles Ok! Denk an dich, sprechen uns. Max“.

      Zu gern hätte er mal wieder die Stimme seines Sohnes gehört, aber wahrscheinlich hatte er dort einfach zu viel um die Ohren. Seine Stimmung sank gleich wieder gegen Null, als er die letzte Mitteilung öffnete und den Text las.

      „Ich wünsch dir alles Gute. P.S. Lass uns bitte noch mal reden! Passt dir Freitagabend? Ich habe deinen Lieblingswein gekauft. Gruß C.“

      „Was soll das denn noch bringen?“ Gedankenversunken griff er nach dem Kaffeebecher auf der Fensterbank, den er bereits heute früh hier abgestellt und mal wieder vergessen hatte. Nik nahm einen großen Schluck aus der Tasse und verzog angewidert das Gesicht. Kalter Kaffee, er hasste kalten Kaffee, und gerade jetzt konnte er ein bisschen Koffein gut gebrauchen. Schnellen Schrittes eilte er zurück zur Tür und öffnete diese nur so weit, dass er ein Stück hindurchschauen konnte.

      „Anni!“

      „Sir, ja, Sir!“, konterte die Stimme seiner Helferin aus einem der Behandlungszimmer am anderen Ende