Josef Mugler

Melange, Verkehrt und Einspänner


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ein wenig hinter dem Mauervorsprung zurück­lehnte. Er bestellte einen Kaffee mit Milch. Der Kellner murmelte „Melange oder verkehrt?“, was Sturiak nicht deuten konnte. Der Kellner gewahrte seinen hilflosen Blick und entfernte sich. Sturiak hatte seinen Mantel über einen der Sessel geworfen, auf dem er auch sein voluminöses Handgepäckstück, das er mit sich herum­schleppen musste, abgestellt hatte. Als ihn eine Dame ansprach, hatte er eine kurze Schrecksekunde zu überstehen, denn von jemandem hier als vollkommen Unbekannter angesprochen zu werden, konnte womöglich auf seine Entdeckung durch die, die ihn suchten, hindeuten. Aber es stellte sich heraus, dass die Frau unbedingt seinen Mantel in die Garderobe mitnehmen wollte, was sie auch bei anderen Gästen tat. Sturiak sträubte sich dagegen und argumentierte, dass er wahrscheinlich rasch wieder gehen müsse und den Mantel sicherheitshalber griffbereit bei sich haben wollte. Ob der zweifelnde Blick der Garderobiere seine nicht ganz selbstsicher vorgebrachte Ausrede betraf oder zum Ausdruck bringen sollte, dass man, wenn man schon ins Landtmann käme, dann auch genügend Zeit für einen Kaffeegenuss mitbringen müsse?

      So verging wieder ein halbe Stunde, in der Sturiak nichts zur Auflösung des Knotens einfiel und in welcher er auch seinen Standort nicht gewechselt hatte. Das war somit ein Punkt für seine Gegner. Es wäre nun an der Zeit, dachte er, dass er einen entscheidenden Punkt für sich herausholte. Da fiel sein Blick auf das Theaterprogramm einer Tageszeitung. Zweimal las er die Ankündigung eines Stückes namens „Elisabeth“, einmal als Musical und einmal als Thea­terstück, das präzise „Elisabeth II.“ hieß. Das konnte die Basis für ein Rätsel abgeben. Dazu fand er in derselben Zeitung auch noch einen Kommentar zu „Elisabeth II.“ und entnahm daraus den Hinweis, dass dieses Stück im Salon eines reichen Industriellen namens Herrenstein spielte, von dem aus auch für das Publikum im Hintergrund der Bühne die Fassade der Wiener Staatsoper zu sehen wäre. Ein Bühnenfoto ließ Sturiak darauf schließen, dass die Fassade der Staatsoper, vor welcher er vor Kurzem erst gestanden war, vom Balkon des be­sag­ten Herrn Herrenstein halb rechts auf der anderen Straßenseite auszumachen war. Das wollte Sturiak für die verschlüsselte Beschreibung des Standortes, von dem man ihn abholen sollte, ausnützen.

      Aber wie würde man ihn erkennen, vorausgesetzt, dass die Wiener Kollegen sein Rätsel überhaupt verstanden. Er bestärkte sich selbst in seiner Entscheidung mit der Überlegung, dass es in den gutbürgerlichen Kreisen Wiens, welchen die Personen, die ihn angefordert hatten, wohl zuzuordnen waren, ausreichend Kulturbeflissene geben würde. Die Gegenseite würde sich vielleicht einer nicht so sehr an Kultur interessierten Mannschaft zur Aus­führung ihrer Pläne bedie­nen. Und er formulierte den folgenden Text, den er sicherheitshalber auf eine Serviette schrieb, damit er ihn auch optisch vor sich sah und dadurch besser auf etwaige Schwächen prüfen konnte.

      Dieser Text lautete: „Vor dem Haus, wo Elisabeth wirklich spielt, ist der Rosen­kavalier drei Stunden zu früh dran.“

      „Hallo Priem!“ Sturiak befand sich schon in der nächsten Telefonzelle, „hören Sie: Vor dem Haus, wo Elisabeth wirklich spielt, ist der Rosenkavalier drei Stunden zu früh dran.“ Er wiederholte den Satz und legte sofort auf.

      Drei Stunden zu früh. Das hieß, dass er jetzt noch eine Stunde Zeit hätte. Der Rosenkavalier begann um 18.30 Uhr, also musste er um 15.30 an Ort und Stelle sein. Er würde sich auch beim nächstbesten Blumenstand eine Rose kaufen, damit seine Identifikation leichter fiel. Aber das konnte natürlich auch seine Gegner auf ihn aufmerksam machen. Hoffentlich kannten sie sich mit Oper und Theater nicht aus! Die Burschen, die sich ihr Geld mit der Entführung von Menschen verdienen, werden doch nicht etwa Opernfans sein! Doch fiel ihm in diesem Moment ein: Mafiosi nannten sich doch „Freunde der italienischen Oper“! Er war sich nicht sicher, ob das nur in einem Film so vorgekommen oder tatsächlich in der Realität so gewesen war. Zum Erstaunen der Gar­derobiere hinterlegte er vor dem Verlassen des Cafés sein Handgepäck in der Garderobe und eilte, nun wenigstens von dieser Last befreit, mit neuem Mut ins Freie.

      Gut zehn Minuten vor 15.30 Uhr traf Sturiak mit der Ringlinie der Straßenbahn wieder vis-à-vis der Wiener Staatsoper ein. Sofort suchte sein Auge an der langen Fassade des vor ihm stehenden Gebäudes, das den Namen „Hein­richs­hof“ führte, nach einem geeigneten Balkon, wobei er die Perspektive des Büh­nen­fotos zu beachten suchte. Der Heinrichshof hatte eine Fassade, die nicht mehr die des ursprünglichen Prachtbaus war. Denn dieser war im Zweiten Welt­krieg den Bomben zum Opfer gefallen und danach neu errichtet worden. Sturiak konnte sich nicht vorstellen, dass von den paar Balkönchen mit Gittern aus Eisenstäben einer der vom Dichter der „Elisabeth II.“ gemeinte sein könnte. Er musste daher geradezu zwangsläufig sein Auge über die Fassade des Hein­richshofs hinaus auf das nächste Gebäude gleiten lassen. Dazwischen lag die Unterbrechung der Häuserfassade durch die hier hindurchführende Opern­gasse.

      Das Eckhaus auf der anderen Seite der Operngasse, die hier die Ring­straße kreuzte, hatte eine ältere Fassade, an der auch auf der Ring­straßenseite ein alter steinerner Balkon zu sehen war. Sturiak kam zur Über­zeugung, dass es sich um diesen Standort handeln musste, von dem aus die Fassade der Wiener Staatsoper in halbrechter Richtung im Hintergrund des Bühnenbildes sichtbar war. Hier musste die letzte Szene des Dramas von Thomas Bernhard spielen, in welcher dieser Balkon einstürzt und die Gäste des alten Herrenstein, die gekommen sind, um die auf der Ringstraße vorbei­zie­hende Königin von Eng­land, eben Elisabeth II., aus der Nähe zu sehen, in den Tod reißt.

      Unterhalb des Balkons saßen, umgeben von allerlei Kuchen und Süßigkeiten, hinter einer Glasfassade die Gäste einer Konditorei. Oder war es auch ein Kaffee­haus? Was stand da zu lesen? „Aida“! Oh Schreck, durchzuckte es Sturiak: Was hatte das mit dem Rosenkavalier zu tun? Das war doch eine andere Oper! Hoffentlich würde seine Botschaft nicht missverstanden werden. Der Treffpunkt musste hier sein, wo nicht der Rosenkavalier, sondern Aida zu Hause war. Die Gäste an den engen Tischen und Stehpulten ahnten nichts von der Sorge, die der auf der gegenüber liegenden Straßenseite nervös um sich spä­hende Herr verspürte.

      *

      Vor Priem lag ein Blatt Papier, auf dem der von Sturiak diktierte Satz in großen Buchstaben zu lesen war. Er hoffte, dass die Wörter umso eher ihr Geheimnis preisgeben würden, je größer sie geschrieben stünden. Weissacher beugte sich über seinen Rücken und starrte ebenfalls auf das Papier. Priem ließ auch Anke kommen, auf deren Intuition und Kreativität bei der Interpretation von Texten er schon manchmal mit Erfolg zurückgegriffen hatte.

      „Vor dem Haus, wo Elisabeth wirklich spielt, ist der Rosenkavalier drei Stunden zu früh dran.“ Priem las es langsam nochmals vor und setzte hinzu: „Wo spielt man ‚Elisabeth’?“

      „Das Musical, das die Lebensgeschichte der unglücklichen Kaiserin von Öster­reich nachzeichnet, wird im Theater an der Wien gespielt.“ Darin waren sich Anke und Weissacher einig. Aber das war doch zu leicht! Das weiß doch jeder in Wien! Es musste noch eine andere Bedeutung geben.

      Anke liebte das Theater. Daher kannte sie das Stück von Thomas Bernhard, hatte es aber noch nicht gesehen. Sie wusste auch, dass es im Burgtheater nach längerer Pause wieder auf dem Programm stand. War das Burgtheater ge­meint? – Nein, das wäre doch genauso durchsichtig wie der Hinweis auf das Theater an der Wien.

      Es war Weissacher, der die Idee äußerte, dass nicht das Theater als Spielort gemeint sein könnte, sondern der im Stück angegebene Ort. Was kam da für das Musical in Frage? Das spielte an verschiedenen Schauplätzen, eben wohin das Leben die arme Kaiserin verschlagen hatte. Konnten das Schloss Schönbrunn oder einer der vielen anderen Schauplätze gemeint sein? – Das hätte Sturiak genauer formulieren müssen.

      Wo spielte „Elisabeth II.“? Niemand wusste es. Anke wurde beauftragt, das im Burgtheater zu erfragen. Aber halt! Sie durfte es nicht telefonisch tun, denn im Fall der Abhörung des Telefonanschlusses würde man den Gegnern die heiße Spur gratis servieren. Anke erinnerte sich, dass die Österreichischen Bundes­theater Informationen über die Stücke, die sie spielten, im Internet anboten. Vielleicht würde sich ein Hinweis dort finden! Anke saß schon an ihrem Com­puter und rief die Homepage der Bundestheater auf.

      Währenddessen versuchten sich Priem und Weissacher gegenseitig zur Inter­pre­tation der Zeitangabe zu stimulieren.

      „Der