K.P. Hand

Herzbrecher


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sich der Leiche noch einmal zu nähern. Aber schließlich bewegte er sich doch und ging unter dem Absperrband durch.

      Als er bei Jan ankam, ging dieser in die Hocke und griff nach der Plane.

      Tu es nicht. Tu es nicht. Tu es nicht. Beschwor Norman ihn in Gedanken, während er gleichzeitig um Fassung bemüht neben Jan in die Hocke ging und so tat, als stünde er nicht kurz davor, sich neben der Leiche zu übergeben.

      Jan hob wie befürchtet die Plane an und zeigte Norman das, was er nicht sehen wollte. Eine nackte Leiche eines Jungen mit dunkelbraunem, fast schwarzem Jahr, die Augen geschlossen, als würde er friedlich schlafen, die Haut kalt und bläulich blass, eine Einstichwunde im Brustbereich, wie von einem sehr breiten Messer, das gezielt ins Herz gestoßen wurde. Da sonst keine äußerliche Wunde zu sehen war, musste dieser Einstich zum Tod des Jungen geführt haben.

      »Harper, der Mann von der Spurensicherung, sagte, der Junge sei noch nicht lange tot. Ein paar Stunden, die genaue Zeit werden wir nach der Obduktion erfahren. Aber jemand muss die Leiche gewaschen haben«, berichtete Jan.

      Norman starrte noch immer auf die Leiche. »Ich weiß, wer Harper ist.«

      Jan warf ihm einen genervten Blick zu, erwiderte aber: »Natürlich. Tut mir leid.« Ein Zeichen dafür, dass er jetzt wichtigeres im Kopf hatte als sich mit Norman wegen belanglosem zu streiten.

      »Gewaschen?«, hakte Norman nach.

      Sie sahen sich an.

      »Ja.« Jan nickte. »Der Einstich ging tief, er muss enorm viel Blut hinterlassen haben, aber hier ist kein Blut.«

      »Könnte am Regen liegen.«

      Jan schüttelte den Kopf. »Harper hat die Leiche weitestgehend untersucht, nachdem sie Fotos geschossen haben. Keine Blutspuren am Körper.«

      »Vielleicht wurde die Wunde nach Eintritt des Todes zugefügt.«

      Wieder schüttelte Jan den Kopf. »Der Einstich ging tief, es hätte auf jeden Fall geblutet, auch wenn der Junge bei Zufügen der Wunde schon tot gewesen war. Außerdem sind die Fingernägel des Jungen absolut sauber, das Haar sieht frisch gewaschen aus und die Leiche duftet nach Shampoo und Seife.«

      Norman war nicht nahe genug herangegangen, um das bemerken zu können.

      »Die Leiche wurde jedenfalls nicht hier ermordet«, schlussfolgerte Norman. Das hier war kein Tatort, sondern ein Fundort. Er sah sich kurz in der Seitengasse um und nickte bestätigend, als hielte er eine Unterredung mit sich selbst.

      »Die Leiche wurde hier nur entsorgt.« Sein Blick blieb am Müllcontainer hängen. »Aber warum so offensichtlich? Warum nicht im Müll, wo man sie vielleicht nicht findet?«

      Jan ließ die Plane wieder fallen, damit die neugierigen Blicke der Passanten nicht doch noch irgendwie den Jungen erreichen konnten.

      »Vielleicht wurde der Täter überrascht«, überlegte Norman. »Er musste weglaufen bevor er sie in den Müll werfen konnte, weil ihn jemand mit der Leiche erwischt hat. Oder fast erwischt hätte.«

      »Oder die Leiche sollte gefunden werden.« Jan erhob sich und sein scharfer Blick richtete sich sofort auf den Streifenwagen, in dem ihr junger Fast-Überfalltäter saß. »Was uns zurück zu unserem bisher einzigen Verdächtigen bringt.«

      Norman kam aus der Hocke ebenfalls wieder hoch und runzelte skeptisch seine Stirn, als er Jan erklärte: »Ich glaube nicht, dass er es war. Er scheint wirklich unter Schock zu stehen.«

      Norman spürte sofort Jans herablassenden Blick auf sich und erwiderte ihn mit vorgestrecktem Kinn, um zu signalisieren, dass er sich nichts gefallen lassen wollte.

      Jan sagte trotzdem frech: »Und deiner Intuition vertraust du noch?«

      Normans Mimik fiel augenblicklich in sich zusammen, er wollte gerade wutentbrannt auf Jan losgehen, vor allen Leuten, als er im Augenwinkel glaubte, etwas zu sehen.

      Sein Kopf flog herum und er starrte hinab auf die Leiche.

      Hatte sich die Plane gerade bewegt?

      Als wäre nichts vorgefallen, beschloss Jan: »Lass uns fahren und den Jungen verhören.«

      Aber Norman starrte noch auf die Jungenleiche. Er musste sich das eingebildete haben.

      Sie sahen sich wieder an und Norman nickte, als ...

      Er fuhr wieder herum, als sich die Plante bewegte.

      Vielleicht der Wind?

      Aber es ging gerade kaum Wind, vor allem nicht in dieser Sackgasse, außerdem würde der starke Regen die Plane doch nach unten drücken ...

      »Norman?« Jan musterte ihn kritisch von der Seite. »Ist alles okay?«

      Norman hörte ihn wie durch Wasser, die Worte waren dumpf und kaum zu verstehen ...

      Da war es wieder. Und diesmal sah er es deutlich. Die Plane bewegte sich. Die Leiche bewegte sich. Erneut geschah es, so als atmete der Junge plötzlich tief ein.

      »Da!« Norman zeigte auf die Leiche.

      Jan und einige Umstehende folgten mit den Augen Normans Fingerzeig, dann blickten sie ihn halb verwirrt und halb besorgt an.

      Vorsichtig streckte Jan eine Hand nach Normans Schulter aus. »Norman ...?«

      In jenem Moment geschah es wieder und diesmal glaubte Norman sogar, den Jungen einatmen zu hören.

      »Er lebt!« Norman zuckte mit der Schulter, bevor Jans Hand darauf landete, und wollte dem Jungen zur Hilfe eilen ...

      Jan packte ihn von hinten, umschlang ihn mit beiden Armen. »Norman!«

      »Er lebt noch!« Norman versuchte, sich frei zu kämpfen. »Da! Seht! Er atmet. Er atmet!«

      Norman rief, er brüllte fast. Verzweiflung packte ihn, weil alle Umstehenden – Kollegen, die Spurensicherung, Schaulustige und Reporter – ihn erstarrt und fassungslos anstarrten, statt dem Jungen unter der Plane zu helfen.

      »Norman!« Jan packte ihn bei den Schultern und wirbelte ihn herum. Noch bevor Norman sich gezwungenermaßen gänzlich zu ihm umgewandt hatte, klatschte ihm Jans flache Hand ins Gesicht, damit er zur Besinnung kam.

      Aber Norman blieb dabei. »Er lebt noch!«

      »Herrgott!« Jan packte ihn grob am Arm, als wäre er ein ungehorsamer Bengel, der weggeführt werden musste, damit der Vater ihm, verborgen vor neugierigen Blicken, Vernunft einbläuen konnte.

      Aber Jan führte ihn nicht fort, er zerrte ihn zu dem Jungen hinunter und schlug die Plane zurück.

      »Sieh her!« Jan deutete deutlich auf die Leiche. »Er ist tot, Norman! Mausetot! Er ist nur noch eine leblose Hülle. Kalt. Siehst du es?«

      Und ob er es sah, es gab keinen Zweifel am Zustand des Jungen. Es sei denn, er wäre ein Zombie.

      Jan schlug die Plane wieder zu, packte erneut Normans Arm und zerrte ihn vom Fundort fort, unter dem Absperrband durch bis zu den Streifenwagen, außerhalb des Geschehens. Während dessen wurden sie von Blicken verfolgt, verständnislosen Blicken von Kollegen, neugierigen Blicken von Reportern und anklagende Blicke von schockierten Passanten.

      Als sie zu alledem etwas Abstand gewonnen hatte, blieb Jan stehen und drehte Norman zu sich um.

      »Was ist in dich gefahren?«, zischte er leise aber unmissverständlich mächtig angepisst von Normans Auftritt.

      Norman blinzelte und schob es auf den Schlafmangel. Es war nicht das erste Mal, dass er etwas sah, das gar nicht da war. Für gewöhnlich passierte es ihm jedoch in Situationen, in denen er alleine war. Nachts, wenn er ziellos durch die Wohnung schritt, aber niemals am Tag unter Menschen.

      Na ja, es gab für alles ein erstes Mal.

      »Du brauchst dringend Schlaf, Norman!«

      Jan hielt ihm eine Predigt, die Norman nur halbherzig mit anhörte, er sah nur an seinem