K.P. Hand

Herzbrecher


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für ihn tatsächlich real gewirkt. Er hatte genau auf die Leiche gesehen, als sie sich bewegt hatte.

      Ganz sicher.

      Oder konnte er zu allem Überfluss nun auch nicht mal mehr seinem Verstand trauen?

      »Du kannst so was nicht noch mal bringen«, trichtere Jan ihm ein, als wäre er Normans strenge Mutti. Wobei Norman keinen echten Vergleich hatte, da er als Waise in einem Waisenhaus aufgewachsen war und nicht wirklich wusste, wie sich eine echte strenge Mutter benommen hätte.

      »Was sollen die Kollegen von dir denken!« Jan schüttelte anklagend seinen Kopf. »Sie zerreißen sich ohnehin schon genug das Maul über dich. Und du gibt’s ihnen immer wieder neuen Stoff zum tratschen. Die glauben doch alle, du wirst langsam irre. Und weißt du was, allmählich befürchte ich das auch ... Hörst du mir eigentlich zu?«

      Norman konnte nicht antworten, denn das Klingeln seines Smartphones lenkte ihn ab; nicht, dass er vorgehabt hätte, Jan zu antworten.

      Norman holte sein Smartphone aus der Manteltasche und warf einen Blick auf das Display, während Jan neben ihm die Hände in die Seiten stemmte und auf eine Erklärung wartete.

      Unbekannte Nummer.

      Normans Herz begann sofort Purzelbäume zu schlagen.

      »Da muss ich ran.« Er drehte Jan die kalte Schulter zu und nahm den Anruf unter dessen empörten Gesichtsausdruck an.

      »Ist das dein Ernst?«, fragte Jan. Er begriff, dass er ignoriert wurde und sagte sauer zu Norman: »Ja, bitte, geh doch einfach ran, ich spreche solange mit der Luft, kein Problem, erzielt ja denselben Effekt!«

      »Norman Koch«, meldete er sich gewohnheitsmäßig, Jan ignorierend.

      Am anderen Ende der Leitung blieb es einige Sekunden still, die Norman wie eine Ewigkeit erschienen. Er hörte es rauschen, vermutlich vom Regen. Der Anrufer befand sich irgendwo draußen, unter einem Blechdach, wenn Normans Gehör ihn nicht auch noch täuschte.

      Lautes Einatmen, dann eine Frage ohne Einleitung: »Bist du allein?«

      »Nein«, antwortete Norman kurz angebunden und warf einen Blick auf Jan, der ihn ganz genau beobachtete und ihm keinerlei Privatsphäre gönnte.

      »Ich muss dich sehen«, sagte der andere am anderen Ende der Leitung. »Sofort. Verlassene Bahnhofstation. Komm allein.«

      Nach der beinahe kryptischen Anweisung wurde das Gespräch sofort beendet.

      Norman nahm wie betäubt das Handy vom Ohr. Er war enttäuscht, hatte er sich doch mehr erhofft, als er »Unbekannte Nummer« auf dem Display gelesen hatte.

      Er riss sich zusammen und erwiderte Jans Blick, der darauf wartete, dass Norman ihn aufklärte. Aber das tat Norman nicht. Das einzige, was er jetzt noch Jan zu sagen hatte, war: »Ich muss kurz weg, wir sehen uns auf dem Polizeipräsidium.«

      ***

      Er würde es wieder tun.

      Während er unter seiner Baseballkappe hervorblickte und die beiden Polizisten beobachtete, wusste er mit absoluter Sicherheit, dass er es erneut tun würde.

      Der eine hatte es begriffen. Der dunkelhaarige Polizist. Er hatte es verstanden. An diesem Ort war er der einzige Mensch, der genau die erwartete Reaktion zeigte, die gewünscht war. Er war schockiert, fassungslos und betroffen gewesen. Während der andere, der blonde Polizist, berechnend kühl und unerträglich professionell geblieben war, als hätte er nicht das schönste Geschöpf der Welt entdeckt: ein totes Kind.

      Und deshalb würde er es wieder tun.

      Er sah sich nicht als Mörder, obwohl er wusste, dass er gemordet hatte. Aber es war notwendig gewesen. Für den armen Jungen. Er sah sich mehr als der Erlöser dieses Jungen an.

      Und die Welt musste es auch sehen. Sie mussten begreifen, dass dieser Junge betrauert werden musste, aber nicht wegen des Umstandes, dass er jetzt tot war, sondern wegen der Jahre, die er als dieser Junge hatte leben müssen.

      Es musste wieder passieren, es gab noch mehr von diesen Kindern. Jenen Kindern, die eine Erlösung dringend nötig hatten. Kinder, die er vor Schlimmeren beschützen musste.

      Er dachte an seine eigene Kindheit. Daran, wie er viel zu oft unsittlich berührt worden war, wie er genötigt worden war, seinen Entchen-Pyjama ausziehen, wie er gezwungen worden war, still zu liegen ...

      Er spürte die Scham, aber auch die Wut, weshalb er die Erinnerung unterdrückte, so gut er konnte. Doch so sehr er es auch versuchte, er hörte noch heute die Stimme in seinem Ohr, die ihn nachts aus dem Schlaf riss. »Still, oder ich erstick dich mit dem Kissen.«

       Ich erstick dich mit dem Kissen.

       Ersticken mit dem Kissen.

       Ersticken. Kissen.

      Für einen siebenjährigen Jungen waren diese Worte gleichzeitig unbegreiflich und doch bis zur Schockstarre erschreckend verständlich. Besonders nach dem ersten Mal, wenn sie erneut gesprochen wurden und man wusste, was darauffolgte.

      Und Mutter? Mutter war nicht besser. Sie kam auch, sie kam dazu, oder wenn ihr Lover fertig mit ihm war. »Du musst Mami glücklich machen, sonst lass ich dich mit ihm allein. Willst du das?«

       Mami glücklich machen, sonst allein mit ihm.

      Leben und leiden, oder leiden und sterben?

      Ein Junge sollte diese Entscheidung nicht treffen müssen. Im Nachhinein wäre es vermutlich besser gewesen, von diesem Kissen erstickt zu werden.

      Wie oft war es passiert? Wie oft hatten sie ihn verunreinigt? Und wie oft hatten sie es festgehalten? Mit der Kamera gefilmt, was sie ihm tagtäglich antaten. Mutter hinter der Kamera, ihr Lover auf ihm. Wie oft hatte er unter der Dusche gestanden und versucht, sich wieder rein zu waschen?

      Er wünschte, damals wäre ihm jemand über den Weg gelaufen, der ihn erlöst und gewaschen hätte, damit er so friedlich ewig schlafen konnte wie der Junge, den er in der Sackgasse abgelegt hatte.

      Und der Rest der Welt musste es auch begreifen, sie mussten erkennen, dass diesen Kindern nur noch so geholfen werden kann. Das Einzige, was sie noch für sie tun können, war, dafür zu sorgen, dass ihr schönes, totes Ansehen nicht in Vergessenheit geriet. Durch den Fund des Jungen hatte er dafür gesorgt, dass er nicht vergessen wird. Vermutlich würden viele Menschen Spenden sammeln und ihm sogar ein schönes Begräbnis organisieren und einen hübschen Grabstein. All das hätte der Junge nie von seiner mittellosen Mutter bekommen. Niemals.

      Er fühlte sich gut. Wie ein richtiger Gutmensch. Als hätte er mit einer Hilfsorganisation Häuser für Arme gebaut. Obwohl seine Tat um ein Vielfaches anerkennender war.

      Er hatte Leben genommen, um eine Seele zu retten. Den Jungen hatte er erlöst, der Mutter hatte er das Herz gebrochen. Beide hatten bekommen, was sie verdienten.

      Ja, er würde es wieder tun.

      Und auch dann würde er sich gut fühlen.

      6

      Als Norman den verlassenen Bahnhof betrat, dämmerte es bereits, aber immerhin hatte der Regen aufgehört. Frischer Wind war aufgezogen, doch es war nur ein leichtes Lüftchen, das ihm durch das volle, dunkle Haar wehte, das er im Wagen vor dem Aussteigen noch einmal mit den Fingern durchkämmt hatte, in der Hoffnung, er würde dadurch etwas besser aussehen.

      Tat er nicht.

      Aber um so auszusehen, wie er sich dem anderen nun gerne zeigen würde, bräuchte er vermutlich eine Woche Schlaf, einen Schönheitschirurgen und zehn Jahre weniger auf dem Buckel. So gerne er auch als jener Mann diesen Bahnhof betreten würde, der er vor sieben Jahren gewesen war, er musste sich zeigen, wie er war: verbraucht und alt.

      Er erklomm die Stufen zu einer Verbindungsbrücke über den Gleisen, die Bahnsteig A mit Bahnsteig B verband. Und dort oben stand