Rubinius Rabenrot

... und dann für immer!


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rüttelte ihn seine Fee wieder wach.

      Ralf stand auf und holte den neuesten Thriller von der Reimers aus dem Trolley: „Blinde Passagiere“. Im Bett fing er an zu lesen. Zwei, drei Sätze und abermals waren die Gedanken bei den grünen Augen, den weichen Lippen und den kastanienbraunen Haaren. Er begann erneut mit der Lektüre und wieder verschwammen die Buchstaben, und er glitt vom Lesen wie durch einen Nebel hin zu ihr. Es hatte keinen Sinn. Ralf legte das Buch auf den Nachttisch und knipste das Licht aus.

      Schließlich, Stunden später, hüllte ihn dunstiger Schlaf ein. Und selbst in Morpheus' Armen war sein Geist mit dem der unbekannten Schönheit verwoben.

      Freitag, 14.06., um 6:00 Uhr. Hotelzimmer mit Panoramablick in London

      Der Wecker klingelte. Ralf brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass er nicht dort war, wo er glaubte zu sein. Nur langsam kam er zu sich. Ihm war, als hätte er die gesamte Nacht den zarten Körper der unbekannten Frau in den Armen gehalten. Weiterhin fühlte er die innige Umarmung und ihre Brüste an seinem nackten Körper.

      Dann flatterten ihm einzelne Bilder des Traumes wieder zu, wie Schmetterlinge. Sie schwirrten tänzelnd in seine Erinnerung und brachten den Duft der Fremden mit sich. Tief atmete er ein, als könne er so diesen Hauch an Parfüm besser in sich aufnehmen. Wie schön sie war in seinem Traum!

      Beschwingt von den Impressionen in seiner Erinnerung schwang sich Ralf aus dem Bett. Er riss die schweren Gardinen am Panoramafenster mit einem Ruck auf und schaute hinaus ins gräuliche Nass, auch „britisches Schmuddelwetter“ genannt. Es war, wie es meistens war, wenn er in London zu tun hatte. Aber heute würde es ihm leicht fallen, mit der grauen Suppe zurecht zu kommen. Ralf schlang die Arme um sich selbst, schloss die Augen und in dieser Umarmung konnte er die Zärtlichkeit des Traumes wieder spüren.

      Lange ließ Ralf beim Duschen das heiße Wasser über seinen Körper laufen und er konnte spüren, wie sich die Lebensgeister langsam wieder in ihm ausbreiteten.

      Nachdem er nochmals die Unterlagen für den Elf-Uhr-Termin bei Owen durchgesehen und den Trolley zusammengepackt hatte, machte Ralf sich auf den Weg in den Frühstücksraum.

      So fröhlich und leicht fühlte sich der Tag an. Lange war es her, dass er das Leben in solch einer Intensität gefühlt hatte. Als er an den Menschen in den Fluren und im Foyer des Hotels beschwingt vorbeiging, bemerkte er ihren eigenartigen Blick.

      ‚Ja’ , dachte er, ‚sie sehen die Aura des Verliebten.’

      Freitag, 14.06., um 6:30 Uhr. In der Wohnung von Jana

      1.124,8 Kilometer südöstlich von London, in der Mandelstraße in München, klingelte im dritten Stock der Wecker.

      Sechs Uhr dreißig zeigte die digitale Uhr an. Völlig gerädert, aber von Glückseligkeit erfüllt, wachte Jana von einem seltsamen, beeindruckenden Traum auf. Sie und Ralf waren über die weiten Wiesen und durch frisch duftende Wälder gelaufen. Über die höchsten Bergspitzen waren sie geflogen. Stundenlang, Hand in Hand. Sie und Ralf Rössler. Lachend und glückselig, unterwegs in ein gemeinsames Leben.

      Matthias saß in der Ferne auf einem Felsen und lachte dem beschwingten Paar zu. Noch im Fliegen rief Jana Matthias zu: „Matthi, ist‘s in Ordnung, wenn ich endlich wieder mein Leben lebe und glücklich werde?“

      „Jana“, rief der Geist ihr vom Felsen aus zu, „du musst lebend dein Leben leben. Nur ein kleines Stück des Weges bin ich mit dir gegangen. Nimm den Ralf an die Hand und lass ihn nie wieder los.“ Matthias lachte und verschwand im Aufblitzen eines Lichtstrahls.

      Ja, sie hatten ihr Glück gehabt, bis zu jener Nacht im Mai vor drei Jahren. Zwei Polizisten standen vor der Wohnungstür. Sofort ahnte Jana, was die Polizei um zwei Uhr morgens wollte. Geschockt war sie gewesen. Ihr Körper hatte sich stundenlang verkrampft. Erst später am Tage, mit sehr viel Mühe konnte sie das Geschehene akzeptieren und den Lauf der Tränen zulassen.

      „Nicht der Matthi, verdammt“, hatte sie immer wieder, tagelang, mit erstickter Stimme wiederholt.

      Matthias war mit seinen Kumpeln unterwegs gewesen. Mit dem Motorrad waren sie auf Achse. Leichtsinnigerweise ohne Helm waren sie gefahren. An einer Kreuzung hatte ein Besoffener die rote Ampel überfahren und Janas Verlobten mit voller Wucht getroffen. Er hatte keine Chance gehabt. Auf der Stelle war er tot gewesen. So furchtbar zugerichtet, dass man ihr geraten hatte, ihn so in Erinnerung zu behalten, wie sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte.

      Am meisten schmerzte sie der Umstand, dass es für sie beide keinen Abschied gegeben hat. Bis vor kurzem noch war es für sie undenkbar gewesen, sich auf eine neue Partnerschaft einzulassen. Zu stark fühlte sie sich mit ihrem toten Verlobten weiterhin verpflichtet und es wäre einer Lüge, einem Verrat gleichgekommen, wenn sie sich wieder auf einen Mann eingelassen hätte.

      Sonderbar. Gestern schon, als sie den gesamten Tag über an Ralf Rössler dachte, hatte sie nicht an Matthias denken müssen - und jetzt dieser lange Traum, in dem ihr verstorbener Verlobter sie bat, endlich loszulassen.

      Müde rappelte sich Jana auf. Sie ging zur Kommode ins Wohnzimmer, auf dem das Bild des ehemaligen Verlobten stand.

      „Du“, sagte sie und streichelte zärtlich über das Glas des eingerahmten Fotos. „Ich danke dir.“ Sie sah Matthias auf dem Bild an und ihr war, als würde er ihr zulächeln. Mit beiden Händen nahm sie den Bilderrahmen und drückte ihn an ihre Brust. Sie öffnete die oberste Schublade der Kommode und legte das Bild hinein. Sie hatte ausreichend getrauert. War genügend einsam zu Hause gesessen, um Matthias zu beweinen.

      Jetzt fühlte sie sich frei. Sie musste Ralf Rössler finden und mit ihm reden. Über was, dass würde sich zeigen. Jana schloss die Augen und wieder sah sie sich mit Ralf über die Wiesen und Wälder laufen. Sie atmeten den frischen Duft der Tannen und der Gräser ein. Lachend schwebten sie weit oben im strahlend blauen Himmel und schauten beglückt auf die Welt herunter. Ein unbeschreibliches Glücksgefühl umgab sie.

      Ihr Gang war mehr ein Gleiten als Jana Richtung Bad ging und sich unter die Dusche stellte. Nachdem ausgiebig Wasser über ihren jungen Körper gelaufen war, trocknete sie sich ab und streifte sich den Bademantel über. In der Küche bereitete sie das Frühstück zu, nahm das Tablett mit Kaffee und einer Scheibe Toast und setzte sich damit auf den Balkon.

      Ein wolkenloser, strahlendblauer Himmel über der Stadt München. Frech zwitscherten die Spatzen von den Dächern und schwungvoll schwebten die Schwalben trotz der frühen Morgenstunden durch die Lüfte. Sie roch den leichten Geruch von Hopfen und Malz und den Duft der blühenden Wiesen des nahe liegenden Englischen Gartens. Jetzt, am Morgen fühlte sich die Luft frisch an. Jana liebte es, in dieser schönsten aller Städte zu leben, und seit gestern, seit heute Nacht, war es wie-auch-immer wieder möglich zu leben. Und noch sehr viel mehr: Sie war bereit, wieder zu lieben.

      Freitag, 14.06., um 7:30 Uhr. Auf dem Weg zu Mister Gerald Owen

      Nachdem Ralf im geschmackvoll eingerichteten Frühstücksraum, umgeben von gestressten und müden Geschäftsleuten, mit reichlich Speck, Rührei, Toast und Tee gefrühstückt hatte, machte er sich auf den Weg.

      Vor dem Hotel wartete bereits eines der typischen englischen Taxis auf ihn. Ralf stieg hinten in das Fahrzeug ein und lächelte dem Taxifahrer zu. Ohne das Lächeln zu erwidern, legte der breitschultrige Taxichauffeur die Sportzeitung neben sich auf den Beifahrersitz. Wortlos schaute er durch den Rückspiegel zum Fahrgast nach hinten.

      „Good Morning“, grüßte Ralf und nannte dem Taxifahrer die Straße, in der er gefahren werden wollte.

      „Yes, Sir“, erwidert der Fahrer mit einem vibrierenden Bass, der den Wagen zum Schwingen brachte. Auf der Windschutzscheibe setzten sich die feinen Tropfen des Nieselregens und wurden vom monoton hin und her wischenden Scheibenwischer weggewischt. Ralf spürte immer noch den Körper der feenhaften Frau in seinen Armen.

      Heute