Heike Möller

Weltenwanderer-Chroniken I


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sie sich dem Weinfass näherten, spürte Andreas ein starkes Vibrieren. Auch hörte er den Summton des Tores, nur diesmal eben durch die geschlossene Tür.

      „Es hat sich aktiviert“, erklärte Sondra und betätigte den geheimen Mechanismus.

      Sie zog ein Amulett, das sie an einem starken Lederband trug, unter ihrem Wams hervor und legte es vor ihre Brust. Eine goldene Sonne, gehalten von zwei schmalen silbernen Händen.

      Andreas hatte das Amulett noch nie gesehen.

      „Vater trug es immer. Es war sein Schlüssel nach Vilgard. Am Tag seines Todes hatte er es auf der Kellertreppe verloren.“

      Andreas nickte nur. Er war erstaunt darüber, wie viel Sondra in seinem Gesicht zu lesen vermochte.

      Sondra öffnete die Paneele und zog das Weinfass auf. Der Raum, der sonst stockdunkel war, wurde von einem silbrig schimmernden Licht sanft erhellt.

      Das Tor war offen.

      Andreas musste kurz an eine Science-Fiction Serie aus dem Fernsehen denke, bei dem ein Tor in andere Welten aktiviert wurde. Die Oberfläche dort erinnerte eher an gebändigtes Wasser.

      Das Tor nach Vilgard wirkte wie in flüssiges Silber getaucht.

      Das Vibrieren war jetzt mit jeder Faser des Körpers wahrnehmbar.

      Sondra und Andreas sahen sich an. Zwischen ihnen herrschte eine Art Non-Verbale-Kommunikation. In den letzten drei Wochen hatten die beiden in jeder freien Minute zusammen gesessen und ihr Vorgehen soweit als möglich geplant.

      Sondra sah noch einmal zu Holger Kolbrink. „Wir sehen uns in einem Monat.“

      „Du meinst wohl in einem Jahr“, antwortete Holger. Er konnte seine Besorgnis nicht länger verbergen. Jahrelang hatte er gesehen, wie sein bester Freund durch dieses Tor gegangen war. Eigentlich war Thorben Wieland zwei Jahre jünger als Holger gewesen, aber die Reisen hatten ihn um über 25 Jahre altern lassen.

      Und mit Sondra und ihrem Begleiter würde das gleiche passieren. Jeder Monat hier auf der Erde des 21. Jahrhunderts würde ein Jahr in Vilgard bedeuten.

      Sondra ergriff die Hand von Andreas. Sie wusste, wenn sie weiter zögerte, würde sie vielleicht nie gehen, weil ihr Gewissen sie zurückhalten würde.

      Aber sie hatte eine Aufgabe.

      Sondra ging auf die silbrig schimmernde Oberfläche zu, holte tief Luft und tauchte in die Magie ein, dicht gefolgt von Andreas, der nicht im Traum daran dachte Sondras Hand loszulassen.

      Plötzlich war alles dunkel. Andreas blieb verwirrt stehen und versuchte etwas zu erkennen.

      „Lumen!“, hörte er Sondras Stimme sagen und ein unsichtbares Licht ging an.

      Sie befanden sich nicht mehr in der Höhle unter Sondras Haus. Diese Höhle war doppelt so groß und hatte Zeichnungen und Schriftzeichen an den Wänden.

      Das Tor schimmerte nicht mehr und das Vibrieren hatte sich auch auf den Ton zurückgestellt, den Andreas am Anfang kennen gelernt hatte.

      „Geht es dir gut?“ fragte Sondra und blickte forschend in sein Gesicht.

      „Ja, ich äh…muss das Ganze erst mal kurz begreifen.“

      Sie löste ihre Hand aus seiner und ging zu einem Loch in der Höhle. Andreas erkannte, dass das der Ausgang sein musste. Draußen war es stockdunkel.

      „Wie ich dachte, es ist Nacht. Wir müssen bis zum Morgengrauen warten und dann zügig losmarschieren. Wir sollten dann so wenig Pausen wie möglich machen, damit wir morgen Abend einen sicheren Unterschlupf haben.“

      Andreas nickte und setzte seinen Rucksack ab. Er stellte ihn gegen die Höhlenwand und zog seinen Mantel aus. Es war ungewöhnlich warm hier drin. Plötzlich fiel ihm etwas ein.

      „Werden die Trolle oder andere von außen nicht das Licht sehen?“

      „Nein, das hier ist ein magischer Ort. Trolle können Magie nicht erkennen oder durchbrechen und andere Wesen sehen diese Höhle einfach nicht. Sie ist durch mehrere Zauber- und Bannsprüche geschützt. Die Höhle akzeptiert uns auch nur, weil ich das Amulett habe.“

      Jetzt bemerkte Andreas, dass das Amulett leicht leuchtete.

      „Was tust du, wenn du das Amulett verlierst?“

      Sondra lächelte. Auch sie hatte inzwischen ihren Rucksack und Mantel abgelegt. Sie nahm die breite Ledermanschette von ihrem linken Handgelenk und streckte Andreas ihren Arm entgegen. Erst jetzt fiel ihm auf, das Sondra immer diese Ledermanschette trug. Das Tattoo auf ihrem Handgelenk leuchtete ebenfalls schwach.

      „Ich glaube, ich muss noch eine ganze Menge lernen über Vilgard“, bemerkte Andreas trocken.

      Er sah sich in der Höhle um. Die Wandmalereien zeigten Szenen von einer Jagd auf Wildschweine und Hirsche, von einem Ritual in einer Steinkreisanlage, von einer Sternenkonstellation und von einem Kampf. Andreas sah sich jedes Bild ganz genau an und versuchte die Einzelheiten in sich zu archivieren.

      Sondra hatte sich über eine alte mittelgroße Holztruhe mit Eisenbeschlägen gebeugt und öffnete sie. In dieser Truhe waren fast bis zum Rand wahre Schätze angehäuft. Taler aus Gold, Silber und Kupfer, Edelsteine und Perlen, Ringe und Ketten aus den verschiedensten Materialien.

      Sondra nahm vier kleine Lederbeutel, die in der Truhe lagen und füllte sie zu gleichen Teilen jeweils mit Geldstücke und mit Edelsteinen. Je einen Sack mit Edelsteinen und Taler gab sie Andreas, die anderen verstaute sie in ihr Gepäck.

      Andreas band den Beutel mit den Geldstücken sorgfältig an seinen Gürtel, den Beutel mit den Edelsteinen verstaute er in seinem Rucksack.

      „Die sollten wir auch mitnehmen“, sagte Sondra hinter ihm. Sie hatte zwei Schwerter in der Hand. Andreas nahm ihr ein Schwert ab und war erstaunt, wie leicht es war. Es war ein Kurzschwert mit einfachem, aber stabilem Griff und die Scheide war aus Hirschleder.

      Sondras Schwert war nur wenig kürzer und der Griff etwas schmaler im Umfang.

      Sie legte das Schwert zu ihrem Rucksack, breitete ihren Mantel aus und benutze den Rucksack als eine Art Kopfkissen, als sie sich hinlegte.

      „Ruh dich auch aus.“

      Er nickte und wollte seinen Mantel ebenfalls auf den Boden legen, aber Sondra rutschte ein wenig auf ihrem Mantel zur Seite und klopfte neben sich auf den Boden. Andreas überlegte nicht lange und legte sich neben Sondra. Mit seinem Mantel deckte er sich und Sondra zu, die sich dicht an ihn ran kuschelte. Er genoss ihre Nähe und sog den Duft ihres Haares tief ein. Seit dem Kuss in Sondras Wohnzimmer waren sie sich nicht wieder so nah gekommen.

      Andreas wollte nichts forcieren und überließ Sondra den nächsten Schritt. Er legte seine Arme um sie und seine Lippen berührten ihre Stirn, ohne sie zu küssen.

      „Warum reagiert die Höhle eigentlich auf einen Befehl, der in Latein ausgesprochen wird?“, fragte er nach ein paar Minuten.

      „Ich habe keine Ahnung. Weder mein Vater noch die anderen sind dahinter gekommen. Es gibt sogar ein paar griechische, irische und gälische Worte beziehungsweise Wortstämme in Vilgard. Ich vermute, dass es mehr als ein Tor gegeben hat und das es Besucher aus mehreren Ländern im Laufe der Jahrtausende gab.“

      „Studierst du deshalb Archäologie, keltische Geschichte und alte Sprachen?“

      Sondra richtete sich ein wenig auf und sah ihn an. „Du fragst heute aber viel, Andreas. Ist der Kommissar wieder im Einsatz?“

      Andreas brummte leicht. „Nein, ich bin nur neugierig und es viel mir auf. Und bitte, sag Andi. Sonst denke ich, meine Mutter will mich zurechtweisen.“

      Sondra kicherte, beugte sich über ihn und küsste ihn leicht. Andreas war etwas überrascht, aber er erwiderte den Kuss. Sondra kuschelte sich wieder an ihn seufzte zufrieden.

      Ein paar Stunden später, kurz vor Morgengrauen, machten sie sich zum Aufbruch fertig.