Ulrike Vaube

Frauenglück


Скачать книгу

entgegen. Auf den Photos, die ich meiner Mutter von uns schickte, stand ich entweder verdeckt von den Kindern, hatte gerade die Augen zu oder sie, in der Hoffnung sie größer erscheinen zu lassen, unnatürlich weit aufgerissen. Mit einem Wort: Ich war völlig unfotogen. Die Frage war nur, inwiefern konnte eine Kamera lügen? War ich wirklich so hässlich, wie ich auf den Photos aussah? Gewiss hatte ich es mit 44 gelernt, meine starken Punkte zu betonen, wie zum Beispiel meine ganz passable Figur (abgesehen von meinen zu dicken Oberschenkeln), meine verhältnismäßig glatte Haut und meine hohe, aristokratische Stirn. Ob ich meine vollen Lippen in Zukunft weiterhin zur Geltung bringen sollte, musste ich mir allerdings nach der Entdeckung der Blow-Job-Falten noch überlegen.

      Ehe Trudi mich auf ein weiteres, zweifellos schreckliches Photo bannen konnte, kamen mit lautem Gejohle die anderen beiden Damen an.

      „Alle mal herhören, Kinder! Die kulinarischen Götter meinen es gut mit uns. Unten im Dorf gibt es doch tatsächlich ein drei Sterne Restaurant. Ich habe einen Tisch reservieren lassen“, verkündete Eva in einem Ton als wäre es ihr soeben gelungen, eine Privataudienz beim Papst zu erwirken.

      „Aber zuerst die Arbeit und …“

      „Ich finde Frauke sollte anfangen, wo sie das Buch nun schon einmal gelesen hat“, fiel Eva Anneliese ins Wort und schoss Frauke einen frechen Blick zu.

      „Äh, bevor wir anfangen, eine kurze Frage, wer hat das Buch nicht gelesen? Braucht jemand eine kurze Zusammenfassung, à la ‚Was bisher geschah‘?“

      In Stephanies Ton lag Ironie. Mit dem strengen Ausdruck einer Professorin schaute sie über den Rand ihrer dunkelbraunen Hornbrille in die Gesichter ihrer Literaturstudentinnen.

      „Kaum zu glauben, alle haben es gelesen. Wie schön, dann können wir ja anfangen“, erklärte sie aufgeräumt und nickte Frauke zu.

      „Ach, ich lasse lieber dir den Vortritt, Stephanie“, wehrte Frauke ab.

      Unter den Buchclubdamen war Stephanie die fleißigste und disziplinierteste Leserin. Wenn sie ein Buch, das ihr gehörte, zu Ende gelesen hatte, sah es so durchgearbeitet aus wie früher ihre Studienunterlagen. Es war voller Unterstreichungen und Randbemerkungen, und wenn es nicht ihr eigenes Buch war, machte sie sich auf einem neben dem Buch liegenden Zettel Notizen. Stephanie hatte in aller Regel die besten Diskussionsbeiträge. Klaus meinte über Stephanie, die hätte Haare auf den Zähnen. Mit anderen Worten Stephanie war ihm zu intellektuell. Aber eben das mochte ich an ihr. Stephanie hatte Tiefgang. Wie eine Zecke konnte sie sich an einem Buch festsaugen. Es aussaugen, bis sie zum Schluss das Ganze, die Protagonisten, die Handlung, die Dialoge, Satz für Satz in ihrem Großhirn gespeichert hatte. Sie achtete auf Sprachnuancen, machte uns auf Allegorien aufmerksam. Dank ihr wussten wir, was Alliterationen und Metaphern waren. Sie brachte bestimmte Wortwahlen des Autors zur Diskussion und sezierte die Sätze mit einer Genauigkeit, die sie im Medizinstudium bei der Leichenobduktion erlernt haben musste. Nur Anneliese konnte ihr in den Buchbesprechungen das Wasser reichen und ich, wenn ich mich vorher auf dem Internet schlau gemacht hatte. Obwohl ich mich dies in letzter Zeit nicht mehr traute. Seitdem Stephanie gesagt hatte, anderer Leute Meinung als seine eigene auszugeben, hätte in der Tat etwas von Plagiatismus an sich. Die Frage war nur, woher wusste sie, dass es nicht meine eigene Meinung gewesen war?

      Stephanie verwies auf S. 119 in ‚Erklärt Pereira‘ und erklärte uns, wie Pereiras ‚hegemonisches Ich‘ zu verstehen wäre. Unsere Persönlichkeit bestünde aus einem Bündnis verschiedener Seelen, die der Herrschaft eines vorherrschenden Ichs unterstehen würden. Diese Vorherrschaft eines Ichs hielte solange an, bis es nach einem direkten Angriff oder durch eine langsame Erosion von einem anderen Ich ersetzt würde. Meine Gedanken schweiften ab. War meine zunehmende Unlust, was die 2-Tage-Regel betraf, eine langsame Erosion meines Ehefrau-Ichs? Drängte ein unabhängigeres, von der 2-Tage-Regel befreites Ich an die Oberfläche meiner faustischen Seelen? Es war nicht so, dass ich Klaus nicht liebte, dessen war ich mir sicher. So sicher wie man sich in diesen Dingen nur sein konnte. Ich liebte ihn als Freund, Wegbegleiter, Tom und Lizzys Vater, unseren Ernährer. Aber musste der Mann an meiner Seite notwendigerweise spätestens alle zwei Tage auch in mir sein? Wenn Klaus mit mir schlief, geschah das nicht in den Coelho’schen elf Minuten. Und ein Quicky, von denen es beileibe genug gab, zählte nicht mit bei der 2-Tage-Regel. Wenn er nicht mehr mit mir schlafen könnte, hatte Klaus in der Woche vor meiner Gebärmutteroperation gemeint, dann … nun, er könne jedenfalls nicht bis an das Ende seiner Tage ohne Sex dahinvegetieren, hatte er kategorisch erklärt und ein Gesicht gemacht, als wäre die ganze Sache meine Schuld.

      Es hätte sie erstaunt, wie der zu Beginn des Buches unpolitische Pereira stets politischer geworden wäre. Er hätte Stellung bezogen. Sie würde selbst soweit gehen zu behaupten, er hätte sich entschieden zu leben. Ob wir nicht auch den Eindruck gehabt hätten, dass er zu Beginn des Buches mehr tot als lebendig gewesen wäre? Das war Stephanies Trick, mit einer provokanten Frage, forderte sie die anderen zur Diskussion heraus. Pereira hätte erst vor kurzem seine Frau verloren. Kein Wunder hätte … Den Rest von Trudis Erwiderung bekam ich nicht mehr mit. Mein Herzschlag kam ins Stolpern. War das Klaus, der dort den Weinberg heraufkam? Was hatte er sich dabei gedacht, hier aufzukreuzen? Er wusste wie heilig mir die Buchclubwochenenden waren, wie wir sechs Frauen es genossen unter uns zu sein. Bis jetzt hatte ihn noch keine der Damen gesehen. Ich erwog, ihm entgegenzugehen, um ihn abzufangen. Der Mann beugte sich nach rechts und machte sich an einer der Reben zu schaffen. Hatte ich mich getäuscht, und es war gar nicht Klaus, sondern ein Arbeiter? Mit gesenktem Kopf kam er weiter auf uns zu. Noch immer hatten die anderen Damen ihn nicht entdeckt. Ich rutschte unruhig auf meinem Stuhl herum. So wie er näherkam, bemerkte ich, dass der Mann groß war, größer als Klaus. Was wollte der Typ? Wieder wandte er sich einer Rebe zu. Dieses Mal auf seiner linken Seite. Er pflückte an ein paar Blättern herum. Er schaute auf, und da ich die einzige war, die ihn beobachtete, nickte er mir zu. Ich grüßte. Die anderen Damen blickten von ihren Büchern auf. Am Ende der Reben blieb er stehen, groß, schlank, helle Haare, braune Augen, Ende vierzig.

      „Oh, hallo“, begrüßte Eva ihn wie einen alten Bekannten.

      Dabei ließ sie ihren Blick langsam von seinem braungebrannten Gesicht mit den haselnussbraunen Augen, zu seinen breiten Schultern, über seinen Schritt bis hinab zu den Schuhen wandern. Der Schuhtest musste positiv ausgefallen sein, denn Eva drückte reflexartig den Rücken durch und die Brüste nach vorne.

      „Hallo Martin“, rief Anneliese erfreut aus.

      Martin blieb zurückhaltend zwischen den Rosenbüschen stehen.

      „Kinder, das ist unser Vermieter“, stellte Anneliese vor.

      „Tollen Schuppen haben Sie da!“, komplimentierte Eva mit einem Augenaufschlag, der, wenn sie ihre künstlichen Wimpern dran geklebt hatte, umwerfend war, aber in Ermangelung derselben etwas lächerlich wirkte.

      „Ich finde Ihre mittelalterliche Burg phänomenal. Sie hat so etwas … Geheimnisvolles“, gurrte Eva und zeigte in einem gewinnenden Lächeln ihre Biberzähne.

      Danach nahm sie unmerklich die Schultern zurück und atmete ein. Die Knöpfe ihrer Bluse konnten ihren Busen kaum mehr im Zaum halten. Martin bedankte sich für ihre schmeichlerischen Worte und soweit ich sehen konnte, verließen seine Augen dabei nicht Evas Gesicht. Eins zu null für Martin, dachte ich.

      „Dürfen wir dich auf ein Glas Edelzwicker einladen?“, fragte Anneliese und machte Anstalten aufzustehen.

      „Nein, nein, ich wollte nur kurz nachsehen, ob alles zur Zufriedenheit der Damen ausgefallen ist“, grinste Martin.

      Ein Grinsen, das keinen Zweifel daran ließ, dass Martin ein gutaussehender, charmanter Mann im besten Alter war.

      „Schade“, flötete Eva.

      „Ich finde Ihr Quartier Français den Hit“, sagte Trudi und deutete auf die Flügeltüren hinter sich. „Und ihre Duftwolke-Rosen sind toll.“

      Ich hatte das Gefühl mich Trudis Lobgesang anschließen zu müssen.

      „Bei der Einrichtung unseres Hauses kann man richtig erkennen, wie sie von Mies van der Rohes ‚less is more‘ inspiriert worden sind.“