Kurt Pachl

Bodos zornige Seele


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mit einer großen Anzahl Bagger riesige Dämme. Sandwaschanlagen versuchten, den Sand aufwändig zu reinigen; 50 Tonnen verölter Sand pro Stunde. Die Wasserläufe, Inseln und Marschen dahinter wurden hermetisch abgeriegelt; vorläufig zur absoluten Sperrzone erklärt. Auf die Chandeleur Inseln mit den Breton Island National Wildlife Refuge dahinter arbeitete die wütende See in wenigen Stunden einen Ölteppich heran: 202 x 112 Kilometer zähflüssige, stinkende Brühe. Und die See brüllte immer lauter und bedrohlicher.

      Als sich am Tag darauf der Sturm gelegt hatte, versuchte die Küstenwache mit fünfzehn sogenannten kontrollierten Bränden, das Öl an der Oberfläche abzufackeln. Die Rauchsäulen waren hundert Kilometer weit zu sehen. Fieberhaft versprühten die Lockheeds ununterbrochen Corexit; über zehn Millionen Liter. Sie nahmen keine Rücksicht darauf, dass 275 Schiffe mit Helfern Öl abschöpften. Tage später machten die Hubschrauber der Fernsehstationen 5 300 Schiffe und Boote aus, von denen entweder Öl abgeschöpft wurde oder man hastig versuchte, Ölbarrieren auf eine Länge von weiteren 3 000 Kilome­tern auszulegen. An den Stränden und später auf den Inselchen und in den Mar­schen sollten nun über 40 000 Helfer so rasch wie irgend möglich die Ölrückstände beseitigen. Sie waren zum Teil aus dem Landesinneren heran­gekarrt worden; Junge, Alte, Arbeitslose, Studenten. Sie stopften die großen Ölklumpen in große, weiße Plastiksäcke, walzten unkontrolliert durch die Marschen, und steckten alles, was eine braune oder dunkle Farbe hatte, in diese Säcke. In vielen Säcken war noch deutliches Leben zu erkennen – doch nicht mehr lange.

      Spezialisten achteten darauf, dass keine Film- und Fotoaufnahmen gemacht wurden. Helfer von Umweltorganisationen wurden vor allem durch die Küstenwache, aber auch dem US Fish- und Wildlife Service, daran gehindert, sich langsam und überlegt in die sensiblen Gebiete vorzuarbeiten. Es war Brutzeit, und Millionen von Wasservögel brüteten gerade. Bodo war zornig auf Ronald, den Chef des Wild- und Wildlife-Service. Er kam aus Greetsiel in Deutschland. Er hatte nicht den Mumm, sich gegen die Ölmafia und deren Helfershelfer durchzusetzen. Aber - was sollte letztlich ein Einzelner gegen diesen Sumpf ausrichten, der sich im Laufe von Jahrzehnten wie ein bösartiges Krebsgeschwür ausgebreitet hatte? Wer nicht mit uns ist, der ist gegen uns. Diesen Satz kannte Bodo zur Genüge. Dem Innenministerium war auch die wichtige Rohstoffbehörde MMS, der Mineral Management Service, unterstellt. Sie vergaben Lizenzen an die großen Ölkonzerne. Ihre Aufgabe sollte es sein, wichtige Vorschriften zu erarbeiten - und diese letztlich zu überwachen.

      Das Deepwater-Desaster brachte Wochen und Monate später einen Sumpf an Bestechung, Korruption und Dekadenz ans Licht, der jegliches Vorstellungsvermögen sprengte.

      Der Vorstandsvorsitzende des englischen Ölkonzerns hatte die Aktienkurse in schwindelerregende Höhen getrieben. Die wichtigen Mitarbeiter der MMS ließen sich über Jahre bestechen, und schauten über die laxen Vorgaben und Einhaltungen von Sicherheitsbestimmungen des Konzerns hinweg. Oder sie halfen sogar dabei, bestehende Vorschriften zu umgehen. Sie vereinnahmten die wichtigsten Beamten der Küstenwache und anderer Organisationen. Es war nur eine Frage der Zeit, wann diese Bombe hochgehen musste.

      Die Leiterin der MMS trat zurück, und übernahm alle Schuld der Vorgänger. Der Vorstands­vorsitzende des englischen Ölkonzerns ließ sich seinen Rücktritt mit einer millionenschweren Abfindung und einem lebenslangen jährlichen Pensions­anspruch von 600 000 Dollar pro Jahr versüßen. Bereits ein Jahr später gründete er mit einem türkischen Milliardär ein Unternehmen, um im Norden des Irak Öl zu fördern. Einen zweiten Job erhielt er als Chairman eines Schweizer Rohstoff­riesen; mit einer jährlichen Vergütung von einer Million Dollar; wie der SPIEGEL berichtete. Und nebenher engagierte er sich als Experte und Berater für eine US-Finanzfirma. Im Golf von Mexiko hinterließ er einen Scherben­haufen. Allein die Fischerei in dieser Region hatte einen vorläufigen Schaden von 2,5 Milliarden Dollar. Der Tourismus-Bereich verzeichnete ein Minus von über 3,0 Milliarden Dollar, und Ende 2010 rechnete man damit, dass bis zu 100 000 Arbeitsplätze verloren gegangen waren oder noch würden.

      Dieses Desaster war so gigantisch, dass der kurz-, mittel- und langfristige Verlust für die Schöpfung fast völlig ins Hintertreffen geriet. Wie hätte man auch den Verlust von vielen Delfinen, Millionen Vögeln und Billionen von Lebewesen im Golf von Mexiko beziffern und bewerten können? Der Mensch ist das Maß aller Dinge. Wer misst und wer bewertet alle übrigen Lebewesen?

      Drei Monate vor seinem Rücktritt sagte der Vorstandsvorsitzende des Ölkonzerns in einem Interview, dass es im Golf von Mexiko immer noch mehr Wasser als Öl gäbe. Er bestritt vehement, dass sich unter Wasser riesige Öl­schwaden durch das Corexit gebildet hatten. Wissenschaftler wiesen bereits damals auf eine Unterwasser-Wolke von 16x6 Kilometer hin. Die Küstenwache überwachte sorgsam, dass keine ungenehmigten Untersuchungen angestellt werden konnten. Wissenschaftler auf der einen und die Lobby der Ölmafia incl. der MMS und der Küstenwache auf der anderen Seite stritten über die genauen Mengen Rohöl, welche immer noch aus dem Bohrloch in 1 500 Meter Tiefe herausschossen. Dem Konzern gelang es zu verhindern, dass Wissenschaftler entsprechend aussagefähige Messmethoden anstellten.

      Später wurde bekannt, dass mindestens 700 Millionen Liter Rohöl in den Golf von Mexiko geflossen waren.

      Einen Großteil dieser braunen Brühe hatte man mit Erfolg daran gehindert, bis an die Oberfläche zu gelangen. Dies war nur möglich gewesen, da mindestens sieben Millionen Liter Corexit ausgebracht worden waren. Die Hälfte davon wurde in der Nähe des Bohrloches verteilt, so dass das Öl tief unten im Golf von Mexiko dispergierte, um daraus Wolken aus monoaro­matischen Kohlenwasserstoffen entstehen zu lassen.

      Ein Unter­wasserfahrzeug der WHOI machte Ende Juni 2010 in einer Tiefe von 1 100 Metern eine solche Wolke aus; mit einer gigantischen Ausdehnung von 35x1,9 Kilometer und einer Höhe von 200 Metern; nur eine von unendlich vielen Wolken dort unten.

      Marco hatte Bodo in den letzten Tagen mit großer Sorge beobachtet. Nachdem er lange mit sich gerungen hatte, setzte er sich schließlich mit Iris in Verbindung, um sie um Rat zu fragen.

      Sie hatte bereits den Koffer gepackt, und wollte eine Stunde später zum Flughafen Frankfurt fahren. Iris hielt es vor allem für sinnvoll, Bodo nicht mit weiteren Daten und Fakten zu versorgen. Statt­dessen war es dringend geboten, ihn mit anderweitiger Arbeit einzudecken oder abzulenken.

      Darüber sollte Marco auch mit Ole sprechen.

      Bodo wollte wieder die Aktivisten vom Flughafen Biloxi abholen. Die ein­hundert Helfer hatten ein Anrecht darauf.

      Die kommenden Tage oder Wochen würden schwer genug werden.

      Bradly hatte zwei Omnibusse organisiert. Für einen Bus war er und für den anderen Bodo zuständig.

      Doch kurz vor der Abfahrt hielt es Marco für sinn­voller, die Aufgabe mit Bradly zu tauschen. Er gab vor, die meisten der Ankom­menden besser zu kennen. Bradly schmollte.

      Bodo wurde, wie von Marco erwartet, zunächst von einigen Frauen umringt. Es war die IT-Expertin Alisha Caldwell, welche sofort mit einem »Boodooo« an dessen Hals hing.

      Sie und die hübsche Biologin Mary-Jane Owen kannten sich von den Eco Warriors.

      Beide Amerikanerinnen waren lange Zeit in einem Little Guantanamo für Frauen malträtiert worden.

      Die Amerikanerin Ann Chandler leitete inzwischen die größte Psychiatrie in New York. Sie begnügte sich nicht mit einem Küsschen auf die Wange, sondern gab Bodo einen herzhaften Kuss auf die Lippen.

      Iris registrierte diesen Vorgang aus der Ferne, wurde jedoch sofort von Marco in Beschlag genommen.

      Die amerikanische Crew wurde komplettiert durch den Psychologen Travis Bullock, vom IT-Guru Ad McCoy und vom Sicherheits-Experten Gabe Whitley. Sie alle waren in Little Guantanamo inhaftiert gewesen.

      Danach bahnte sich die deutsche Mannschaft einen Weg durch die große Zahl der angekommenen Aktivisten, um vor allem Bodo zu begrüßen:

      Bodos langjährigste Wegbegleitern, die Biologin Simone van Zween, Nils Ruffuß, und die Ärztin Sylvia Wollstedt, welche inzwischen die rechte Hand von Iris geworden war.

      Aus