K.P. Hand

Herzbrecher


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hatte er den Mietvertrag unterzeichnen können. Ohne Kaution zu hinterlegen. Und trotz, dass er drei Monate im Rückstand war, bedrängte sie ihn nicht.

      Es tat ihm leid, dass er sie so ausnutzte, aber seine finanzielle Lage sah im Moment ziemlich schlecht aus. Jedenfalls seit er allein für alles aufkommen musste.

      Also stellte er sich mit seiner Vermieterin gut, damit sie ihn nicht rausschmiss.

      »Einen schönen guten Tag, Fräulein Fisher«, begrüßte er sie und drehte sich mit einem breiten fast anzüglichem Grinsen zu ihr um, sodass sich ihre faltigen Wangen rot färbten. Sie liebte es, wenn er sie »Fräulein« nannte.

      Sie war süß. Ihre blauen Augen strahlten immerzu, ihr Lächeln war liebenswert und sie war immer nett zu ihm. Ihr schneeweißes Haar trug sie hochgesteckt, wie eine Dame aus dem Neunzehnten Jahrhundert, und unter dem Blümchen Kleid und der weißen Strickjacke verbarg sie einen mütterlichen Körperbau, obwohl Alessandro nicht wusste, ob sie Kinder besaß. Aber doch, er würde sie als mütterlich bezeichnen. Warmherzig. Liebenswert.

      »Sie tragen die Hitze mit sich«, schmunzelte sie und deutete auf seinen halbnackten Körper.

      Er hätte jetzt das Problem mit der Heizung ansprechen können, doch er wollte ihr keine Vorwürfe oder Umstände machen. Zumal er ohnehin keine Miete zahlte. So frech wollte er dann doch nicht sein.

      »Hitze?«, wiederholte er scherzhaft grinsend. »Was denken Sie denn? Ich friere mir den Arsch ab, aber ich wollte Ihnen keinesfalls diesen Anblick verwehren!« Er breitete arrogant die Arme aus und ließ seinen Körper sehen.

      Sie hob eine Hand zum Mund und kicherte hinein. »Oh, Sie ...« Sie winkte ihn ab und schloss die Tür, wohl, weil er nicht sehen sollte, wie sich ihre Wangen noch dunkler färbten.

      Zufrieden mit sich, weil er einer alten Dame den Tag versüßt hatte, ging er die Treppe wieder hinauf und schloss die Wohnungstür hinter sich.

      Er sah die Briefe weiter durch und ging zur Küchenzeile, um sich einen Kaffee zu kochen, weil er zur Spätschicht wieder im Restaurant sein musste und dafür Koffein nötig hatte.

      Doch er stockte, als ihm ein Briefumschlag ohne Absender oder Adresse in die Hand fiel. Dort stand ausschließlich ›Alessandro drauf.

      Sein Herz sackte in die Hose. Es gab eigentlich nur eine Person, die seinen echten Namen kannte und wusste, dass er in der Stadt lebte.

      Er öffnete den Umschlag, er war nicht verklebt, und holte einen kleinen Zettel hervor, der nur einmal in der Mitte geknickt worden war.

      Alessandro faltete das Stück weiße Papier auseinander und las mit Unglauben die wenigen Worte die dort standen: Verlass sofort die Stadt!

      ***

      Am anderen Ende der Stadt ließ sich Norman an den Rand des Geschehens drängen, damit die Kollegen von der Spurensicherung ihre Arbeit machen konnten.

      Er kam sich seit dem Fund noch mehr wie ein Zombie vor. Er konnte nicht denken, nicht sprechen, sich kaum bewegen. Noch immer wollte sein Gehirn nicht wahrhaben, was er dort in der Sackgasse entdeckt hatte. Er konnte es nicht glauben, er wollte es nicht glauben.

      Der starke Regen behinderte das Sichern des Tatortes ungemein, außerdem hatte das Regenwasser vermutlich größtenteils alle brauchbaren Spuren verwischt, nicht, das auf Beton viel zu finden gewesen wäre, aber trotzdem. Die zahlreichen Schaulustigen verbesserten die Lage auch nicht gerade, die trotz des starken Regens wie Motten zum Licht angeschwärmt kamen, sobald der erste Streifenwagen angerückt und das erste Absperrband angebracht worden war; unter ihnen konnte Norman bereits einige Reporter von Fernsehsendern, von bekannten Zeitungen und Internetportalen entdecken.

      Zu Normans Füßen hatte sich eine Pfütze gebildet, direkt an der Kante zum Bordstein, er blickte hinab in das trübe Wasser und konnte sein Spiegelbild erkennen.

      Was war nur aus ihm geworden?

      Er stand am Rande eines Tatortes und konnte den Mund im aschfahlen Gesicht nicht mehr zuklappen. Vor einigen Jahren wäre er noch mittendrin gewesen und hätte sich angehört, was die Spurensicherung ihm zu erzählen hatte. Und dann wäre er in den Streifenwagen gestiegen und hätte den jungen Mann befragt, der nun auf der Sitzbank saß und unter Schock stand.

      War er es gewesen?

      Diese Frage stellte sich nicht nur Norman, auch Jan hatte etwas in der Art geäußert, sie würden den jungen Mann mitnehmen. Allein schon deshalb, weil sie bei ihm eine Schreckschusspistole in der Jackentasche gefunden hatten. Es war gut möglich, das er Norman und Jan ganz gezielt in die Gasse geführt hatte.

      Gut möglich, aber Norman glaubte nicht daran. Früher hatte er immer ein gutes Gespür für das Wesen anderer Menschen gehabt, und bei diesem Jungen war sein Mörderradar nicht ausgeschlagen. Aber ein Kleinkrimineller war er auf jeden Fall, das hatte Norman ihm sofort angesehen. Die Schreckschusspistole bekräftigte Normans Theorie, dass der junge Mann den Laden hatte überfallen wollen. Er war nur zur falschen Zeit dort aufgetaucht. Norman hatte ihn nervös gemacht, er ist geflüchtet und zufällig auf die Leiche gestoßen.

      Aber Jan hatte bereits seine eigene Theorie, von der er sich nicht abbringen lassen wollte. Er glaubte, der Junge habe sie mit Absicht zur Leiche geführt, und das er jetzt nur so tat, als stünde er unter Schock.

      Aber Norman glaubte, der Junge müsste schon ein verdammt guter Schauspieler sein, denn Norman konnte ihn keineswegs durchschauen. Er saß mit gesenktem Kopf auf dem Rücksitz eines Streifenwagens und wartete völlig teilnahmslos darauf, dass man ihn fortbrachte. Er sprach kein Wort, sie hatten nicht einmal seinen Namen aus ihm herausbekommen können.

      Norman kaufte ihm den Schockzustand ab.

      Aber wie viel konnte Norman noch auf seine Intuition geben? Der Blick in die Pfütze zeigte deutlich einen weiteren geschockten Mann, der keinen klaren Gedanken fassen konnte.

      Eine Kinderleiche. Der Junge etwa fünf oder sechs Jahre alt. Welches kranke Schwein tat einem Kind so etwas an?

      Normans erster Gedanke, als er langsam begriff, dass er nicht nur in einem weiteren Alptraum steckte und irgendwann in einer heilen Welt wieder aufwachen würde, war schlicht und ergreifend jener: Ich will das nicht mehr machen.

      Diese Erkenntnis traf ihn wie einen Schlag, doch der Gedanke war nicht neu. Er hatte Jahre in ihm gebrodelt, wie eine unentdeckte Bombe, deren Zünder noch scharf war.

       Ich will das nicht mehr machen.

      Sollten sich doch die anderen um den kranken Mist kümmern. Er wollte nichts mehr damit zu tun haben. Jan konnte sich damit auseinandersetzten.

      Aber Norman konnte und würde nicht aufhören, nicht freiwillig. Die Arbeit war lange Zeit sein Leben gewesen, mit einigen schönen Unterbrechungen. Vor ein paar Jahren hätte er seine Arbeit sofort aufgegeben, denn Norman hatte damals noch ein Leben außerhalb der Arbeit gehabt. Ein richtiges Leben. Ein intaktes Leben. Ein absolut lebenswertes Leben; trotz der Alpträume.

      Normans Blick glitt hinüber zu Jan, der hinter der Absperrung neben der zugedeckten Leiche des Jungen stand und sich mit dem Leiter der Spurensicherung unterhielt, einem älteren Herrn mit weißem Haar und Brille, eingepackt in einen weißen Anzug und bewaffnet mit Handschuhen und einem Koffer mit allerlei Utensilien. Normans Augen blieben an Jan hängen, wie so oft. Jan sah gut aus, wie sein blondes Haar so vom Regen durchnässt in seiner Stirn hing. Jan sah immer gut aus. Und sein Grips, sein immerzu perfektes Auftreten, seine charmante Ausstrahlung, seine fast Nerv tötenden Ideale und Moralansichten und seine geradezu hervorragende Arbeit machten aus ihm nicht nur einen Gewinnertypen, sondern den absolut begehrenswertesten Mann.

      Normans Herz zog sich zusammen. Er wusste, er würde weitermachen. Er konnte einfach nicht aufhören und einem jungen, neuen, besseren Kollegen das sprichwörtliche Spielfeld überlassen. Das ließ sein Stolz nun mal nicht zu.

      Jan hob den Kopf und begegnete Normans Blick. Seine Augen ließen nicht die geringste Gefühlsregung erkennen, er war kühl und professionell als er Norman ansah und mit einem