Josef Mugler

Melange, Verkehrt und Einspänner


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ihr Schrank. Und jetzt kam ihr Bewusstsein Schlag auf Schlag voran. Sie war zu Hause, man hatte sie in ihrer eigenen Wohnung abgesetzt.

      Mit einem Ruck – oh je, so schnell ging das nicht, nach der langen Betäubung – unter Aufbietung all ihrer Kraft richtete sie sich auf. Sie fühlte sich elend schlapp. Am liebsten hätte sie sich wieder hingelegt, sie war ja zu Hause, sie war nicht mehr in einer ihr fremden und feindlichen Umgebung. War es wirklich kein Traum gewesen? War sie vielleicht krank? Ja, sie fühlte sich wie nach einer schweren Grippe, wenn man hohes Fieber hinter sich hatte und noch gar nicht gerne auf die Beine will. Ausruhen von einer langen schweren Krankheit, das war die Sehnsucht, die sie wieder auf das Bett, auf dem sie gelegen war, nieder­drücken wollte. Doch das Geschehene forderte sie zum Handeln heraus. Ihr Geist kämpfte gegen ihren schwachen Körper. Was war als Erstes zu tun? Sie zwang sich auf, um wenigstens Licht machen zu können. Ihre teure Decken­beleuchtung tauchte das Zimmer in das gewohnte Licht. Sie schleppte sich zum Fenster. Das hatte einen Rollladen, der den Raum fast völlig vom Außenlicht abschirmen konnte. Sie zog den Rollladen hoch. Wie schwer das fiel! Er musste ja nicht gleich ganz hochgezogen sein! Durch den Spalt, den sie schaffte, drang das graue Licht eines düsteren Novembertages. Es war Tag. Anke fragte sich, welcher Tag es war. Wie lange war sie ohne Bewusstsein gewesen? Wie lange hatten sie die Entführer festgehalten? Sie hatte das Gefühl für die Zeit verloren. Sie schaute auf die Standuhr auf der Kommode: Es war fast 11 Uhr. Aber welcher Tag war heute? Sie schaltete den Fernseher ein. Da kam ihr in den Sinn, dass sie unmöglich allein in ihre Wohnung hereingekommen sein konnte. Hatten die Entführer sie hier abgesetzt? Wie kamen die in ihre Wohnung? – Natürlich! Sie hatte ja den Wohnungsschlüssel in ihrer Handtasche. Das war also leicht erklärbar. Waren die Entführer womöglich noch hier? Wurde sie nun in ihrer eigenen Wohnung gefangen gehalten? Anke schleppte sich ins Vorzimmer, hielt Nachschau in allen Räumen ihrer kleinen, aber geschmackvoll ausgestatteten Wohnung. Die Tür auf den Korridor war geschlossen. Sie war allein in ihrer Wohnung, sonst niemand hier. Bevor sie jemanden von ihrem Auftauchen in­formieren würde, beschloss sie, eine Dusche zu nehmen.

      Dann rief sie zuerst Herbert an. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass Herbert an ihrer Geschichte zweifelte. Aber er wollte sie immerhin sofort aufsuchen, was bedeutete, dass er die Sache an sich ernst zu nehmen schien. Sie war ernst und es machte keinen Unterschied, ob es wirklich passiert war oder eingebildet. Es war in beiden Fällen ernst. Doch Anke wurde bewusst, dass man auch in ihrer Firma, der Consulting Support, ihr Wiederauftauchen so rasch wie möglich erfahren sollte. Da war doch dieser Gast, den sie vom Flughafen abholen sollte. Wer sich wohl um den gekümmert haben würde? Also beschloss Anke, erst einmal in der Firma anzurufen und dann auch gleich hinzufahren. Ja, und die Polizei wäre auch zu verständigen. Aber das würde sie von der Firma aus machen, nachdem sie mit den klugen Köpfen dort beraten haben würde, was jetzt alles zu erledigen sei.

      *

      Mario Andolfi saß in seinem Büro und konnte sich nicht auf seine Arbeit kon­zen­trieren. Sollte er seine Frau verständigen, in welch merkwürdiger Situation sie plötzlich durch sein Wissen waren? War nicht nur er, sondern waren auch seine Frau und seine Tochter in Gefahr? Wenn es sich um skrupellose Ver­brecher handelte, könnten die sich an seine Familie heranmachen, um ihn zum Verrat von Rons Aufenthalt zu zwingen. Wenn nun aber sein Telefon ebenfalls bereits abgehört würde, dann wäre sein Anruf nur die Bestätigung dafür, dass er der Schlüssel zu Ron war, der einzige Schlüssel, wie er sich nicht ohne stei­gen­des Angstgefühl eingestehen musste. Der Gedanke lähmte ihn so, dass er sich zu keiner Handlung durchringen konnte. Was hatte dieser Priem gesagt? Er solle sich nicht aus dem Büro wagen, bis sie professionellen Schutz organisiert hätten? Wie war es nur möglich, dass er plötzlich zur Schlüsselfigur in einem Kri­mi­nalfall geworden war?

      Andolfis Sekretärin meldete einen Herrn Weissacher, der im Auftrag von Consulting Support hier wäre. Mario war froh, dass sich jemand so schnell um ihn kümmerte. Einen Augenblick durchzuckte ihn der Gedanke, dass dieser Be­sucher von der Gegenseite sein könnte, dass er in eine Falle getappt sein könnte. Aber Weissacher war schon im Zimmer.

      „Alles in Ordnung? Irgendwelche besonderen Vorkommnisse seit dem Telefonat mit Herrn Priem?“

      Weissacher machte auf Mario einen beruhigenden Eindruck. Der schien die Sache professionell anzugehen.

      „Glauben Sie, dass … dass auch meine Familie in Gefahr ist?“

      „Wir werden einen Wagen hinschicken. Geben Sie mir die Adresse!“

      Sie würden einen Wagen hinschicken? War denn hier schon eine ganze Armee mit dem Fall beschäftigt? Was für eine Riesensache musste das sein?! Mario fühlte wieder die Angst hochsteigen.

      „Und jetzt sagen Sie mir, wo wir Ron Sturiak finden können!“, brachte Weis­sacher seine Mission auf den Punkt.

      Mario nannte das Hotel.

      „Gut! Ich werde hinfahren. Rufen Sie sicherheitshalber weder Sturiak in seinem Hotel noch Ihre Frau zu Hause an! Wir lassen einen Wagen hier vor Ihrem Büro. Sicher ist sicher! Sehen Sie hinunter!“, und Weissacher deutete zum Fenster hin­aus, „das ist der Wagen; die zwei Typen, die sich dort unterhalten, sind zu Ihrem Schutz hier.“ Damit eilte Weissacher schon wieder zur Tür.

      Marios Blick fiel auf seine Tischuhr. Sie zeigte 11 Uhr. Da fiel ihm Rons An­kün­digung ein, dass er nur bis 10 Uhr im Hotel bleiben würde.

      „Herr Weissacher! Hoffentlich ist das kein Problem: Ron sagte mir, dass er … eigentlich … nur bis … bis 10 … Uhr in diesem Hotel bleiben würde.“

      „Zum Teufel!“ Und Weissacher setzte noch einen Fluch drauf, der nicht nur in den Wind gesprochen war, sondern wohl auch zu einem guten Teil Andolfi galt. „Und da verständigen Sie uns nicht früher? – Mit wem sind Sie im Bund? Ge­hören Sie zu denen, die ein Interesse daran haben, dass Mr. Sturiak seinen Auftrag nicht ausführen kann? Sie werden das noch zu erklären haben!“

      „Und beinahe hätte ich vergessen: Sturiak hat sich unter falschem Namen dort registriert!“ Andolfi nannte den Decknamen.

      „Jetzt sagen Sie mir aber gleich alles, was Sie noch auf Lager haben, auf einmal!“ Als Andolfi nur hilflos stammelte, nein, das wäre jetzt wirklich alles, ließ ihn Weissacher wortlos stehen. Andolfi wäre am liebsten im Erdboden versunken und haderte mit dem Schicksal, das ihn plötzlich so ganz ohne seine Schuld, wie er meinte, in eine ziemlich unangenehme, offenbar sogar ge­fähr­liche Sache verwickelt hatte.

      *

      Da Sturiak überzeugt war, dass Mario etwas Vernünftiges unternehmen würde, um ihn an seinen Widersachern vorbei zu seinem Auftraggeber, der Consulting Support, zu bringen, genoss er nach der langen Nacht das Frühstück in seinem Hotel in der Margaretenstraße, jedenfalls so lange, als der Stundenzeiger der auf antik getrimmten Wanduhr noch respektabel weit von der Ziffer zehn entfernt war. Je näher er aber dieser Marke rückte, desto unsicherer wurde Sturiak. War er womöglich bereits entdeckt worden? Er musterte immer aufmerksamer die Personen, die den Frühstücksraum betraten. Einmal wollte er schon aufspringen und auf die Toilette flüchten, als er meinte, dass zwei sportlich aussehende junge Männer zögernden Schrittes den ganzen Raum mit ihren Blicken sorgfältig ausloteten, als ob sie, ohne selbst auffallen zu wollen, jemanden suchen würden. Als sich die beiden dann aber an einem von den übrigen Gästen etwas abseits stehenden Tisch niederließen und einander zärtlich die Hände reichten, wusste Sturiak, dass bei den beiden etwas anderes lief als seine Ausforschung.

      Sturiak hatte sein Handgepäck sicherheitshalber schon vor dem Frühstück ge­packt und seine Rechnung bezahlt. Er hätte das Hotel jederzeit sofort verlassen können. Bevor er sich eine Viertelstunde nach 10 Uhr dazu entschloss, ging er nochmals auf sein Zimmer, das ein Fenster auf die Straße hatte, um sich zu überzeugen, dass keine verdächtigen Personen oder Fahrzeuge unten zu sehen waren. Aber was war in dieser Situation eine verdächtige Person oder ein ver­dächtiges Fahrzeug? Die Straße war um diese Zeit durchaus stark fre­quen­tiert, Passanten eilten vorbei, betraten Geschäfte, kamen aus Geschäften heraus, Autos fuhren vorbei, füllten die wenigen Parklücken, sobald sie frei wurden, wieder auf, das Bild eines Alltags in einer Geschäftsstraße, nicht gerade einer Hauptgeschäftsstraße, aber doch ein lebendiges