Jennifer Scheil

P.E.M. Projekt Evolution Mensch


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die Klasse verließ, reinigte sie die Tafel. Sie würde sich dann zwar wieder beeilen müssen, um den Bus noch zu bekommen, doch das machte ihr wenig aus. Sie wusste, wie hart das Reinigungspersonal arbeiten musste, damit sie die Schule wieder sauber bekamen. Diese kleinen Handgriffe würden ihnen die Arbeit erleichtern, nur das war wichtig!

      Am Ende waren nur noch sie und die Lehrerin im Klassenzimmer. Frau Schulz sortierte noch ihre Unterlagen, um sie fein säuberlich in ihre Tasche zu stecken. Als sie ihren Laptop zuklappte und die Unterlagen der Schüler in Stapel geschichtet hatte, war auch Samantha fertig. Sie war im Begriff das Klassenzimmer zu verlassen als sie von Frau Schulz zurückgerufen wurde. „Samantha, warten sie doch bitte einen Moment. Ich habe den gleichen Weg, da könnten wir doch zusammen gehen.“ Der skeptische Blick aus diesen unergründlichen Augen entging ihr nicht, weshalb sie anknüpfend erklärte: „Ich habe heute so viele Unterlagen mitzunehmen. Es würde mich freuen, wenn ich dabei Hilfe bekommen könnte.“

      Samantha entspannte sich. Das Angebot von Frau Schulz war nicht ganz eigennützig. Das spürte sie und war ihr dankbar. Es bedeutete zwar einen Umweg, durch die Schülerfreien Zonen und über den Lehrerparkplatz zu gehen, doch würde es sie vor

      der Konfrontation mit Babette bewahren. Lächelnd trat sie an den Pult und hob den größten Stapel Unterlagen auf.

      Gemeinsam und unbehelligt verließen sie das Schulgebäude. Am Auto angelangt

      übergab Samantha die Unterlagen, verabschiedete sich und eilte los, um ihren Bus vielleicht doch noch zu erwischen.

      Heute würde sie nicht ins Krankenhaus fahren. Sie könnte es nicht ertragen, ihn zu sehen.

      Sollte er doch darauf warten, Besuch zu bekommen. Wie egal ihr das doch war! Nie würde sie sich diesem kalten Blick wieder aussetzen. Er würde es sowieso nicht bemerken, wenn sie nicht mehr kam. Da war sie sich ganz sicher!

      Der Bus war schon im Begriff anzufahren, als sie endlich, nach Luft ringend, an der Bushaltestelle ankam. Wild mit den Armen winkend, machte sie sich bemerkbar und der Bus hielt, um sie einsteigen zu lassen. Keuchend fiel sie auf den erstbesten Platz, nachdem sie ihren Fahrschein durch das elektronische Lesegerät gezogen hatte, und sah aus dem Fenster. Als sie am Krankenhaus vorbei die Stadt verließen, suchten ihre Augen die Fenster ab, auf der Suche nach – ja, nach was eigentlich? Samantha, was tust du da eigentlich? Was erhoffst du zu sehen? Sich selbst zur Ordnung rufend wandte sie den Blick ab, um die vorbeirauschenden Bäume zu beobachten.

       ****

      Klappernd machte sich Jonas daran, das Mittagessen zuzubereiten, während John sich, mit Domino bei Fuß, das Haus ansah. Jonas hatte ihn mit ausholenden Bewegungen aus der Küche hinaus komplimentiert. John war sich sicher, dass er ihn sogar geschoben hätte, wenn er nicht freiwillig gegangen wäre. Jonas konnte, nach eigener Aussage, es nicht leiden, wenn ihm beim Kochen über die Schulter geschaut wurde. Somit hatte er John ans Herz gelegt, sich doch etwas im Haus umzusehen.

      John verweilte in jedem Raum, um sich alles einprägen zu können. Es war auch ein wenig die Hoffnung dabei, etwas zu finden, was Erinnerungen hervorrufen könnte. Im hellen und mit Eichenmöbeln ausgestatteten Wohnzimmer, fühlte er sich gleich geborgen. An den Wänden zogen sich Regale entlang. Diese waren zum Großteil mit Büchern vollgestopft. Er fand darin sowohl Liebesromane als auch Bücher mit esoterischem Inhalt, Lexika und vieles mehr. Vorm Kamin lag ein flauschiger Teppich.

      Als er zur Treppe ging, kam er am Badezimmer und einer Abstellkammer vorbei.

      Das Bad war klein und in den Tönen Weiß und Blau gehalten. In der Abstellkammer fand er eine Waschmaschine und die verschiedensten Werkzeuge und Gegenstände, die eine Hausfrau dazu benötigte, das Haus zu reinigen. Die Wände des Flurs und entlang der Treppe waren mit den unterschiedlichsten Bildern behangen. Die meisten davon waren Fotos der Familie Brand. Auf einem sah er Samantha und einen kleinen Jungen, höchstwahrscheinlich war es Tom, dick eingemummelt neben einem riesigen Schneemann stehen. Ein weiteres zeigte Jonas, der hinter Domino her rannte und ihr offensichtlich die erbeutete Wurst abzujagen versuchte.

      Am oberen Treppenabsatz blieb John plötzlich, wie vom Donner gerührt, stehen.

      Das Bild, das dort hing, fesselte seinen Blick. Es zeigte eine in Öl festgehaltene Szene. Ein Einhorn und ein Drache verbeugten sich, einträchtig nebeneinander stehend, vor einem feenähnlichen Wesen, das auf dem Rücken eines riesigen Wolfes saß. Die Wesen wirkten so lebendig, dass er fast enttäuscht war, dass sie sich nicht bewegten.

      Als er die Frau auf dem Bild näher in Augenschein nahm, bemerkte er etwas für ihn Sonderbares. Sie zeigte deutliche Ähnlichkeiten mit Samantha.

      Der Maler hatte sie in einer poetischen Weise betrachtet und im Bild festgehalten. Doch als seine Augen die Initialen suchten und fanden, glaubte er erst nicht, was er da sah. – Die Initialen lauteten, S.B. Samantha hatte dieses Bild selbst geschaffen! Die Gefühle, die diese Erkenntnis in ihm auslösten, ließen sein Herz schneller schlagen.

      Wenn ein Mensch etwas so Schönes, ja Erhabenes, erschaffen konnte, musste er über ein besonderes Maß an Einfühlungsvermögen verfügen. Die Liebe, die dieses Bild verströmte, war fast greifbar. Durch die Farbwahl und die feinen Konturen, sowie des in Öl

      eingefangenen Lichts, strahle es eine Wärme aus, die seine Haut kribbeln ließ.

      Als er sich endlich von dem Bild zu lösen im Stande war, bemerkte er noch weitere Kunstwerke. Sie alle strahlten ähnliche Gefühle aus und sie alle wiesen die Initialen S.B. auf. Eines der Bilder erschlug ihn beinahe. Als er beim Herumdrehen die Wand mit der Schulter streifte, löste es sich von seinem Platz und glitt an der Wand herab, bevor es kippte.

      John fing es auf und wollte es gerade an seinem Haken wieder fest machen, als er in der Bewegung innehielt. Das Bild zeigte eine Gruppe Delphine, die im

      Sonnenuntergang, aus dem Wasser sprangen. Eingefasst wurde dieses Schauspiel von Palmen, die sich im Wind zu bewegen schienen.

      Wie ein Blitz fuhr es durch ihn hindurch. Eine Erinnerung war plötzlich zum Greifen nah. Mit aller Macht hielt er sie fest, um sie ja nicht wieder zu verlieren. Um aus den verschwommenen Umrissen ein klares Bild werden zu lassen, richtete er seinen

      Blick wieder auf das Gemälde.

       Palmen, Strand, Delphine, Meer. Da war doch was? Woran erinnert mich dieses Bild nur?

      Ohne Vorwarnung stürzten Bilder auf ihn ein. Die Erinnerungen glichen bunten Fetzen. Bilder von Menschen: Frauen in Bikinis, eine kleine Cocktailbar, ein kleines Mädchen mit blondem gelockten Haar, zu einem Pferdeschwanz gebunden, lief lachend in die Arme eines großen Mannes mit strohblonden, längeren Haaren und Vollbart. Beide drehten sich um und das Mädchen streckte die kleinen Ärmchen aus. Ihre Lippen formten Worte. Dann konnte er sie hören, wie sie flehend nach ihm rief. „Onkel John, komm zu uns zurück. Bitte!“ Der Mann blickte ihn nur stumm an.

       Meine süße Jessica, Nick, ja ich komme wieder. Ich komme zurück nach `Little Paradise`. Aber warum war ich hier, was sollte ich hier? Weshalb war ich im Wald und wer hat mich verletzt? Das muss ich erst herausfinden. Danach komme ich zu euch zurück, das verspreche ich!

      Seufzend hing er das Bild, fast ehrfürchtig, zurück an seinen angestammten Platz. Nun wusste er wieder mehr. Er wusste, dass er John Heart hieß und aus New Palm Beach stammte. Dort lebte er zusammen mit seinem Freund und Kriegskameraden Nick Fontaine und dessen sechsjähriger Tochter Jessica in einer großen Villa am Strand. Sie besaßen einen kleinen Strandabschnitt mit einer Cocktailbar, deren Name `Little Paradise` war.

      Er erinnerte sich auch an zwei Frauen. Eine schwarze, ältere und eine weiße, jüngere Frau. Beide lösten in ihm Gefühle der Freude und Liebe aus. Ihre Namen hingegen entzogen sich ihm hartnäckig. Der Anfang war getan. Jetzt konnte es nur noch aufwärts gehen. Johns Augen waren noch immer auf das Bild gerichtet, als er Jonas von unten rufen hörte. „Hey, Jungchen. Kommen sie doch bitte runter, ich könnte ihre Hilfe gebrauchen!“ Als John die Treppe herunterging, sah er, wie sich Jonas in seine Jacke zwängte und gleichzeitig nach seinen Schuhen angelte. „Was gibt’s?“