reichte Pisani eine Visitenkarte.
Der Inhaber nahm sie zwar entgegen, aber Norman wusste, dass er niemals anrufen würde, selbst dann nicht, wenn er keiner von Enio Martins Männern sein sollte. Jeder wusste, dass Enio Martin zu den Teiwaz gehörte, der größten und mächtigsten Verbrecherorganisation dieser Stadt, vielleicht sogar dieses Landes. Keiner wagte es, sich mit ihm anzulegen.
Nur Norman und Jan, aber sie traten auf der Stelle.
Als sie den Antiquitätenladen verließen, sackten Normans Schultern zusammen.
Trotz, dass er gewusst hatte, dass dies nirgendwo hinführen würde, dass er nur wieder seine und Jans Zeit verschwendete, war er doch enttäuscht. Irgendwo in seinem Innersten hatte er trotz allem die Hoffnung nicht aufgegeben, das wie durch ein Wunder ein Strohhalm auftauchen würde, an den er sich klammern konnte.
Irgendetwas, das Enio Martin mit den Verbrechen in Verbindung bringen konnte, die er begangen hatte. Bei einem Mann, der so viel Unrecht tat, war es doch erstaunlich, dass es nichts gab, womit man ihn festnageln könnte.
Nichts.
Norman war müde, so müde, aber nicht wegen des Schlafmangels. Das Leben ermüdete ihn.
»Es tut mir leid«, hörte er Jan sagen, doch es klang nicht einmal so, als täte es ihm wirklich leid. Vielleicht, weil er diese Worte in diesem Rahmen einfach zu oft gesagt hatte.
Trotzdem landete eine Hand auf Normans Schulter und drückte mitfühlend zu. »Lass uns etwas essen gehen. Na komm. Ich lad dich auf einen Snack ein.«
Norman nickte zwar, doch sein Blick ging hinaus in den Regen, er sah nur Leere statt der überschwemmten Straße. Während er Enio Martin hinterher gejagt war wie ein Hund seinem Schwanz – ohne ihn je zu bekommen – hatte Norman sein Leben ruiniert. Wegen Enio Martin, der noch immer auf freiem Fuß war, und wegen Franklin Bosco, alias Frank Bosco, den er zwar eingebuchtet hatte, aber für dessen Verhaftung er seine eigene Seele an den Teufel verkauft hatte.
Und wofür all das?
Mittlerweile hatte er alles verloren, alles aufgegeben, alle Beziehungen untergraben. Er fühlte sich wie Franklin in seiner Zelle: allein, einsam, isoliert.
»Seit sieben Jahren jage ich diesen Mistkerl schon, ohne ihm auch nur einen Schritt näher gekommen zu sein«, hauchte er müde und schüttelte den Kopf. Der Regen hatte sein dunkles Haar durchnässt, sodass er wie ein begossener Pudel aussah. »Sieben verfluchte Jahre.«
3
Er hatte es wieder getan. Jetzt musste er die Leiche loswerden.
Wobei er selbst niemals von ›loswerden‹ sprechen würde. Oder von ›Leiche‹.
Natürlich war der leblose Körper in seinem Kofferraum ein toter Mensch, aber er symbolisierte mehr als es eine einfache Leiche getan hätte. Er bedeutete etwas, viel mehr als den Tod. Der Körper war mehr als eine von der Seele verlassene Hülle, er war majestätisch, würdevoll, friedvoll in seiner Schlaffheit. Wunderschön. Jedenfalls für ihn.
Aber eben nur kurz nach Eintritt des Todes. Danach kam ihm unweigerlich diese lästige Leichenstarre in die Quere. Und bevor diese einsetzte, wollte er den Körper wieder ›freilassen‹, so wie er die Seele frei gelassen hatte. Damit er ihn so in Erinnerung behielt, wie er jetzt war: schlaff.
Er parkte neben einer Sackgasse. Außer ihm parkte auf der anderen Straßenseite nur ein weiterer Wagen, der jedoch verlassen war. Dank des strömenden Regens war die Stadt fast menschenleer, vor allem in diesem recht unbeliebten Stadtteil in der Nähe eines Bahnhofsviertels, wo sich ohnehin nur Gesindel tummelte, das sich ausschließlich um den eigenen Kram kümmerte.
Der perfekte Ort um anonym etwas zu ›deponieren‹.
Er stieg aus und ging um den Wagen herum. Noch ein Blick über die Schulter, dann öffnete er den Kofferraum. Er hatte diesen Ort gezielt ausgesucht, genau diesen toten Winkel, hier gab es keine Überwachungskameras von Zufahrten, von Parkhäusern, Parkplätzen oder Geschäften. Die einzigen Läden hier waren kleine Einzelhandelbetriebe, die ihre Haupteingangstüren nicht mit Kameras überwachten, das hatte er überprüft.
Er beugte sich in den Kofferraum und schlug die eisblaue Plane zurück. Als er den nackten Körper betrachtete, erinnerte er sich noch gut daran, wie er etwa eine Stunde zuvor in seinem Haus mit großer Ehrfurcht die blasse Haut gewaschen hatte – sie von sich und seiner Tat reingewaschen hatte. Er wurde schon wieder hart, während er sich daran erinnerte.
Seine Triebe ignorierend, zurrte er die Plane fest um den Körper und hob die Leiche aus dem Wagen. Er ging mit der Last durch den Regen über die Straße und legte den Körper in einer Sackkasse neben einem Müllcontainer gut sichtbar auf den Boden in den strömenden Regen, der in Flüssen die Straßen entlang rann.
Er öffnete die Plane und warf einen letzten Blick auf das Geschöpf, das so friedlich aussah, als würde es nur schlafen.
Nach all den Jahren hatte er wieder die Kontrolle über sich verloren. Doch das einzige, was er bereute, war die bedauerliche Tatsache, dass er nicht mehr Zeit gehabt hatte.
Er streckte eine Hand aus und strich liebevoll das schöne Haar aus der Stirn, bevor er sich gewaltsam losriss und sich abwandte.
Er musste gehen, bevor er entdeckt wurde.
Gerade als er an seinem Wagen angelangte, bemerkte er einen heranrollenden schwarzen Sportwagen, der auf der anderen Straßenseite auf dem Parkplatz eines Sandwichsladens fuhr und anhielt.
Er beobachtete die beiden Männer, die ausstiegen und in das Restaurant traten, ohne ihn bemerkt zu haben. Er wusste, wer sie waren: Ermittler. Beide waren ihm nicht unbekannt. Aber das war nicht sonderlich verwunderlich, fast jeder aus der Stadt kannte die beiden. Vor einem halben Jahr hatte es einen Zeitungsbericht gegeben, der ausführlich über die beiden Favoriten der Kripo informiert hatte.
Er überlegte, wie amüsant es doch wäre, wenn ausgerechnet diese Beiden den deponierten Körper finden würden, denn diese beiden Spitzenermittler würden niemals den Täter fassen können. Niemals! Dafür hatte er bereits gesorgt, noch bevor die Seele den Körper verlassen hatte.
4
Während Jan ihre Bestellung aufgab – für Norman das übliche Thunfisch Sandwich und ein Glas Eistee, Pfirsich, vorzugsweise – verschwand Norman im Waschraum.
Ein Blick in den Spiegel zeigte deutlich, dass er eine Dusche und reichlich Schlaf nötig gehabt hätte, aber vorerst musste ein Spritzer kaltes Wasser ausreichen.
Er zog ein Papierhandtuch aus dem Spender und rieb sich das Gesicht trocken, seine Bartstoppeln, die wie Schatten über seine markanten Wangen lagen, rissen dabei das dünne Papier auf.
Nachdem er den benutzten Fetzen in den Mülleimer entsorgt hatte, zog er sein Smartphone hervor und wählte die Nummer des Gefängnisses in Stadtnähe. Er selbst hatte damals deutlich darauf bestanden, dass sein Gefangener in Griffnähe blieb, damit Norman nicht für jede Befragung hunderte Kilometer weit fahren musste.
Axel meldete sich, ein bekannter und befreundeter Wärter, genau wie erhofft.
»Ich bin’s«, sagte Norman.
Axel fragte sofort: »Soll ich wieder nachsehen?«
»Ja.« Norman stockte kurz, hing dann aber noch ein »Bitte« hinten ran.
»Okay.« Es raschelte, als Axel den Hörer ablegte und aufstand. Norman lauschte, wie ein Stuhl über den Boden rollte, wie Schritte sich entfernten und wie eine Tür geöffnet und geschlossen wurde.
Während er wartete, holte Norman eine Zigarette hervor.
Er war eigentlich kein aktiver Raucher, der andere hatte es nie gemocht, ebenso wie er Normans Trinkverhalten verabscheute. Doch all das hatte in letzter Zeit kaum noch Bedeutung für ihn. Norman versuchte nur, irgendwie über den Tag zu kommen und