Kurt Pachl

Bodos zornige Seele


Скачать книгу

anschließende Pause dauerte viele Sekunden. Alle Aktivisten im Raum schienen den Atem anzuhalten. Stille. Mit leiser Stimme fuhr er fort.

      »Einige konnten die grausamen und quälenden Bilder nicht mehr ertragen - nicht mehr aus ihren Köpfen bekommen. Sie sind heute nicht mehr unter uns.«

      Bodo schaute nach oben. Dann hob er beide Hände flehend gen Himmel.

      »Wir werden euch nicht vergessen! Ihr werdet immer unter uns sein! Eure Seelen sind in uns! Sie geben uns Mut, weiter zu machen. Sie spornen uns an, das Richtige zu tun. Doch - seid mir nicht böse, ihr Seelen da oben, wenn ich eure Mitstreiter heute bitte … «

      Bodo blickte stumm in die Runde. Er versuchte, jedem einzelnen Aktivisten in die Augen zu schauen.

      »Ihr hier … in diesem Raum … Ihr seid zu wichtig … Ihr seid zu kostbar … für unseren Kampf. Euer Leben ist kostbar! Helft euch gegen­seitig, wenn euer Herz zu schwer wird … und eure Seelen vor Schmerzen weinen.«

      Nach einer erneuten Kunstpause schwoll seine Stimme an. Die Mimik und Gestik folgte seinen Worten.

      »Die Schöpfung braucht uns. Mehr denn je. In den nächsten Tagen oder Wochen werden wir wieder bis an unsere Grenzen geführt werden. Wir werden wieder wütend sein - und voller Zorn. Wir hatten in der Vergangenheit nicht nur helfen wollen, sondern gehofft, zumindest einen Teil der Menschen durch unsere Aktionen zu sensibilisieren und aufzurütteln. Doch die Mächtigen - mit ihren ekelhaften und verlogenen Worthülsen - diese Pharisäer. Sie waren sich nicht zu schade, von Werten, von Demokratie, von Ethik und von Moral zu sprechen. Sie haben von ihrer Verantwortung für die Zukunft gesprochen. Sie haben uns Bilder von vielen Arbeitsplätzen und Sicherheit an die Wand gemalt. Und in Wirklichkeit haben sie immer nur daran gedacht, wie sie ihre Macht ausweiten konnten; wie sie ihr Kapital vermehren konnten; wie sie es schaffen konnten, die Aktienkurse nach oben zu katapultieren und Geld zu scheffeln … ohne Rücksicht auf Verluste – seelenlos, charakterlos, schändlich, hassenswert. Ja, ich hasse sie, diese gierigen Bosse der großen Konzerne. Ich hasse diese ekelhaften Hasardeure und Zocker. Ich hasse diese charakterlosen Politiker, die sich kaufen ließen. Ich hasse diese Lobbyistenschweine, die sehr wohl wissen, was sie mit ihrem Tun anrichten. Ich hasse dieses gesamte kranke System, diese Helfer der Hölle, die Totengräber an unserer aller Zukunft. Dieser Brut fehlt es an jeglicher Empathie - nicht nur für ihre Mitmenschen, sondern vor allem auch für diese herrliche Schöpfung. Sie wagen es, sich in Kathedralen zu setzen und so zu tun, als würden sie beten. Ihr Gott ist das Gold. Niemals können sie mit Gott den meinen, der diese Erde mit allen Lebewesen erschaffen hat oder hat entstehen lassen. Ich habe mir viele der riesigen und blutenden Wunden auf dieser Erde angeschaut; in Europa, in den Staaten, in Russland, in China, in Indien, in Indonesien und Australien, in Japan und vor allem auch in Afrika. Diese Schöpfung stirbt in einer rasenden Geschwindigkeit. Was in hunderten von Millionen Jahren entstanden ist - diese scheinbar unzähligen Arten an Säuge­tieren, Vögeln, Insekten, Fischen, Korallen und Pflanzen - wird in zum Teil wenigen Jahrzehnten vernichtet … für immer … für ewige Zeiten … unwiederbringlich. Wenn es einen Gott, einen Schöpfer, gibt … und den gibt es! … muss er die Seelen dieser Untiere dereinst abweisen. Sie sollen, nein sie müssen, in der Hölle schmoren - für immerdar, bis in alle Ewigkeit.«

      Bodo hatte sich in seine Ansprache hineingesteigert. Einige Worte schossen wie Pfeile aus ihm heraus; laut und akzentuiert. Es gönnte sich keine Pause, in der er sich seine Schweißtropfen von der Stirn hätte wischen können. Die Tropfen rannen über seine Nase, über seine Wangen und seinen Hals. Er stieß erkennbar an die Grenze seiner Kraft.

      Die nachfolgenden Sätze fielen deshalb leiser und weniger emotionsgeladen aus.

      »Gerade hier, in diesem dekadenten Land, rennen unzählige Menschen irgendwelchen pseudoreligiösen Heilsbringern hinterher. Sie glauben daran, dass Gott diese herrliche Schöpfung in wenigen Wochen erschaffen hat. Die meisten von diesen Menschen sind Pharisäer und verlogene Individuen. Wenn sie wirklich an Gott und wirklich an einen Schöpfer glauben - und wenn sie wirklich Angst vor dem Jüngsten Gericht haben - wie ist es dann zu verstehen, dass sie nicht innehalten? Das kleine Häuschen mit den großen Schulden ist ihnen wichtig! Das große Auto mit dem hohen Spritverbrauch ist ihnen wichtig! Die Wolkenkratzer und die hellerleuchteten Häusermeere sind ihnen wichtig! Luxus ist ihnen wichtig! Sie wollen viel Fleisch auf ihren Tellern haben. Immer mehr. Sie fragen nicht nach den unsäglichen Qualen, die damit einhergehen. Sie haben einen unstillbaren Energiehunger. Sie wissen sehr genau, wie viele Kriege nur deswegen geführt wurden - und weiterhin geführt werden. Unsere Welt ist heute gläsern. Niemand kann und darf sagen: Das habe ich so nicht gewusst. Richtig ist, dass die meisten dieser Wesen kein Gefühl mehr haben; für ihre Mitmenschen, für die Zukunft und letztlich für die Schöpfung.

      Natürlich gibt es Ausnahmen, wenige Ausnahmen - Gott sei Dank.«

      Erst jetzt machte Bodo eine Verschnaufpause. Er kramte nach einem Taschentuch und stellte fest, dass dieses sofort durchnässt war. Stille herrschte im Raum. Es hatte den Anschein, dass es niemand wagte zu atmen. Keiner räusperte sich. Keiner griff nach seinem Glas, um seine trocken gewordene Kehle zu befeuchten.

      »Gehet hin und mehret euch und macht euch die Erde untertan.«

      Bodo schüttelte mit dem Kopf und verzog verächtlich den Mund.

      »Was für eine Blasphemie klingt aus diesem Satz, den Gott im Alten Testament, also im wichtigsten Buch der drei Neuen Religionen, gesagt haben soll. Der gleiche Gott und Schöpfer, der all diese unendlich vielen und schönen Geschöpfe und Pflanzen erschaffen hat oder entstehen ließ, soll den ersten Menschen auf diesem Planeten den Auftrag gegeben haben, sich diese, seine Schöpfung, untertan zu machen?! Vernichtet diese Schönheiten, wie es euch beliebt, soll er gesagt haben?! Mehret euch bis in alle Unendlichkeit, soll er gesagt haben? Vernichtet damit nicht nur mein gesamtes Werk, sondern euch mit dazu, soll er gesagt haben? Vernichtet die Wälder? Rottet eure Mitgeschöpfe aus? Verwandelt blühende Landschaften in riesige Krater oder Sümpfe aus Öl und Müll? Das soll er gesagt haben?!«

      Bodo hob einen Zeigefinger und blieb lange in dieser Haltung.

      »Er, der Schöpfer, hat bei der Menschwerdung Intelligenz entstehen lassen. Wenn es der Schöpfer war, der auch die Intelligenz geschaffen hat, so hat er den Menschen damit eine Verantwortung über sein gesamtes Werk erteilt. Liebet eure Mitgeschöpfe, achtet sie und schützt mein Werk ­- muss er damit gesagt haben.

      Und das müsste sich in der Bibel widerspiegeln. Wer etwas anderes denkt, sagt oder meint - der verhöhnt diesen Schöpfer. Wer diese Schöpfung mit Füssen tritt, verhöhnt unseren Schöpfer ebenfalls. Sie machen sich zu Handlagern des Teufels. Sie sagen sich damit von Gott, unserem Herrn und Schöpfer, los. Das sind Gottlose. Ihnen droht ewige Verdammnis. Wer den Geist dieser schönen Schöpfung in Frage stellt und missachtet, müsste deshalb bereits auf Erden unter Strafe gestellt werden. Ich verachte und hasse deshalb diese Wesen, die nun wieder einmal ein Stück der Schöpfung vernichtet haben – oder vernichten werden. Wir haben, so gesehen, eine göttliche Aufgabe. Wir müssen möglichst viele Geschöpfe retten und erhalten. Das sollte uns in den nächsten Tagen beseelen. Wir kommen hierher, um zu helfen. Zumindest wir wissen, warum und wofür wir dies tun.«

      Bodo öffnete seine Hände und streckte sie nach vorn.

      »Wir helfen damit auch den Menschen hier in dieser Region. Wir kämpfen vor allem für unsere Freunde - die vielen, schönen Vögel, die gerade brüten, für die restlichen Tiere und Pflanzen auf den unzähligen kleinen Inselchen, in den Schilfgürteln, den Auenlandschaften und in den Marschen, für die unglaubliche Vielzahl der Tiere und Pflanzen auch unter Wasser.«

      Bodo machte eine Kunstpause. Immer noch herrschte atemlose Stille im kleinen Saal.

      »Bei meinem letzten Atemzug will ich zu mir sagen können: Bodo, du hast deinen Beitrag geleistet. Mehr konntest du nicht tun. Und ich bin fest davon überzeugt, dass ihr ähnlich denkt und fühlt. Ihr seid Kinder des Schöpfers. Ich liebe euch.«

      Erst jetzt fielen seine hart gewordenen Gesichtszüge wie eine Maske von ihm. Mittlerweile war er in Schweiß gebadet. Ein leichtes und nun auch zufriedenes