Heike Möller

Weltenwanderer-Chroniken I


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das hierher? Wer hat es hergebracht? Warum…?“

      „Schon gut, ich erzähle Ihnen ja alles, was ich selber weiß“, lachte Sondra. “Das ist eine lange Geschichte. Haben Sie Zeit, wollen wir es uns oben gemütlich machen?“

      Andreas wollte diesen wundervollen Ort nicht verlassen, aber sein Verstand sagte ihm, dass er hier unten keine Antworten finden würde.

      Oben im Wohnzimmer gab Sondra Andreas ein Glas mit Grappa und setzte sich ihm gegenüber auf ihren Lieblingssessel. Andreas schluckte den Grappa mit einem Zug. Seine Lippen bekamen fast augenblicklich wieder Farbe und das Zittern seiner Hände ließ nach.

      „Wie ich schon sagte, mein Ururgroßvater hat dieses Haus gebaut“, begann Sondra zu erzählen.

      „Während der Arbeiten an dem Keller stießen die Maurer auf eine Höhle im Fels. Mein Ururgroßvater war Hobbygeologe und erkannte sofort, dass die Höhle keinen natürlichen Ursprung hatte. Sofort ließ er die Arbeiten einstellen und stellte Nachforschungen an. Aber nirgendwo, in keinem Archiv Schleswig-Holsteins, keiner Pfarrei oder Bibliothek ließ sich ein Hinweis auf diese Höhle finden. Also erweiterte er selbst den Eingang zu der Höhle und entdeckte den Torbogen. Bis heute gibt es keinen Hinweis darauf, wo der Bogen herkam und wer ihn dorthin gebracht hatte, aber er war da.“

      Andreas hatte seine Schuhe ausgezogen und es sich auf der Couch gemütlich gemacht. Er wirkte fast wie ein kleiner Junge, dem man eine Geschichte vorlas.

      Nur das diese Geschichte wahr war!

      „Ihre Familie hat diesen Torbogen schon seit Generationen?“

      „Ja. Mein Ururgroßvater fand sogar heraus, wann er sich aktivierte, wie oft und wie der Rhythmus ablief, wenn man ihn durchschreitet. Er war mal einen ganzen Monat wie von der Bildfläche verschwunden.

      Thadeus entwickelte auch diesen Türmechanismus. Er war nämlich Ingenieur und hatte fähige und verschwiegene Leute an der Hand. Den Weinkeller baute er zur Tarnung weiter aus und das Regal in der Küche stammt auch aus seiner kreativen Feder.

      Thadeus Wieland hatte einen Sohn, der in das Geheimnis eingeweiht wurde, als dieser 17 Jahre alt war. Gunter war dreimal in Vilgard, bevor er eine eigene Familie gründete und beschloss, dieses Geheimnis nicht leichtfertig zu vererben. Er bekam drei Kinder: Thure, Hagen und Freya. Lachen Sie nicht, meine Familie hatte nun mal einen Nordsagen-Tick!“

      „Es tut mir leid, aber diese Namen sind heute ja nicht gerade weit verbreitet“, lachte Andreas.

      Er beobachtete Sondra, als sie aufstand und aus dem Sideboard ein altes Fotoalbum hervorholte. Sie setzte sich neben Andreas auf die Couch und schlug es auf.

      Das erste Foto war sehr alt. Es zeigte einen Mann in der Mode des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Steif saß er auf einem Stuhl und stützte seinen Arm auf einen Gehstock ab. Neben ihm stand eine jüngere Ausgabe des Mannes auf dem Stuhl, genauso gekleidet und steif. Die eine Hand hatte er auf die Schulter des älteren, die andere Hand hielt eine Taschenuhrkette.

      „Das sind Thadeus und Gunter Wieland. Für die damalige Zeit waren diese beiden schon sehr weltoffen und tolerant.“

      „Wer sind diese Leute?“

      Andreas tippte auf das zweite Foto.

      „Das ist Gunter mit seiner Frau und zwei der drei Kinder. Thure und Freya.“

      Auf diesem Foto war Gunter fast nicht wieder zu erkennen. Er wirkte gelöster und nicht so aristokratisch. Die Kinder spielten in der Mode des frühen 20. Jahrhunderts mit Ball und Reifen mit Stock. Es wirkte fast wie in einer Studie aus Zilles Werken, nur nicht mit den typischen Berliner Hinterhofmotiven.

      „Wo ist das dritte Kind?“

      Sondra drehte die Seiten um und ein neues Familienfoto war zu sehen. Das Foto musste aus den frühen Zwanzigern des 20.Jahrhundert stammen. Gunter Wieland saß in einem Korbstuhl mit Lehne, dahinter standen von links nach rechts drei Kinder: Thure, Hagen und Freya.

      „Mein Gott, Hagen ist Ihr Großvater!“, entfuhr es Andreas, als er die kalten Augen des mittleren Kindes ansah.

      „Wie schon die alten Lateiner sagten: Nomen est Omen!“

      Sondra strich fast zärtlich über das Fotogesicht von Freya.

      „Sie erbte das Geheimnis des Torbogens und das Haus, nachdem Thure verstorben war. Hagen hingegen erbte das Familienunternehmen und das meiste Vermögen.“

      „Wie ist Thure denn gestorben?“

      Sondra klappte das Album zu und lehnte sich auf der Couch ein wenig zurück, schlug die Beine unter.

      „Gunter und Thure waren in Vilgard. Als sie zurückkamen, war Thure schwer verletzt.

      Er starb noch in der gleichen Nacht. Hagen war nicht zu Hause. Er lebte schon seit einiger Zeit in einem Internat und hatte nur den nötigsten Kontakt mit seinem Vater. Für ihn war es unerträglich, dass er nur als Zweitgeborener am Haupterbe nicht beteiligt werden sollte.

      Freya hingegen kümmerte sich um alles und jeden, seitdem Gunters Frau in einem harten Winter an Tuberkulose gestorben war. Sie war da, als Gunter mit Thure zurückkam. Thure starb in Freyas Armen und Gunter konnte nun nicht mehr umhin, seiner Tochter das Geheimnis des Hauses zu offenbaren.“

      „War Freya jemals in Vilgard?“

      „Ja, ein Jahr nach Thures Tod. Freya hatte in diesem Jahr reiten und fechten gelernt und war gut vorbereitet. Hagen hatte als Haupterbe kein Interesse an den Flausen seines Vaters und seiner Schwester und kümmerte sich lieber um das Geschäft. Als Gunter starb und Hagen tatsächlich alles außer dem Haus erbte, dachte Hagen, er wäre am Ziel. Er heiratete eine Frau aus reichem Haus und bekam die Kinder, die Sie ja kennen: Roland, Gisela, Thorben und Wolfgang. Großtante Freya hatte nie geheiratet und keine Kinder gehabt. Sie erkannte Hagen als den hartherzigen Mistkerl, der seine eigene Familie die Hölle auf Erden bereitete. Freya und mein Vater hatten immer einen Draht zueinander. Thorben war für Freya der Sohn, den sie nie hatte. Und Tante Freya war für meinen Vater die gesamte restliche Familie.“

      Andreas nickte. „Ich kann mir schon denken, warum.“

      „Jedenfalls weihte Freya meinen Vater in das Geheimnis des Hauses ein, als er alt genug war und vertuschte die ersten zwei Reisen von ihm gegenüber Hagen. Mein Vater und Holger Kolbrink hatten sich im Internat kennen gelernt. Mein Vater sagte mal, dass das Internat und Tante Freya sein einziges Zuhause waren. Bei der dritten Reise ging etwas schief und Hagen erfuhr davon. Aber Hagen dachte, dass seine verrückte Schwester seinen Sohn fehlgeleitet hätte und steckte meinen Vater in die Irrenanstalt. Holger Kolbrink studierte Jura und sein Vater war ein angesehener Richter. Holger setzte alles in Bewegung, um meinen Vater aus der Anstalt rauszubekommen. Mit Hilfe seines Vaters gelang es auch. Mein Vater hat Holger Kolbrink dann auch in das Geheimnis eingeweiht und auf eine Reise mitgenommen.

      Als Freya starb, erbte mein Vater das Haus sehr zum Ärger von Hagen und dem Rest der Familie. Der Rest dürfte Ihnen bekannt sein.“

      Andreas nickte. „Einfach unglaublich“, sagte er leise. Sondra hatte den Kopf auf die Couchlehne gelegt und die Augen geschlossen. Das Fotoalbum lag längst auf dem Tisch. Vorsichtig nahm Andreas ihre rechte Hand in seine, fuhr sanft mit seinen Fingern an ihren Puls entlang. Ihre Haut begann wieder zu schimmern. Es war nicht sehr hell, aber intensiv.

      Spürbar!

      „Sie wollen mitkommen, nicht wahr?“

      Grüne Augen blickten prüfend in braune. Andreas wusste, das Sondra eine Frau war, die er nicht anlügen konnte. Er nickte lächelnd.

      „Sie müssen aber Ihrer Dienststelle und Ihrer Familie eine glaubwürdige Geschichte liefern. Holger kann Ihnen bei einem Alibi helfen.“

      „Ich habe noch Urlaub aus dem letzten Jahr übrig und in diesem Jahr noch gar keinen gemacht. Ich denke mal, dass das das kleinste Problem ist. Ich kann meiner Familie ja sagen, dass ich mit Ihnen verreise nach wohin-auch-immer und vorbereitete Briefe über Kolbrink verschicken, die meine Eltern ein wenig beruhigt.“