Paul D. Peters

Der Sturm der Krieger


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euch Toruskorr gegeben, mit seinem Wort unter dem Baum der Anklage.“

      Gava Meduna konnte Warugs gehetzte Gedankengänge und seinen bebenden Unglauben an jeder seiner Zuckungen und an seinem Antlitz ohne Blick leicht, nur allzu leicht ablesen. Sie brauchte nicht einmal mit ihrer Macht in seinen Geist hinein zu reichen, um zu sehen und zu verstehen. Er würde dies noch länger mit sich tragen, diesen Widerstand gegen sein Schicksal.

      So sprach sie dann im lauten Tonfall: „Selbst wenn ihr in der Letzten Schlacht im größten Unglauben fallen werdet, so wird sich euer Schicksal erfüllt haben. Ihr müsst nichts begreifen, ihr müsst nur handeln und dies werdet ihr, so ihr denn bis zuletzt der Verderbnis durch den Einen Feind entsagen könnt. Zu oft habt auch ihr selbst erlebt, wie groß die Macht aus dem Abgrund bereits geworden ist und das der Schatten selbst an den heiligsten Orten erscheinen kann. Sogar die Kinder der Wilden Götter können nun also zu Verrätern werden, zu Gefallenen. Wappnet euch, denn zu viel hängt nun allein von euch ab.“

      Er zitterte wieder. Sie seufzte und erhob sich. Sie ging einige Schritte durch den Raum, streifte mit den Fingern über die von Runen verzierte Felswand. Genau spürte sie die Korrektheit der Linien, sah mit prüfenden Blick, auf dass ja kein Kreidestrich zu sehr verblasst sei oder eine Matrone beim Zeichnen auch nur den kleinsten Fehler gemacht hätte. Zufrieden bemerkte sie, dass ihre Schwestern hier gänzlich sorgsam und gewissenhaft am Werk gewesen waren.

      Es galt noch ein paar Dinge zu sagen, also setzte sie fort: „Was ich nicht weiß, ist, wie es euch weiter ergehen wird. Was ich nicht weiß, ist, in welcher Weise genau ihr als Auserwählter agieren sollt. Vielleicht sollt ihr gar lange vor der Letzten Schlacht sterben, vielleicht werdet ihr auch der Allerletzte auf blutigen Bergen sein. Vielleicht stürzt ihr euch in den ewigen Schlund des Weltendrachens und erlischt für immer oder vielleicht habt ihr noch weitere Wilde Götter zu vernichten. Vielleicht ist die Zukunft in Asche, die ihr gesehen habt, die einzig wahre. Vielleicht kommt es so oder doch ganz anders, aber eines ist gewiss: weitere Auserwählte werden noch in Erscheinung treten. Alles wird sich zeigen, alles wird offenbart werden, noch vor der letzten Stunde für diese Welt, die dann zugleich die erste Stunde für eine neue Welt sein mag.“

      Die Erzmatrone schritt direkt auf ihn zu und beugte sich über den Gebetteten. Sie horchte mit geneigtem Kopf. Regelmäßiges Atmen aus gesunden Lungen. Durch den halb geöffneten Mund erkannte sie, dass die Zunge tatsächlich weiter nachgewachsen war. Sehr bald würde er wieder sprechen können. Er war jetzt ganz ruhig, so fiel ihr auf. Er nahm alles wieder mit Fassung an. Würde er etwa eher begreifen?

      Sie konnte nicht anders, als auch hier genauer zu prüfen, ob die Verbände richtig gewickelt waren, ob die Kräuterpasten noch frisch genug rochen und ob die Wundheilung ausreichend weit voran geschritten war. Alles war erneut zu ihrer vollen Zufriedenheit. Gava Meduna nahm sich vor, Aedeina Melithandra später ausdrücklich zu loben.

      Die Rune mit Bluterde, die Sanara auf seine Stirn gemalt hatte, nachdem er vom Baum der Anklage genommen worden war, glänzte aufgefrischt. Gava Meduna erkannte an der feinen Linienführung sofort, dass die neu erkorene Deva dies getan hatte. Sie war also wieder hier gewesen, ihre einstmals beste Schülerin, die ihrer Überzeugung nach für noch Höheres berufen war. Die Erzmatrone beschloss, das Schweigegelübde ihrer jungen Schwester aufzulösen. Sie hatte mit dem Werwolf zu reden. Er sehnte sich gewiss schon länger danach, aber auch Sanaras Wahrheiten würden für ihn nicht einfach anzunehmen sein. Die Gava spürte bezogen darauf praktisch kein Mitempfinden, denn dieses prolongierte Naheverhältnis hatte sie eigentlich von Anfang an gestört.

      Das von Tätowierungen verzierte Gesicht Medunas verfinsterte sich etwas.

      „Eine weitere und die für heute letzte Wahrheit, die die Konsequenzen eures Handelns verdeutlicht, soll euch nicht erspart bleiben: der Erwählte Empfänger, der für die Wiedergeburt Goronds gefunden und in den Hort des Klans gebracht worden war, starb einen mehr als grässlichen Tod. Als euer Vater zum Dämon wurde, formte und entstellte sich sein Fleisch bereits. Etwas wollte durch seinen Körper über die Schwelle treten, eine Abscheulichkeit aus dem Abgrund. Die Matronen, die im Kreis um ihn herum saßen, konnten es für eine ganze Weile noch aufhalten. Zu spät sah ich die Schlacht am Weltenbaum, zu spät sah ich euch im Duell mit Goronds Dämon. Eines aber muss zu jener Stunde tatsächlich mit göttlicher Lenkung geschehen sein: das Wunder der silbernen Klinge, der Waffe Graufeuer, die euch geschickt wurde, müssen Allmutter oder Allvater erwirkt haben. Nur mit ihr hattet ihr eine Chance. Im Augenwinkel sah ich noch, wie sie aus dem Tempel wie von selbst verschwand. Und als ihr schließlich mit entflammter Klaue zum Gottschlächter wurdet und ihm dem Kopf abschlugt, drängte die Abscheulichkeit sich noch einmal mit aller Gewalt in diese Welt. Zwei der Schwestern tötete es, ehe wir es vernichten konnten. Vom Erwählten Empfänger, von diesem kleinen Jungen von dreizehn Jahren, blieb nur noch verformtes und schwarzes Fleisch inmitten des von Blut besudelten Runenzirkels. Oh grausam sind die dunklen Mächte. Oh schrecklich die bösen Geister.“

      Er reagierte nicht darauf, aber sie spürte die Trauer in ihm. Erneut hatte sie ihn nach den vielen Worten an seine Tat erinnert. Es ließ sie jedoch hoffen, dass er eine Empathie für die Sterblichen, vor allem für deren Kinder von Unschuld, noch nicht verloren hatte. Sooft hatte er bereits getötet und so verhasst waren ihm die Menschen in vielen Dingen, aber dies ließ ihn nicht kalt, dies erweckte noch das rechte Gefühl in ihm.

      Leiser als beabsichtigt sagte sie: „Verratet niemandem, was ich euch gerade offenbart habe, Warug Gottschlächter, denn all dies war allein für euch bestimmt. Vieles wissen nur die Matronen und ihr, vieles wissen jetzt nur ihr und ich. Alles jedoch, wissen die Götter.“

      Gava Meduna wurde im nächsten Augenblick sehr melancholisch. Ein wenig froh war sie, dass der Werwolf, der da ohne Sehvermögen lag, ihr Antlitz gerade in jenem Moment nicht erblicken konnte, denn darin war nicht mehr jene Stärke und jener Stolz, den sie sonst für jeden anderen und an jedem Tag zu zeigen hatte.

      Letztlich war sie doch einsam, in ihrer Funktion an der Spitze. Seit ihre innigst vertraute Freundin bereits vor längerer Zeit gestorben war, hatte sie niemanden mehr, gegenüber dem sie alle Verletzlichkeit zeigen konnte oder wollte. Sie kam gut zurecht, mit dem Alleinsein und es geschah soviel, sie hatte soviel an Verantwortungen und Notwendigkeiten, mit denen sie beschäftigt war, die sie alle ablenkten, aber auch wenn sie natürlich für Götter, Schwesternschaft und Klan alles mit Freude aufopferte, so war sie nicht nur eine Erwachte mit außerordentlicher Macht, sondern ebenso ein Mensch mit einfachen Wünschen und Sehnsüchten. Manchmal vergaß sie dies tatsächlich. Das Alter mochte auch das seine beitragen. Wie viele Jahre blieben ihr wohl noch, so fragte sie sich? Würde sie an der Letzten Schlacht überhaupt noch teilnehmen? Würde sie das Ende von diesem da, dem Auserwählten, der eigentlich nur lebte, weil sie gehorcht hatte, noch sehen?

      „Unglücklich das Zeitalter, das Helden nötig hat.“, entfuhr es ihr fast ungewollt.

      Er hörte sie wohl. Sie begriff gerade, dass sie sich in diesem Moment zumindest ein gewisses Maß an Schwäche und Verletzlichkeit ausgerechnet gegenüber ihm zu erlauben schien.

      Mit festerer Stimme frage sie noch: „Wird es je ein Zeitalter geben, das keine Helden nötig hat?“

      Ein letztes Mal blickte Gava Meduna noch so fragend wie zweifelnd in Warugs verbundenes Antlitz. Er konnte natürlich keine Antwort geben, aber vielleicht war gerade er die Antwort? Vielleicht war er einer der letzten Auserwählten, die die Welt der Allmutter jemals nötig hatte. Vielleicht würde mit seinem Ende alles wieder von vorne beginnen, im ewigen Zyklus, so wie es für alles andere galt. Vielleicht würde aber am Ende tatsächlich alles enden. Freilich wollte und konnte sie dies nicht glauben, aber sie musste es fürchten.

      Dann verließ sie den Raum. Sie war sehr müde geworden, die alte Frau. Etwas Schlaf würde ihr bestimmt gut tun. Nur wenige Stunden blieben ihr für einen erholenden Schlummer, denn die nächste Versammlung musste wieder vorbereitet werden. Und noch so vieles andere gab es zu tun, so vieles andere. Zuerst seufzte sie, aber dann begann sie spontan zu lächeln.

      „Ein großes Wunder wird geschehen, sehr bald schon“, so flüsterte sie in sich hinein.

      „Hörst du mich, Wolf?“, fragte Sanara.

      Warug