Mathias Bestle

Robinson.Leva


Скачать книгу

halbe Stunde später diskutierte ich mit ihr.

      „Du bist dir sicher, dass ihr eine andere Menschenart im wissenschaftlichen Sinn seid?“, fragte ich. Ich fand es beruhigend, mich in dieser paradoxen Situation auf mein Schulwissen zu stützen.

      „Ja.“

      „Art, nicht Rasse. So wie die Neandertaler eine andere Art waren?“

      „JA.“

      „Aber ich dachte, vom Menschen gibt es nur noch diese eine Art! Homo sapiens, die Art, der wir alle angehören, egal woher wir kommen!"

      Dala seufzte. „Natürlich dachtest du das, die Menschen wissen ja nichts von uns.“

      „Richtig", murmelte ich verwirrt. „Aber... warum?“

      „Wir verstecken uns.“

      „Aber warum!?“

      „Kannst du dir das nicht denken, warum? Die Menschen führen doch gegen alles Krieg, was nicht genau ist wie sie. Was sie nicht kennen macht ihnen Angst, also machen sie es platt. Die bekämpfen sich ja untereinander schon, nur weil sie nicht alle an dasselbe glauben oder genau gleich aussehen. Wenn wir da mit unseren Flügeln auftauchten, wären wir so gut wie tot.“

      Ich protestierte. „Bei weitem nicht alle Menschen sind so!“

      „Es braucht auch nicht viele, um die anderen mitzureißen oder zumindest zum Schweigen zu bringen.“

      „Aber wenn ihr nun schon seit Jahrtausenden ganz normal unter den Menschen gelebt hättet...“

      „Auch Rassen und Religionen gibt es seit Jahrtausenden. Außerdem haben die Menschen lange Zeit von uns gewusst - und uns dabei fast immer verfolgt!“

      Ich sah sie überrascht an. „Die Menschen haben von den Leva gewusst?“

      „Na was glaubst du, wo all die Legenden von geflügelten Menschengestalten herkommen? Die Lilith, die es schon bei den Sumerern gab, Isis, Nephtys und andere bei den Ägyptern, die Nike in der griechischen Mythologie, Victoria bei den Römern", zählte sie an ihren Fingern auf. „Feen in der keltischen und romanischen Mythologie, Samovila in der slawischen, Elven oder Alben in der nordischen, Síde in der inselkeltischen, Garuda in Indien, Tengu in Japan, Diwata auf den Philippinen und so weiter.“

      „Das seid alles ihr?“

      „Wir sind die Inspiration. Wie sonst hätten die verschiedensten Kulturen auf der ganzen Welt auf dieselbe Idee kommen sollen?“

      „Ja...", murmelte ich und überlegte. „Aber... es spricht meiner Meinung nach nicht gerade dafür, dass Menschen euch feindselig gegenüberstehen. Solche Wesen wurden doch von ihnen verehrt! Sogar Engel werden in den verschiedensten Religionen mit Flügeln dargestellt!“

      „Teufel genauso... Rob, ich verstehe ja, dass du die Menschen verteidigen willst. Aber überleg mal: Mit unseren Flügeln hätten wir eine erfolgreiche Art auf dieser Welt sein können, doch wir kamen nie richtig auf. Irgendetwas hat unsere Zahl ständig dezimiert. Und es deutet nun mal alles darauf hin, dass das immer schon die Menschen waren. Schau dir an, wie wir unsere Flügel um uns schlingen. Damit können wir sie problemlos vor den Menschen verbergen und für ihresgleichen gehalten werden. Wie hat sich das wohl entwickelt?“

      Ich zuckte mit den Schultern.

      „Und wir wissen, dass viele Leva noch bis in die frühe Neuzeit furchtbar gelitten haben. Sie wurden als Dämonen, Magier oder Hexen verfolgt und hingerichtet. Die Angst, entdeckt zu werden, trieb sie in Verstecke, schnitt sie noch mehr von der Gesellschaft ab und stürzte sie in bittere Armut. Teilweise glaubten sie sogar selbst, an einer schrecklichen Krankheit zu leiden oder vom Teufel heimgesucht zu sein. Sie lebten in kleinsten Gruppen über die ganze Welt verstreut und wussten oft nicht einmal, dass sie nicht allein waren in dieser 'Abart'. Erst im 17. Jahrhundert haben sie begonnen, sich zu organisieren. Sie begannen, ihre Andersartigkeit gezielt zu verbergen. Und gerade ab diesem Zeitpunkt flaute die Hexenverfolgung ab.“

      „Moment, du willst damit sagen, dass die Hexenverfolgung vor allem auf die Leva abgezielt hat?“, fragte ich ungläubig.

      „Natürlich wurden im Endeffekt viel mehr Menschen umgebracht. Aber die Leva bildeten die Grundlage, ja. Sie waren für die Ankläger die vereinzelten Beweise für die Existenz von, sagen wir Teufeln oder Dämonen. Sie sahen sie in der Nacht über den Himmel fliegen und schon waren es Hexen, auf Besen. Als die Leva von der menschlichen Bildfläche verschwanden, gingen den Menschen diese gelegentlichen Beweise eben aus. Und zusammen mit der Aufklärung bedeutete das das Ende der Hexenverfolgung.“

      „Warum gibt es dann keine Aufzeichnungen von ihnen?“, fragte ich, als könnte ich mit Logik die Existenz der Leva anfechten. „Inquisitionsverfahren und Hexenprozesse wurden doch auch dokumentiert!“

      „Solche Aufzeichnungen gibt es bestimmt, nur wurden sie eben später nicht mehr ernst genommen. Vielleicht sind ja auch einige der alten Darstellungen von Menschen mit Flügeln in Wirklichkeit Aufzeichnungen über die Leva!“

      „Ja...", sagte ich zögerlich. „Aber was ist mit irgendwelchen Fossilien, die ganz eindeutige Beweise für eure Existenz wären?“

      „Die Flügel zerfallen, wenn wir tot sind, da sind keine Knochen drin. Außerdem haben wir Wissenschaftler, die sich unter den Menschen einen guten Ruf erarbeitet haben. Die würden wenn nötig Spuren verwischen oder Expertisen erstellen, von wegen 'kuriose Laune der Natur, aber aus diesen und jenen Gründen längst ausgestorben'. Also wir haben gewisse Notfallstrategien. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Menschen unter all den verstreuten Überresten von Lebewesen gerade welche finden, die uns verraten könnten, ist aber ohnehin ziemlich gering. Es hat im Verhältnis wohl immer schon extrem wenige Leva gegeben.“

      „Wie viele gibt es denn?“

      „Heute knapp viertausend auf der ganzen Welt.“

      „Viertausend? Das ist doch nicht wenig!“, rief ich.

      „Na hör mal! Im Vergleich zu Milliarden von Menschen? Vater sagt immer, mit unserer kleinen Familie wäre Norwegen eigentlich schon überbevölkert - dabei gibt es hier noch ein paar mehr.“

      „Schon, aber viertausend Leva vor den Menschen zu verstecken...!“

      „So gesehen hast du natürlich Recht. Es ist schwierig und verlangt größte Disziplin von uns allen. Dementsprechend streng sind unsere Gesetze und auch die Bestrafungen, wenn man sie bricht. Zum Glück glaubt aber sowieso kaum jemand einem Menschen, der doch einmal etwas von uns sieht. Meist glauben sie sich's ja selbst nicht einmal.“

      „Ihr habt Gesetze?“, fragte ich erstaunt.

      „Klar. Wenn sowas funktionieren soll, braucht es Regeln. Es gibt einen Rat und es gibt den 'Arm'. So nenne wir die, die dafür sorgen, dass die Gesetze eingehalten werden. Die sind furchtbar wichtig, weil... auch wenn sich alle bemühen, die Geheimhaltung nicht zu gefährden, gibt es immer wieder Leva, die es doch tun.“ Sie schwieg einen Moment lang. „So wie ich zum Beispiel.“

      „Du? Was hast du gemacht?“, fragte ich erstaunt.

      „Na denk mal nach! Was mach ich hier denn gerade? Geheimhaltung ist was anderes!“ Sie wirkte ziemlich elend.

      Ich sah sie forschend an. „Warum machst du es dann?“, fragte ich vorsichtig.

      „Weil ich keine andere Wahl habe“, sagte sie leise. „Rob, das schlimmste Verbrechen hab ich gestern schon begangen. Als... als du beinahe gestorben wärst. Als ich dich gerettet habe.“

      „Du hättest mich nicht retten dürfen?“, fragte ich erschrocken.

      „Schon, aber... nicht so.“

      „Was...“, begann ich nervös. „Was hast du denn gemacht?“

      Sie schien sich innerlich zu winden. „Ich... ich hab dich geimpft."

      „Wie meinst du das?“

      Sie knetete ihre Hände und rutsche unbehaglich am Bettrand hin