sie aber schnell ab. Diese Chance darf ich mir nicht entgehen lassen. Mit leisen Schritten eilte sie den Flur entlang und erreichte bald ihre eigene Schlafkammer. Sie lauschte kurz an der Tür, öffnete sie und schlüpfte unbemerkt hinein. Die Schlafkammer war unverändert geblieben, ein Zeichen dafür, dass sie niemand bewohnte. Die Gräfin setzte sich auf ihr Himmelbett und versuchte sich mühevoll von ihren Handfesseln zu befreien.
Als Ritter Lucas seine Schlafkammer wieder betrat, war Saphira verschwunden. Enttäuscht, dass sie ihm nicht vertraute, warf er den Beutel mit Proviant auf das Bett und sah besorgt aus dem Fenster. Doch außer Baumkronen konnte er nichts auffälliges sehen.
„Saphira“, flüsterte er den Namen, den er ihr gegeben hatte, in die Morgenstille.
„Ich weiß nicht einmal deinen richtigen Namen.“ Ihn überkam Reue, nicht darauf bestanden zu haben, dass sie ihm ihren Namen verriet. Er umschloss mit der rechten Hand ihre Kette, die er an seinem Hals trug und schwor sich, Saphira zu finden. Er war sich sicher, dass sie durch den Geheimgang geflohen war. Wenn er ihr jetzt auf demselben Wege folgen würde, dann würden die anderen Ritter von seiner Existenz erfahren und das würde für seinen Vetter zu einer Gefahr werden. Und wo sich sein Ausgang befand, wusste Lucas nicht. Oh, Saphira. Wieso vertraust du mir nicht? Er nahm wieder seinen Beutel und verließ mit gemischten Gefühlen die Kammer. Er musste sie finden, noch bevor es jemand anders tat.
Der junge Ritter überquerte den Hof und ging zum Stall. Er ging an zwei Mägde vorbei und hörte, wie die eine zu der anderen sagte: „Ich habe Gräfin Stephania in ihrer Schlafkammer verschwinden sehen.“
Ritter Lucas verlangsamte seine Schritte.
„Das ist nicht wahr“, konnte die andere nicht glauben.
„Doch, du kannst mir glauben. Ich habe sie wirklich gesehen. Nur trug sie dieselbe Kleidung wie wir.“ Sie zeigte mit der freien Hand auf ihr graues Kleid aus grober Wolle.
„Du musst dich geirrt haben. Unsere Gräfin würde niemals …“ Die Magd verstummte, als sie merkte, wie ein Ritter plötzlich stehengeblieben war und sich zu ihr herumdrehte. Er sah die beiden mit einer undurchschaubaren Miene an.
Sollte er sie fragen, wo sich die Schlafkammer der Gräfin befand? Nein, besser nicht, entschied er sich.
„Euer Hochgeboren“, knicksten die beiden Mägde.
„Habt ihr nichts Besseres zutun als zu Tratschen?“ In seiner Stimme schwang ein strenger Unterton.
„Verzeihen Sie uns“, entschuldigten sie sich mit gesenkten Köpfen und gingen mit schnellen Schritten weiter. Sie trugen Wassereimer in die Küche.
Dann hob der Ritter seinen Blick und ließ ihn über die Fenster wandern. Saphira ist also noch da. Hinter irgendeinem der Fenster muss sich ihre Schlafkammer befinden.
Als er sich wieder umdrehte, blitzte in seinem Gesicht ein Lächeln auf. Jetzt kenne ich auch deinen Namen. Und sein Lächeln verschwand sofort wieder. Er ging in den Stall und sah nach seinem Pferd.
***
Es vergingen viele Stunden und der Magen der Gräfin zog sich vor Hunger schmerzhaft zusammen. Sie lag auf ihrem Bett und hielt sich den Bauch. Sie könnte sich in die Küche schleichen und etwas Essbares entwenden, aber das Risiko entdeckt und womöglich dem neuen Burgherren ausgeliefert zu werden war viel zu groß. Jeden Augenblick müsste der König erscheinen. Wo bleibt er bloß? Er hätte doch schon längst hier sein müssen.
***
Als sich die Geräusche im Flur veränderten, lauter und hecktischer wurden, ahnte sie, dass der hohe Besuch eingetroffen war. Vor Aufregung vergaß sie schnell ihren Hunger und setzte sich auf. Ihre Hand fuhr prüfend über die Frisur. Sie ertastete gelöste Strähnen, die über Brust und Schulter hingen. Die Frisur war zerstört. Schnell öffnete sie ihr Haar, legte den Kopf in den Nacken und schüttelte ihn, sodass das lange, schwarze Haar über ihre Schultern fiel. Sie suchte sich im Schrank ein schönes Kleid aus und zog es an. Ohne die Hilfe einer Zofe brauchte sie länger dafür. Dann setzte sie sich an den Frisiertisch und bürstete ihr Haar. Sie nahm die obere Hälfte zusammen, flocht einen Zopf und knotete es auf dem Hinterkopf zusammen. Steckte mehrere weiße Perlen in den Knoten und bürstete die untere Hälfte ihres Haars, bis es weich wurde und im Tageslicht leicht glänzte. Sie prüfte ihre Frisur im Handspiegel. Dann verzog sie ihre Lippen zu einem Lächeln und betrachtete sich darin. Drehte das Gesicht prüfend von der einen Seite zur anderen. Gut, stellte sie zufrieden fest.
***
Es war früher Abend. Der Himmel färbte sich leicht orange, als der König und seine Gefolgschaft in die Burg kamen. Der König wurde von Ritter Balthasar mit einem Kelch Wein herzlich empfangen.
Später saßen die beiden in der Speisehalle an der Kopfseite einer langen Tafel. Die Ritter der Burg und Adelige aus der Gefolgschaft seiner Majestät leisteten ihnen Gesellschaft. Während die Diener den Herrschaften die Kelche mit Wein füllten servierten Küchengehilfinnen die warme Mahlzeit, die für den Mittag zubereitet worden war. Ein appetitlicher Duft stand in der Luft.
Gräfin Stephania kam leise in die Küche. Sie sah, wie sehr beschäftigt die Köchinnen waren und die Küchengehilfinnen hin und her liefen, sodass sie ihr Erscheinen zuerst gar nicht bemerkten. Da sie großen Hunger hatte stibitzte sie ein süßes Gebäck aus der Schale, das als Nachspeise gedacht war, und verließ schnell wieder die Küche, bevor noch jemand auf sie aufmerksam wurde. Sie eilte um die Ecke und wartete dort auf den richtigen Augenblick, um vor den König zu träten.
***
Nachdem das Abendessen serviert war stand der Burgherr mit einem goldenen Kelch in der Hand auf und sagte an den König gewandt, wie geehrt er sich fühle, einen so hohen Gast bei sich in der Burg empfangen zu dürfen. Dann sah er zu den anderen Gästen, der Gefolgschaft seiner Majestät, und sagte: „Ihr seid alle herzlich Willkommen auf Burg Wolffsburg. Ich wünsche Euch eine schöne Zeit hier.“ Ritter Balthasar hob lächelnd seinen vollen Kelch und prostete ihnen allen zu. Die anderen taten dasselbe. Aber im Innersten wünschte er sich, der König wäre nie gekommen, denn seine Verpflegung und die seiner Gefolgschaft waren sehr kostspielig.
Während dem Essen plauderten die Gäste fröhlich miteinander und Ritter Balthasar vertiefte sich mit dem König in ein Gespräch. Dann als die Nachspeise serviert wurde, erklang eine liebliche Stimme, begleitet von einer zarten Melodie. Neugierige Blicke wanderten zu der Ecke, aus der die schöne Stimme kam. Eine junge Frau im leuchtend gelben Kleid saß auf einem Hocker und sang ein Lied. Ihren Kopf hielt sie leicht gesenkt, als ob sie auf die Seiten ihrer Laute sehe, auf der sie spielte. Sofort verstummten die Gespräche und Gräfin Stephania hatte die Aufmerksamkeit aller Burgbewohner und der Gäste.
„Wer ist sie?“, fragte der König flüsternd nach einer Weile.
„Ich weiß es nicht“, antwortete der Burgherr. Diese schwarzen Haare habe ich aber schon einmal gesehen. Nur konnte er sich nicht mehr an die Person erinnern, die sie hatte.
„Sie singt mit so einem Gefühl …, als ob sie selbst spürt, was sie da singt“, sagte eine Frau mit feuerroten Locken, die neben dem König saß. Der nickte. Sie bewunderte ihre Stimme. Er konnte den Blick von der Sängerin nicht abwenden.
Ritter Lucas saß angespannt neben seinem Vetter. Was hat sie vor?, fragte er sich besorgt. Er schielte zum König, dann zu seinem Vetter. Beide schienen von Stephania begeistert zu sein.
Aber wird die Begeisterung auch bleiben, wenn sie erfahren, wer sie ist?
Stephania sang ein Lied über sich selbst, was keiner ahnte. Sie erzählte in singender Form von dem traurigen Schicksal, dass sie in den letzten Tagen erlebt hatte und dass der Mörder noch immer nach ihrem Leben trachtete.
Dem König entglitt eine Träne. Schnell wischte er sie weg, bevor sie jemand sehen konnte. Es waren nicht die Worte, die ihn zu Tränen rührten, sondern der Gesang.