Nadja Christin

Natascha


Скачать книгу

Seine ganze Haltung ließ den Schmerz erahnen, den er zu bewältigen hatte.

      »Justin, ist alles klar, bei dir?«, fragte ich ihn vorsichtig. Er nahm die Hände runter und blickte mich an. Seine Augen hatten jegliches Braun verloren, nur noch das raubtierartige Gelb war zu erkennen. In seinem Inneren tobte ein Kampf, ein heftiger Kampf. Sein Mund verzog sich, ich sah die spitzen Zähne. Er schien wirklich Durst zu haben.

      »Nein, mir geht’s gar nicht gut. Ich …weiß auch nicht.« Er klang verzweifelt.

      »Justin, wir müssen dir was zu trinken besorgen. So kommen wir nicht weit.« Ich hob meine Hand und wollte ihm über die Wange streichen. Er wich blitzartig zurück und stieß ein kurzes Geräusch, beinahe wie ein Fauchen, aus. Seine Augen waren vor Schreck geweitet. Ich ließ meine Hand sinken und blickte aus der Frontscheibe auf die Straße.

      »Entschuldige«, murmelte Justin, »ich glaube nicht, dass ich deine Berührung jetzt ertragen könnte.«

      Ich überlegte fieberhaft, wo ich jetzt etwas Nahrhaftes für ihn auftreiben konnte.

      Ich werde ihn mit zu mir nach Hause nehmen, da war mein kleiner Konservenvorrat noch. Das würde ihm erst einmal über das Schlimmste hinweghelfen.

      »Justin, wir fahren schnell zu mir, da hab ich noch was im Kühlschrank.«

      Er krümmte sich in seinem Sitz. Ich presste die Lippen zusammen und gab Gas. Der Mustang gehorchte und brüllte unter mir auf. Kurz darauf lenkte ich den Wagen auch schon in die Tiefgarage. Ich parkte auf meinem Parkplatz, der Van meines Nachbarn stand noch daneben.

      »Willst du im Auto bleiben? Ich kann schnell hoch laufen, das Zeug holen und wir können dann weiter.«

      Ich sah Justin fragend an. Er schüttelte den Kopf.

      »Nein, … will …mit«, stieß er zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor. Wir stiegen beide aus und gingen schweigend nebeneinander her in Richtung Treppenhaus.

      Den Griff der Tür, die zum Treppenhaus führte, hatte ich schon in der Hand. Ich sah Justin flüchtig an, blickte in seine Raubtieraugen, seine Zähne waren lang und spitz, die Lippen darüber zurückgezogen. Ich beobachtete seine angespannte, gekrümmte Haltung, beinahe spürte ich seinen Schmerz. Ich überlegte, ob das damals bei mir auch so war, hatte ich auch diese Schmerzen, dieses Verlangen, diesen Durst?

      Ich wusste es nicht mehr.

      Leider.

      Sonst wäre ich besser vorbereitet gewesen, ich hätte Bescheid gewusst, vielleicht sogar erahnen können, was da auf mich zukam.

      Ich zog die Tür zum Treppenhaus auf und zwei Dinge geschahen annähernd gleichzeitig.

      Ein Mensch stand im Türrahmen, ich erkannte ihn als den Mieter unter mir - Ralph.

      Er sah mich kurz erstaunt an und wollte gerade die Hand zu einem Gruß erheben.

      Das war die letzte Bewegung, die er in seinem Leben ausführte. Justin stürzte sich auf ihn, noch ehe Ralph seine Hand richtig anhob. Das Ganze dauerte noch nicht mal ein Blinzeln, ich war vollkommen erstarrt und hielt immer noch die Tür auf, ganz so, als hielte ich mich an ihr fest.

      Justin warf Ralph um und stürzte sich sofort auf seinen Hals. Gierig saugte er das Menschenblut in sich hinein.

      Dabei hielt er Ralph eisern fest.

      Fasziniert starrte ich auf die Beiden, die im Treppenhaus vor mir auf dem Boden lagen.

      Wie schnell der Bursche ist, dachte ich bei mir.

      Wie idiotisch, sich auf den Ersten zu stürzen.

      Ralph trommelte mit seinen Füßen einen letzten, rhythmischen Takt. Die Luft war erfüllt mit den Gerüchen der Tiefgarage, dem süßen Blut von Ralph und, ich schloss meine Augen und atmete tief ein, ich roch sogar Justins Gier und Verlangen.

      Oder war es nur ein Gefühl? Konnte ich fühlen, was er jetzt spürte? Ich öffnete meine Augen wieder und sah gerade noch, wie Justin von Ralph abließ. Er lehnte sich mit geschlossenen Augen an die Wand.

      Ich konnte meine Wut und auch mein Entsetzen nicht mehr zügeln.

      »Du Vollidiot«, brüllte ich. Meine Stimme prallte von den Wänden ab und verdoppelte, verdreifachte sich. Ich zuckte zusammen.

      Leiser sagte ich: »Verdammt, was hast du dir nur dabei gedacht? Du kannst doch nicht über jeden herfallen, der dir gerade mal vor die Zähne spaziert.«

      Wütend hielt ich inne. Justin drehte den Kopf in meine Richtung und lächelte mich an. Seine Augen erstrahlen wieder in diesem wunderschönen warmen Braun.

      »Ich weiß, Tascha«, er schluckte kurz, »es tut mir leid. Aber wenigstens brauchen wir jetzt nicht mehr hoch zu dir in deine Wohnung. So haben wir Zeit gespart.« Abermals ein Lächeln von ihm, diesmal ein unwiderstehliches. Ich verdrehte die Augen zur Decke.

      »Komm, hilf mir, wir schaffen Ralph in den Kofferraum und entsorgen ihn unterwegs.« Justin rappelte sich hoch, gemeinsam trugen wir den Toten zu meinem Wagen.

      Ich knallte den Deckel von meinem Kofferraum zu, Ralph war vorerst verstaut, wir werden später sehen, was wir mit ihm machten.

      Wir stiegen wieder in den Mustang und ich raste durch die Straßen.

      Am Rand der Stadt ist ein Viertel, das von den weniger geachteten Bürgern dieser Stadt bewohnt wurde. Hier kamen die meisten unserer Opfer her. Ich parkte den Wagen vor dem Haus, das ich aus meiner Erinnerung noch kannte. Es war still hier. Viele Gerüche lagen in der Luft, auch bedrohliche und Blutgeruch.

      Ich atmete tief ein und bekam den leichten Duft von Dennis in meine Nase.

      »Er war hier«, ich blickte zu Justin, der sich verwundert umsah.

      »Jetzt ist er wieder weg, aber vielleicht kriegen wir aus seinem Kumpel etwas raus.« Ich ging zu der Haustür und studierte die Klingeln. In meinem Gedächtnis grub ich nach dem Namen, er fiel mir nicht mehr ein. Justin stand neben mir und grinste mich frech an.

      »Guck mal, es ist offen.« Dabei gab er der Tür einen Stoß und sie flog auf. Ein langer dunkler Flur lag vor uns. Es stank nach Verwesung, Exkrementen und über all dem lag ein beißender Brandgeruch.

      Justin und ich liefen die Treppen hoch, an jeder Wohnungstür stoppten wir kurz um den Geruch der Wohnung einzuatmen. Im obersten Stockwerk stand die Tür offen und hier drang auch dieser scheußliche Brandgeruch heraus.

      Vorsichtig betraten wir die schäbige dreckige Wohnung. Dennis’ Duft war hier sehr stark vorhanden, obwohl der Geruch nach verbranntem Fleisch ihn versuchte zu überdecken.

      Mich überkam ein eigenartiges Gefühl, mein ganzer Körper kribbelte und vibrierte. Irgendetwas war hier passiert und ich wusste genau, dass mir das nicht gefiel. Wir gingen in das kleine Wohnzimmer und da lagen sie.

      Vier längliche, verbrannte Haufen, die aussahen, wie ein altes Lagerfeuer. Umgeben, von Asche und einem Wall aus Sand, damit sich das Feuer nicht ausbreitete. Nur mit Mühe konnte man in den Brandhaufen menschliche Gestalten erkennen. Die Umrisse waren noch da, wenn auch nur schwach vorhanden. Ich schloss die Augen und zog die verbrannte Luft in mich ein. Keiner von denen war Dennis, zum Glück. Aber ein bekannter Geruch zog mir in die Nase, ich glaubte den Freund gefunden zu haben, nach dem wir suchten. Er würde uns jetzt nichts mehr verraten können.

      »Das war Frank, eindeutig«, sagte Justin neben mir gepresst. Ich runzelte die Stirn und schnupperte nochmals. Ja, er hat recht, unter dem ganzen Gestank bemerkte ich den feinen Vampirgeruch kaum.

      »Du hast Recht. Wo könnte er jetzt nur sein? Hat er Dennis mitgenommen? Hat er ihn getötet?«

      Wieder roch ich intensiv die Umgebung ab. Den Brandgeruch musste ich ausblenden, denn nur die darunter verborgenen Gerüche interessierten mich.

      Justin stellte sich dicht neben mich. Ich spürte, wie er mir Kraft gab, wie er mir Halt gab.

      Nach einer Weile konnte ich ruhiger atmen, mich besser konzentrieren.