K.P. Hand

Herzbrecher


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blaue strahlende Augen und kräftige Muskeln, wie bei einem Mittelklasse Boxer.

      Enio sah nicht auf, als er erwiderte: »Ich habe mich bereits darum gekümmert.«

      »So?« Florenz wurde sofort hellhörig. »Inwiefern?«

      »Lass das meine Sorge sein, kümmere du dich um deine Aufgaben.«

      Wenn Enio nicht bereit war, etwas preiszugeben, half nicht einmal Betteln etwas. Also wandte sich Florenz mit den Worten ab: »Ich werde mich dann mal in die Polizeidatenbänke einschleusen, mal sehen, ob sie vielleicht Hinweise zum Verbleib deines Bruders haben.«

      Enio nickte nur noch, er war bereits wieder in seine Arbeit vertieft.

      Florenz verließ besorgt den Raum und nahm die Treppe der Villa nach oben zu seinem Zimmer.

      Seit Alessandros Verrat ans Licht gekommen war, war Enio nicht mehr derselbe Mann. Er stürzte sich in Arbeit, als wollte er nicht darüber nachdenken, dass er von seinem eigenen Fleisch und Blut verraten worden war.

      In seinen Räumen angekommen, verschloss Florenz schnell die Tür und eilte zu seinem eigenen Schreibtisch. Er nahm Füller und Notizblock aus der Schublade und schlug den Block auf, bis er eine freie Seite vor sich hatte.

      Eilig schrieb er etwas auf die leere Seite, dann riss er den Zettel aus dem Block.

      Er würde nicht die Datenbänke durchforsten, nicht jetzt jedenfalls, er musste erst noch einmal ganz dringend in die Stadt fahren, am besten bevor Brian das Haus verließ.

      ***

      »Der Junge ist also dein kleiner Bruder?«, hakte Jan nach, man sah und hörte ihm an, dass er diesen Gedanken noch nicht richtig greifen konnte.

      Der junge Mann ihnen gegenüber wandte sich an Norman, als er sprach, und ließ Jan vollkommen links liegen. »Wir leben nicht zusammen. Matti lebte bei einer Pflegefamilie und Mama darf ihn nur selten haben.«

      »Matti? Heißt er so?«, fragte Norman.

      Der Junge nickte.

      »Und du bist?«

      Tief Luft holend antwortete er: »Nicci.«

      »Nicci und Matti«, wiederholte Norman.

      Jan nahm einen Stift zur Hand. »Kannst du uns den vollen Namen deines Bruders nennen?«

      »Matthias Rena.«

      »Und deiner lautet?«

      »Nicolas Rena«, antwortete Nicci. »Wir tragen beide den Mädchennamen unserer Mutter.«

      »Ihr habt die gleiche Mutter?«, fragte Norman.

      »Ja.«

      »Aber verschiedene Väter?«

      »Mhm.«

      »Und Matti wäre jetzt eigentlich bei seiner Pflegefamilie?«

      Nicci zuckte mit den Schultern. »Ich ... weiß nicht. Ich habe ihn vor drei Tagen dort abgeholt, für Mama. Ich weiß aber nicht, wie lange er bei ihr bleiben durfte.«

      »Wo wohnst du denn?«, fragte Jan etwas zu grob. Er machte Notizen obwohl Norman sah, dass auf dem Tisch ein eingeschaltetes Diktiergerät lag. Jan war eben fleißig und Nerv tötend überkorrekt.

      Nicci antwortete nicht.

      »Offiziell?«, hakte Norman nach. Er war – untypisch für ihn – einfühlsamer als Jan, weil er den Gemütszustand des Jungen verstehen konnte.

      »Offiziell lebe ich bei meiner Mutter«, bestätigte Nicci. »Ich lebte auch kurz dort, wo Matti jetzt ist, aber die wollten mich nicht, weil ...«

      Jan zog eine Augenbraue hoch. »Weil ...?«

      Nicci verschloss sich wieder und sah stumm zur Wand.

      Norman fragte etwas Anderes: »Und du bist nicht oft bei dir zu Hause?«

      Nicci starrte zu Boden, als er den Kopf schüttelte.

      »Wo bist du dann?«

      Er zuckte mit den Schultern, sah immer noch nicht auf. »Mal hier, mal dort. Bei Freunden, Bekannten. Bei meiner Oma.«

      »Bekannte der Familie?«

      Nicci schüttelte den Kopf.

      Norman leckte sich über die Lippen und zuckte kurz innerlich zusammen, als er Alessandro darauf schmecken konnte. Salzig süß, als habe sich Schweiß von der Oberlippe mit dem Saft einer Melone auf den Lippen vermischt. Sofort erkannte er, dass er im selben Raum saß wie damals, als er Alessandro das allererste Mal verhört hatte.

      Er musste die süße Erinnerung erst einmal verdrängen, sonst hätte er sich nicht mehr konzentrieren könnten.

      »Nicci – ich darf doch Nicci sagen, oder?«

      Er nickte.

      »Nicci«, fuhr Norman fort, »wie alt bist du?«

      »Fünfzehn.«

      Deshalb hatte er keinen Personalausweis bei sich getragen, die wurden ja erst ab einem Alter von Sechzehn ausgestellt.

      »Gehst du zur Schule?«

      Nicci nickte.

      »Wo?«

      »St. Marienstadt Gesamtschule.«

      Norman nickte, während Jan sich alles halbherzig notierte. Die ganzen belanglosen Fragen dienten nicht nur zur Informationssammlung, sondern sollten Nicci auch in Sicherheit wiegen und ihm das Gefühl geben, das er hier nicht als Verbrecher saß.

      »Wie heißt deine Mutter?«

      »Chantal Rena.«

      Chantal ... Norman hasste diesen Namen. So leid ihm der Gedankengang tat, doch die meisten Frauen mit dem Namen Chantal entstammten einer mittellosen asozialen Familie und führten diese Tradition stolz fort. Wie gesagt, die meisten, die er kannte, nicht alle!

      »Wo wohnt sie, beziehungsweise, ihr?«

      »Johannesstraße 267, aber auf der Klingel steht der Name ihres Stechers.«

      »Der da wäre?«, mischte Jan sich ein.

      Nicci antwortete ihm ausnahmsweise, dabei hörte man deutlich heraus, dass er den Freund seiner Mutter nicht ausstehen konnte. Er spuckte den Namen aus, als sei er Gift: »Günter Seibert.«

      Jan notierte sich alles und unterstrich den Namen.

      Norman fragte weiter: »Weißt du, warum niemand deinen Bruder als vermisst gemeldet hat?«

      Nicci zuckte mit den Schultern, ganz in Teenager Manier. »Nein, keine Ahnung.«

      »Hast du deinen Bruder umgebracht?«

      Fassungslos starrte Nicci Norman an.

      Norman erwiderte den Blick ohne sich zu regen, um zu verdeutlichen, dass er die Frage durchaus ernst nahm.

      »Was?« Nicci schüttelte sofort den Kopf. »Ich würde doch nie ...«

      »Ich sage dir, was ich glaube«, unterbrach Jan ihn. Arrogant lehnte sich Normans blondierter Kollege zurück und warf den Kugelschreiber auf den Notizblock. »Ich glaube, du warst eifersüchtig auf Matti. Ist doch so, oder? Weil er in der Pflegefamilie bleiben durfte. Deshalb hast du ihn heute mitgenommen, zum Spielen oder um mit ihm ins Kino zu gehen. Dein kleiner Bruder freute sich natürlich und die Pflegeeltern sagten nichts und machten sich auch keine Sorgen, als Matti länger wegblieb, denn er war ja bei dir, seinem Bruder. Aber du hast Matti nicht ins Kino geführt, du hast ihn zu einem angelegenen Ort gebracht und ihn ermordet, dann hast du ihn neben den Müllcontainer abgelegt und als du uns gesehen hast, hast du uns absichtlich zu der Leiche geführt. Du wolltest dabei sein, wenn er gefunden wird, oder? Um sich an deiner Tat noch mehr zu ergötzen, oder du wolltest den Verdacht von dir ablenken, indem du dich als ahnungsloses Opfer gibst.«

      Nicci war immer bleicher geworden, je mehr Jan sprach. Hilfesuchend