Paul D. Peters

Der Sturm der Krieger


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kamen sie lautlos, die Werwölfe. Es mochten gar mehrere Rudel sein, die in ihrer Tiergestalt aus dem Wald heraus traten. So elegant wie langsam bewegten sie sich und jedes Mal, wenn ihre Pfoten die Schneedecke berührten, war nicht ein Geräusch zu vernehmen. Leicht gesenkt die Häupter, bohrend die wilden Blicke. Schwarz, grau, weiß, rot und braun waren die Fellfarben der Bruderschar. Manche davon schienen mit erblassten Strähnen und ausgeprägteren Schädelcharakteristika, während andere deutlich jünger in Bewegung und Gestalt wirkten. Ebenso unterschieden sie sich in der Größe und in manchen Merkmalen wie deutlich sichtbaren Narben, auffälligen Mustern im Pelz oder magischen Artefakten wie einem Reif ums Vorderbein.

      Sie taten aber vorerst nichts, sondern nahmen eine seltsame halbkreisförmige Formation vor ihm und dem Baum der Anklage ein. Dann verwandelten sie sich auffällig langsam. Pfote wurde zu Hand, Bein zu Arm, Schädel zu Kopf, Fell zu Haut. Zuerst auf allen Vieren und dann auf Zwei. Alle trugen Kleidungsstücke, die zunächst wie ein flüssiger Film aus dem Pelz heraus traten und sich schließlich über den nun menschlichen Körper legten. Ihre Blicke bohrten sich währenddessen noch eindringlicher in den Seinen.

      So standen sie aufrecht da, fast fünfzig Krieger von Klan Wolf. Ihr Atmen war nicht zu hören, aber zu sehen. Viele waren eher von höherem Alter und Rang, die teils bereits ergraute Bärte, unübersehbare Narben und auffällige Tätowierungen trugen. Veteranen, ja sogar einige der weithin bekannten Rudelführer wie Swikull Grimmbringer. Doch ebenso gab es so einige junge Brüder unter ihnen, die ihre erste Verwandlung vor weniger als einem Jahr durchlebt hatten.

      Für eine Weile rauschte der Wind sehr laut. Eine seltsame Mischung aus Anspannung und Bedrücktheit lag in der Luft. Warug begann den Moment etwas klarer wahr zu nehmen, die Schemen schärften sich, die Laute wurden deutlicher für ihn. Sollten sie endlich mit ihm verfahren, wie sie wollten, so dachte er. Hier, mein Leib, mein Opfer für euch, so dachte er.

      Fast gleichzeitig gingen sie auf die Knie und senkten ihre Häupter. Ein überraschtes Stöhnen entfuhr dem Gottschlächter.

      So verweilten die Werwölfe in ihrer offensichtlichen Bezeugung von Respekt für einen Gekreuzigten, vielleicht sogar Dankbarkeit und Demut. Es verging eine Weile, ehe einer nach dem anderen sich langsam erhob, nach vorne trat und - ohne den Bruder am Baum der Anklage anzusehen - berührten sie kurz mit drei Fingern seinen rechten Fuß. Dann verschwand die seltsame Prozession wieder im Wald.

      Warug hatte keinerlei Begriff, was hier gerade geschehen war.

      Erst nachdem ihm kurz rot und schwarz vor dem einen Auge wurde, bemerkte er, dass da noch immer ein Bruder stand. Zunehmend schlechter wurde seine Sehkraft, aber diesen da sah er noch klar vor sich. Er erkannte ihn sogleich. Es war Brander Flammenkrieger, an dessen Seite er mit Gorond zum Weltenbaum gezogen war. Der junge Werwolf mit rotblondem Haar war mit Warug der einzige der auserwählten Neun gewesen, der die Schlacht gegen die Heerschar des Einen Feindes überlebt hatte. Der Geächtete von Einst konnte sich noch an die blutigen Tränen seines Bruders erinnern, an diesen unvergesslichen Ausdruck in seinem Gesicht, als er den mit Triumph taumelnden Gottschlächter über den enthaupteten Leib seines Gottvaters gesehen hatte.

      Aber jetzt stand er so vor ihm, mit einem seltsam leeren Blick, der aber zugleich irgendwie von Achtung geprägt war. Oder täuschte sich Warug gerade so sehr, so fragte er sich?

      Brander trat nun ebenso nach vorne, drei Finger berührten den dunkelblau gefrorenen Fuß des Halbtoten am Baum.

      Irgendetwas flüsterte er noch kurz, ehe er wie die anderen in den Wald gehen sollte. Der Geächtete von Einst war sich nicht sicher, was er gerade gehört hatte, aber es klang wohl wie: „Wir für dich, Bruder. Befreier vom gefallenen Vater.“

      So gänzlich ohne einen Laut wie er erschienen war auf der Lichtung, verschwand Brander Flammenkrieger auch wieder.

      Es war der zwölfte Tag, da er da hing. Bald schon würde der Abend dämmern, bald schon würde die silbernen Nägel aus seinem Fleisch gezogen werden und nimmermehr müsste er das zur Schau gestellte Opfer für alle sein.

      Warug Gottschlächter spürte eigentlich seit einer Weile so gut wie nichts mehr im ganzen Leib. Inzwischen wusste er auch nicht mehr, ob er nun erblindet sei. Abgefrorene Zehen und Fingern lagen neben der fast schwarzen Zunge vor ihm im Schnee. Der Wind hatte die dunkelbraune Lache wieder etwas frei geweht. Sein getrocknetes Blut am Baum hatte beinahe die Farbe der Rinde angenommen. Kaum eine Wunde glänzte noch feucht und frisch, aber selbst wenn sie von Taubheit und Kälte beherrscht wurden, so bedeutete dies noch keinerlei Form von ausreichender Heilung. Am Gefährlichsten waren für ihn die schweren Bauchverletzungen. Offen klafften die Schlitze, die gerade noch so keine heraus quellenden Darmschlingen zeigten. Was seine Brüder und Schwestern noch an mit Leben verbliebenen Fleisch herunterholen konnten, wagte er sich gerade nicht vorzustellen.

      Warug spürte nicht einen Funken an verbliebener Regenerationskraft mehr in ihm. Alles war nur noch ein gleichförmiger, unbeweglicher, dumpf pulsierender Klumpen, zusammengeschnürt mit rissiger Haut, gestopft mit klammen Knochen und scheinbar zerfetzten Innereien, in dem eine Seele mit dem brechenden Rest von Stofflichkeit eingekerkert war.

      Und so dämmerte der Abend. Als er sie zum ersten Mal nach all den vielen Tagen wieder roch, bemerkte er erstaunt, dass er überhaupt noch riechen konnte.

      Er mochte nicht mehr sehen können, auch wenn er es noch einmal fast verzweifelt versuchte. Aber er konnte immer noch hören und er konnte ihren Duft in sich aufsaugen, ja das konnte er. Und er konnte träumen von ihr, im Geiste ein Bild von ihr formen. Er stellte sie sich vor, in all ihrer Schönheit, mit ihrer wundervoll blassen Haut, dem roten Haar, den grünen Augen, dem wohl geformten Leib. Er wünschte sie sich mit strahlendem Lächeln, das ihm dereinst alle Ruhe und alles Glück zu versprechen vermocht hatte, aber egal wie sehr er sich mühte mit seiner Fantasie, ihr Antlitz blieb immer traurig und ernst.

      Da wurde ihm gewahr, dass er beinahe vergessen hatte, wie stark die Sehnsucht sein konnte, so stark nach einem Anderen. Und wie sehr sie schmerzen konnte, wenn die Erfüllung so nah, so unmittelbar schien und doch so unmöglich sie zu leben.

      So trat Deva Sanara aus dem Wald der Welt heraus, so nahmen es seine Sinne wahr, ebenso erkannte er noch andere. Schwere Schritte von Brüdern, leichtere von zwei anderen Matronen, die ihre Stäbe vor sich in den Schnee aufsetzten. Sie kamen näher, mochten nun direkt unter ihm sein. Sie sprachen miteinander, aber er verstand sie kaum. Was noch an Leben in ihm war, entwich langsam und fast war er froh darüber, denn damit ging endlich ein vollkommenes Loslassen von Seele und Leib einher, was gerade so wohltuend und gerecht erschien.

      Ein Klanskrieger kletterte mit Klauen den Stamm hoch. Der silberne Nagel in seiner linken Hand wurde herausgerissen, dann der aus seiner Schulter, dann der nächste. Er hatte nur noch die Wahrnehmung von einem kurzen Ziehen irgendwo in seinem Körper, was mehr als einmal geschah. Er sank trotz Erfrierungen und Steifheit langsam nach vorne und weiter in sich zusammen, aber man hielt ihn fest, fing ihn auf. Iirgendwann glaubte er sich tatsächlich wieder auf dem Boden liegend wieder zu finden. Kalt knisterte es entlang seines gesamten Rückens. Seine Finger spürten keine Kühle mehr, aber den Widerstand der obersten Schicht der Schneedecke, die ihm gerade wie eine undurchdringliche Steinplatte vorkam.

      Er hörte die Matronen lauter sprechen, aber er verstand nicht ein Wort. Gava Meduna war jedenfalls nicht dabei. Warug versuchte Sanaras Stimme herauszuhören, aber es gelang ihm nicht und irgendwann fiel ihm auf, dass sie tatsächlich nichts zu ihm sagte oder gar überhaupt nicht sprach. Ihr Schweigen gegenüber ihm war gewiss eine weitere, schreckliche Strafe, die allein ihm und seiner Sünde gebührte.

      Die Zauberinnen des Zirkels begannen ihr heilendes Werk. Er nahm die Bewegungen ihrer Arme und Hände wahr, ihrer Stäbe über ihm. Und dann wollte alles Leben wieder in ihn kehren, plötzlich und schmerzhaft. Er stöhnte laut auf, zitterte und warf den Kopf von links nach rechts. Da war sie wieder, die berstende Regenerationskraft eines Werkriegers, die von den tiefsten Innereien herauf stürmte und jeden Nerv, jeden Knochen, jeden Muskel und jede Faser seines Körpers gänzlich zu erfassen begann. Doch ehe alles zu viel wurde, war da allein Entspannung und Ruhe in ihm. Sie stabilisierten seinen Zustand, hatten ihn vorerst versorgt und eine erste Heilung vollzogen.