Paul D. Peters

Der Sturm der Krieger


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wieder einige Schritte auf den Gekreuzigten zu, aber ohne den Kopf zu heben. „Der Schmerz ist für alle unerträglich, aber dich, dich können wir anschreien, verfluchen und sogar quälen. Dich können wir als den einen Schuldigen für unseren größten Verlust benennen. Und du musst es ertragen, du hast keine Wahl. Aber hast du es auch wirklich verdient? Sind wir wahrhaft gerecht mit dem, was wir dir antun? Will ich, dass du...?“

      Die rothaarige Frau brach ab. Der schwarzhaarige Mann röchelte.

      Wieder konnte er keine Antwort geben, aber innerlich war er sich gewiss, dass er all das verdient hatte. Warug wusste zwar ganz genau, dass er einen Dämon erschlagen hatte, aber er trug alle Schuld an dessen Verfall zuvor. Einst Geächteter, dann Gnadenwandler und nun Gottschlächter: das Schicksal meinte es wahrlich nicht gut mit ihm.

      „Manche meinen sogar, dass es ohnehin im Sinne der Allmutter geschehen sei“, setzte Sanara mit einem Blick auf die Wölfe im Dunkel des Forstes fort. „Die Dritte Niederkunft des Einen Feindes naht und Krieg wird über die Welt ziehen. Kein Gott, keine Hoffnung, bloß Untergang. Vielleicht wäre der Klan mit dem Fatalismus, der seine Klauen und Zähne von nun an führen wird, wichtiger für das Wilde Heer, als wir es jetzt noch zu ahnen vermögen. Die erste Schlachtreihe würde ohnehin zur Gänze fallen, warum also nicht mit der verzweifelten Raserei von Verlorenen, die alles mit sich reißen? Ein höherer Plan vielleicht, aber ein erbarmungslos berechnender. Bei Arda und Erennos, was rede ich da eigentlich?“

      Deva Sanara seufzte laut, rieb sich die Augen und setzte sich auf einen Stein am Rande der Lichtung. Inzwischen fiel es ihr sehr schwer, zu ihm hoch zu sehen. Mehr und mehr verflog der Zorn in ihr und sie fühlte mit einem Mal sehr viel Mitleid, fast Angst um ihn. Sie wollte nicht, dass es für ihn auf eine solch erbärmliche Weise enden würde, egal was er getan hatte und ob es nun richtig gewesen war oder eben nicht. Ihr Gefährte von Einst wurde gefoltert, war zutiefst verhasst und verachtet, doch durfte auch sie über ihn so urteilen wie die anderen? Hatte sie ihn auf langer Reise nicht besser kennenlernen können und sein wahres Wesen erkannt? Hatte sie schließlich ihm nicht nur ihren Respekt, sondern auch ihre Zuneigung geschenkt?

      Wieder Tränen auf ihrem Gesicht, die sie zunächst gar nicht bemerkte. Nun wurde ihr völlig klar, weshalb Gava Meduna ihr verboten hatte, auch nur in seine Nähe zu kommen oder gar mit ihm zu reden. Sie begann sich für ihr Fehlverhalten zu schämen.

      „Der Zirkel wird ohne sein spirituelles Licht nicht untergehen, aber der Klan wird es, so viel ist gewiss. Und ich muss es mitansehen, so wie die gesamte Schwesternschaft. Ohne Gorond wird es keine neu erwachten Werkrieger mehr geben können. Ohne Gorond wird das Revier nicht mehr ausreichend bewacht werden können. Der Feind hat wieder einen großen Sieg über einen Klan errungen und so wie andere zuvor wird dieser vom Antlitz der Schöpfung getilgt werden. Der Magnor ist mit seinem Vater gefallen. Gottlos und führerlos seid ihr, daher greifen Wahn und Disziplinlosigkeit um sich. Schlimme Dinge sind passiert, viele schlimme Dinge. Manche Werwölfe sind verschwunden, manche nahmen sich das Leben und andere warfen sich gegen unbezwingbare Gegner. Manchmal mussten wir es beenden...“

      Sanara kam mit ihren Worten an einen ganz besonders schrecklichen Vorfall in den Sinn. Ein Rudel hatte bereits am vierten Tag nach dem Tod ihres Gottes auszurücken um einen Werwolf zur Strecke zu bringen, der in einer kleinen Kirche am Rande des Königreichs Avandor ein Massaker angerichtet hatte. Sie erblickten ihren in Blut getränkten Bruder auf einem Leichenberg von unschuldigen Sterblichen, wo er leise winselnd Gorond betrauert hatte. Es hatte keine Gegenwehr von ihm gegeben, als er niedergestreckt worden war. Dies war schließlich auch jener Tag gewesen, als Sanara ihre Herrin zum ersten Mal laut weinen gehört hatte. In den Katakomben unter dem Tempel von Sonne und Wolf, alleine und hinter der verschlossenen Pforte ihres Raums.

      Die Deva schreckte aus ihren Gedanken auf, als sie ein lautes Heulen in unmittelbarer Nähe hörte. Sie sollte endlich gehen, so wurde es ihr schnell klar. Sie war ohnehin schon viel zu lange hier, hatte viel zu viel gesagt und eigentlich hätte sie ihn gar nicht sehen dürfen.

      Sie musste sich sehr überwinden, um noch einmal auf den Gekreuzigten zu blicken. Er hatte offenbar das Bewusstsein wieder verloren, so stellte sie fest. Fast war sie froh darüber, denn so musste sie nicht mehr in ein so vollkommen gequältes Gesicht sehen und vielleicht waren ihm sogar einige ihrer schlimmen Worte erspart geblieben, da er sie nicht mehr hören hatte können. Sie konnte, sie wollte nicht mehr länger hier sein.

      „Es tut mir leid“, entkam es ihr plötzlich. „Es tut mir leid um dich, um... uns...“

      Dann sprang sie auf und lief davon, hinein in den Wald, zurück zum Heiligen Hain. Sie weinte und stolperte, sie schrie und betete. Manch ein Wolf sah ihr hinterher und mehr als einer senkte winselnd sein Haupt.

      Warug Gottschlächter hatte sie tatsächlich schon länger nicht mehr hören oder sehen können, aber als er später wieder zu sich kam, schrie er nicht nur wegen der Pein in seinem Körper, sonder auch weil sie nicht mehr da war.

      Am Abend des neunten Tages wurde die Hainstatt der Wölfe erfüllt von einem magischen Licht. Durch das Sphärenportal im Wald der Welt war er mit den Seinen gekommen und schließlich über einen Geisterpfad direkt hierher gelangt. Die Luft erglühte und zuerst berührte ein doppelt behuftes Bein von enormer Größe den Boden zwischen den Megalithen des Hauptplatzes. Nach dem Tod Goronds betrat zum ersten Mal ein anderer Wilder Gott den Wald der Welt: der Keilergott Toruskorr. Eine Leibgarde seiner Werkinder und Matronen-Botschafterinnen vom Zirkel im Osten begleiteten ihn. Tatsächlich wusste so gut wie niemand davon, außer der Erzmatrone, dass diese heilige Audienz für wenige Stunden stattfinden würde, ehe Toruskorr wieder in sein Reich zurückkehren sollte. Demnach fanden sich so überraschte wie neugierige Werwölfe, Matronen und Blutfolger auf dem Hain ein. In Ehrfurcht knieten sie nieder und senkten die Häupter.

      Gava Meduna und ihr Gefolge traten aus dem Tempel von Sonne und Wolf um den göttlichen Besucher in Empfang zu nehmen. Seit vielen Tagen hatte die Erzmatrone dieses Treffen vorbereitet, denn es ging nicht nur um das Urteil über den Gottschlächter, sondern auch um die Zukunft des Klans, der unbedingt wieder Führung und Einigung brauchte. Noch sollten die anderen trauern, noch sollten sie ihre Klauen in Warugs Körper rammen, aber die Erzmatrone und jene Rudelführer, die genau in dieser Situation klaren Kopf und Weisheit bewahren wollten, hatten sich bereits mehrfach zu Beratungen zusammengefunden.

      Durch den Weltschatten hindurch hatten sich die Gavas und Madas der Schwesternschaft permanent Botschaften zugesandt. Die Raben hatte man gemäß ihrer Pflicht zu offiziellen Gesandten von Klage und Kunde ernannt, die die geflügelten Werkrieger bis in den letzten Winkel der Welt trugen. Geister und Knochen waren befragt worden, besondere Schutzzauber wurden über das Revier und den nun gottlosen Hort mit der Höhle Goronds gewoben. Darüber hinaus mussten die Grenzen des Waldes der Welt weiterhin bewacht, die einfallenden Skrael in den Hinterlanden bekämpft und andere Feinde diesseits und jenseits des Schleiers zur Strecke gebracht werden. Es musste weiterhin der Bund mit den freien Marken der Kelltonen im Norden des Reviers aufrecht erhalten werden. Es mussten Pflichten erfüllt und Funktionen ausgeübt werden und kein Sterblicher im Alten Glauben durfte vorerst vom Tod ihres Gottes Gorond erfahren.

      All dies und mehr musste nun die Erzmatrone von Angesicht zu Angesicht mit dem Vater der Keiler besprechen. Und er wollte den Gottschlächter sehen. Am allerwichtigsten wären aber die Vorbereitungen für ein Ereignis, wie es zuletzt vor zweihundert Jahren zur Zeit der Brennenden Hetze geschehen war. Ein großes und heiliges Ereignis, wie es die Welt nur sehr selten zu sehen bekam. Ein Ereignis, bei dem alles Schicksal entschieden werden würde.

      Kapitel 2: AM BAUM DER ANKLAGE

      Es war Nacht und eigentlich hätte es mit dem verschneiten Himmel dunkler sein müssen, aber allein die Schatten waren schwarz, alles andere zeigte sich mit der Klarheit von tiefem Blau. Es war recht still, denn der Chor in Trauer war vor einer Weile verstummt und nur vereinzelt ertönte die Klage eines Wolfs.

      Die Luft klirrte mit Kälte. Der Wind begann aufzubrausen und trug ein lautes Stampfen im Schnee herbei. Ein brummendes Atmen von einem gewaltigen Tier, ein Grunzen von einem großen Rüssel. In der Richtung, in der sich das