N.K. Wulf

Spur der Vergangenheit


Скачать книгу

er mit stark verdünntem Wasserstoffperoxyd durchspülte. Dieser Teil der Behandlung war alles andere als angenehm. Ähnlich wie bei einer chemischen Reaktion schäumte die Flüssigkeit auf und es knisterte gefährlich. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass die Wunde mit Bakterien verunreinigt war. Der Kater hob beleidigt den Kopf und kommentierte das Vorgehen mit einem Maunzen.

      „Sorry, Kumpel, das kann ich dir leider nicht ersparen.“ Nik wiederholte diese Prozedur so lange, bis keine aufschäumende Aktivität mehr zu erkennen war. Dann legte er dem getigerten Gefährten ein weiteres Leckerli vor die Nase und kraulte ihm den Kopf. Mr. Snuggles verspeiste die Knuspertasche mit großem Appetit und schnurrte weiter. „Im Allgemeinen wird man im Alter doch erfahrener und ruhiger. Zumindest sagt man so.“

      „Haha. Ich denke, darauf können wir bei unserem Snuggles lange warten. Der wird niemals daraus lernen“, erwiderte Karl Richter, der Besitzer des Katers, und lächelte amüsiert.

      „Keine Sorge. Auch das kriegen wir wieder hin. Antibiotisch ist er noch bis morgen versorgt.“ Nik blickte kurz auf. „Ein Schmerzmittel und einen Entzündungshemmer sollten Sie ihm trotzdem noch ein paar Tage geben. Haben Sie noch Metacam zu Hause?“ Ein Schmerzmittel mit entzündungshemmender Wirkung.

      „Ich glaube nicht. Bei der letzten Keilerei haben wir alles aufgebraucht.“

      „Dann gebe ich Ihnen vorsichtshalber noch eine Flasche mit. Normalerweise würde eine kleine Packung reichen.“ Wieder kraulte er den Kater hinter den Ohren. „Aber in diesem speziellen Fall nehmen wir lieber gleich die große Packung. Nur für alle Fälle“, sagte er und stellte die Transportbox zurück auf den Tisch.

      Mr. Snuggles erhob sich und schlenderte hinein. Er ließ sich auf die rechte Seite fallen und fing an, sich ausgiebig zu belecken, ohne dabei das Schnurren einzustellen.

      „In ein paar Tagen ist er wieder der Alte“, sagte Nik, stand auf und ging hinüber zu dem weißen Apothekerschrank. Er öffnete ihn, hielt sich an der Schranktür fest und starrte in das Innere. Die einzelnen Regale waren nach Wirkungsgruppen unterteilt. Es gab Medikamente für Herz und Kreislauf, für Schilddrüsenerkrankungen, zur Bekämpfung von Würmern und anderen Parasiten und natürlich zur Schmerz- und Wundbehandlung. Er holte eine lilafarbene Packung aus dem obersten Regal und betrachtete diese gedankenversunken. Die Sekunden verstrichen, ohne dass sich Nik rührte.

      „Ist alles in Ordnung mit Ihnen, Dr. Berger?“ Die Antwort ließ auf sich warten. Es herrschte nur Schweigen. Karl Richter ging vorsichtig auf seinen Tierarzt zu und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Hey, alles okay?“

      Aufgeschreckt blickte ihn Nik über seine Schulter an.

      „Ähm, ja. Natürlich. Ich habe mir nur gerade Gedanken über die Dosierung gemacht.“

      „Auf den Bahamas?“ Der alte Mann hob eine Augenbraue.

      „Mhhh?“

      „Entschuldigen Sie, Dr. Berger, aber Sie waren gerade so weit weg, dass Sie vermutlich noch nicht einmal mitbekommen hätten, wenn Ihre Superchemikalie da drüben explodiert wäre.“

      Nik lächelte verlegen. „Tut mir leid. Ich war wohl nicht ganz bei der Sache. Bitte entschuldigen Sie.“

      „Wie auch immer. Jedenfalls sehen Sie bescheiden aus, mein Junge. Ganz sicher, dass Ihnen nichts fehlt?“

      „Nichts weiter, außer Schlafmangel.“

      „Sie sollten ein wenig besser auf sich achtgeben. Immerhin sind Sie auch nicht mehr der Jüngste.“

      „Treffer, versenkt.“ „Eine Weisheit des Alters?“

      „Nur ein gut gemeinter Rat, mein Junge. Glauben Sie mir. Es bringt nichts, ständig über den Sinn des Lebens nachzudenken und warum manche Dinge so laufen, wie sie eben laufen. Sich auch mal Zeit für sich zu nehmen, das ist der Schlüssel zum Glück, lassen Sie sich das von einem alten Mann gesagt sein.“

      „Ich werde es beherzigen, danke.“ Nik legte das Schmerzmittel auf die Transportbox und hielt ihm seine rechte Hand entgegen.

      „Nicht dafür.“ Karl Richter ergriff sie seinerseits.

      „Ich möchte Snuggles in zwei Tagen noch einmal sehen, wenn das geht?“

      „Natürlich. Ich mache gleich vorne einen neuen Termin aus. Vielen Dank, Dr. Berger.“

      Nik lächelte. „Nicht dafür.“

      Wenige Minuten später trat Nik durch die Tür seines Büros und ließ diese sanft hinter sich ins Schloss fallen. Nur für einen kurzen Augenblick schloss er die Augen, lehnte sich zurück und stützte seinen Kopf an der Tür ab. In diesem Moment genoss er die Ruhe und Stille. Selbst die entfernten Stimmen der sich verabschiedenden Patientenbesitzer vernahm er, wenn überhaupt, nur am Rande.

      Er fühlte sich schon seit einiger Zeit nicht wirklich gut, was auf keinen Fall etwas mit seiner körperlichen Verfassung zu tun hatte. Zwar feierte er heute seinen immerhin schon zweiundfünfzigsten Geburtstag, trotzdem legte er nach wie vor viel Wert auf seinen Körper und gesunde Ernährung. Beinahe jeden verdammten Abend verbrachte Nik so viel Zeit in seinem Kraftraum, dass es ihm oft selber wie eine Droge vorkam. Früher hatte er stets darauf geachtet, es mit dem Training nicht zu übertreiben, damit auch seine Familie nicht zu kurz kam. Aber jetzt brauchte er auf keinen mehr Rücksicht nehmen. Im Grunde genommen war es im Augenblick, neben seiner Arbeit natürlich, der einzige Ausgleich, der ihm noch geblieben war. „Traurig genug.“

      Der Grund für seine ständige schlechte Laune und der damit verbundenden Reizbarkeit war ein anderer. Es gab Tage, da fiel es ihm besonders schwer, der nette, souveräne Veterinärmediziner und Chef zu sein, der er ja eigentlich war und auch immer sein wollte. Er wirkte oft abwesend und in sich gekehrt, genauso wie gerade eben. Und heute schien es ein besonders beschissener Tag zu werden. Dieser blödsinnige Streit mit seinem Assistenzarzt war ihm sichtlich an die Nieren gegangen. Er hatte Dinge von sich gegeben, die ihm im Nachhinein sehr leid getan hatten. Er musste sich dringend dafür entschuldigen.

      Nik atmete einmal tief durch und öffnete wieder die Augen. Sein Blick fiel auf den Schreibtisch, der am Ende des Zimmers direkt unter dem Fenster seinen Platz gefunden hatte. Mit einem Ruck setzte er sich wieder in Bewegung, zog den großen, dunklen Bürostuhl heran und blätterte den Hefter mit der Bestellliste durch. Er drehte sich zu dem Regal an der Wand und suchte sich die passenden Kataloge der Pharmafirmen zusammen, bei denen er dringend Nachschub für seine Apotheke ordern musste. Insgesamt vier Ordner legte er auf die Schreibtischunterlage und ließ sich auf dem schweren Stuhl nieder. Nik zog den ersten Katalog vom Stapel und streifte dabei einen der beiden schwarzen Bilderrahmen am Rande des Tisches, wodurch dieser umkippte und auf dem Boden zerschellte.

      Mit einem tiefen Seufzer ließ er seinen Kopf nach vorne sacken und umklammerte mit beiden Händen seinen Nacken.

      „Happy Birthday, du Trottel“, murmelte er und wischte die Listen mit einer aggressiven Handbewegung vom Tisch. Unruhig flogen die losen Blätter durch den Raum, bevor sie wild verstreut ihren Bestimmungsort auf dem Boden fanden.

      Das Gesicht in den Händen vergraben verharrte Nik minutenlang in dieser Position, bevor er sich dazu in der Lage fühlte, das angerichtete Chaos wieder zu beseitigen. Langsam straffte er seinen Körper und stemmte sich aus seinem Stuhl. Sorgfältig hob er ein Blatt nach dem anderen wieder auf, stapelte diese aufeinander und steckte die gesamte Bestellliste zurück in den Hefter. Erneut ging er in die Hocke und zog mit der rechten Hand ein Foto aus vergangenen, glücklicheren Tagen aus den Scherben. Gedankenversunken zeichnete Nik mit seinem Zeigefinger die Silhouette eines kleinen Jungen nach und verzog seine Lippen zu einem Schmunzeln, welches seine Grübchen zur Geltung brachte. Sein kleiner Sohn Maximilian war mittlerweile längst erwachsen und zum Teil in die Fußstapfen seines Vaters getreten. Unter normalen Umständen wäre er darüber mehr als stolz gewesen, jedoch war die Situation hier eine andere. Nach dem Studium zog es Max in die Staaten, um weitere Erfahrungen als Veterinärmediziner sammeln zu können. Zumindest hatte er das damals behauptet. Nik wusste allerdings, dass die Wahrheit eine andere war. Sein Sohn war einfach geflüchtet und trotz vieler gemeinsamer Gesprächen