Mathias Bestle

Robinson.Leva


Скачать книгу

„Hast du den Schlüssel?“

      Ich fasste in die Hosentasche von Saats Jeans. „Ja, der ist hier.“

      „Na dann... So schwer kann Auto fahren nicht sein.“ Sie packte die Flasche zurück in den Rucksack und stand auf. „Wir fahren, bis wir Empfang haben und rufen dann ein Taxi.“

      Ich nickte zögerlich. „Aber glaubst du denn, dass das Auto noch da sein wird?“

      „Rob, du hast den Schlüssel.“

      „Ach ja...", murmelte ich. „Aber was, wenn Saat uns dort auflauert?“

      „Vertrau mir. Wir sind vor ihm sicher.“

      Ich blieb stehen. „Ist er wirklich nicht tot?“

      „Nein. Bitte Rob, ich kann jetzt nicht..."

      So war ich schon wieder allein mit meinen Gedanken. Ich konnte einfach nicht begreifen, was hier geschehen war. Plötzlich traten mir Tränen in die Augen. Was hatte ich Saat denn getan? Gab er mir etwa die Schuld am Tod unserer Eltern? Warum hatte ich nichts bemerkt, nichts kommen gesehen?

      Dala hatte mich gewarnt, nicht mit ihm zum Meer zu fahren. Sie war uns sogar gefolgt. Das konnte doch keine bloße Intuition gewesen sein! Woher um alles in der Welt hatte sie gewusst, was passieren würde? Sie kannte Saat doch nicht einmal!

      Ich hatte das Gefühl, verrückt zu werden. Meine Welt fiel in sich zusammen. Was konnte ich überhaupt noch glauben, wem konnte ich vertrauen? Wenn es nach meinem Kopf ging, niemandem - schon gar nicht diesem blassen, schwachen Mädchen, das da an meinem Arm hing und offenbar Geheimnisse vor mir hatte, von deren Ausmaßen ich keine Ahnung hatte.

      Der Weg war mühevoll und erschien mir sehr viel länger als am Nachmittag mit Saat. Die Sonne stand tief und wanderte bereits gegen Norden, als wir endlich vor uns die Scheunen, an denen die Straße endete, erblickten. Mein Herz begann zu rasen und ich hob einen schweren Stein hoch. Dala sah mich fragend an.

      „Nur für den Fall", murmelte ich.

      Sie schien mir nicht böse zu sein, dass ich ihr noch immer nicht ganz glauben konnte. Während ich um Saats Auto herumging, hinein und sogar darunter spähte, stand sie gegen die Motorhaube gelehnt und wartete stumm. Sobald ich aufsperrte, ließ sie sich erschöpft auf die Rückbank fallen. Ich nahm mein Handy vom Beifahrersitz und schaltete es an. Wie erwartet hatte es keinen Empfang.

      „Wie geht es dir?“, fragte ich Dala.

      „Im Liegen gleich viel besser."

      Tatsächlich wurden ihre Wangen bereits ein wenig rosiger und ihre blassen Lippen füllten sich mit Farbe. Man konnte beinahe zusehen, wie ihr das Blut aus den Beinen zurück in den Kopf floss, als hätte sie nicht genug davon für ihren ganzen Körper.

      „Bist du sicher, dass du nicht verletzt bist?“, fragte ich und ließ meinen Blick auf der Suche nach dunklen Flecken über ihre Kleidung wandern. „Du kommst mir vor, als hättest du viel Blut verloren.“

      „Es ist alles in Ordnung", sagte sie. „Lass uns fahren, Rob.“

      Ich setzte mich nach vorne und schnallte mich an. Erst einmal versuchte ich herauszufinden, welches Pedal welche Funktion hatte und wie um Himmels Willen ich mit zwei Füßen alle drei bedienen sollte. Schließlich drehte ich am Zündschlüssel. Die Reaktion des Autos kam mir so zwar nicht bekannt vor, doch es hopste ohnehin nur zwei, drei Mal, und dann fuhr es ganz normal.

      „Pass auf, das Haus!“, kreischte Dala und ich riss das Steuer herum.

      „Du hast mich erschreckt!“, rief ich. „Wir waren noch weit davon entfernt!“

      „Ja, tu mir einen Gefallen und bleib bei diesem Abstand", maulte sie, während sie vom Boden zurück auf die Rückbank kletterte.

      Im Schritttempo fuhr ich um die Scheune herum, bis die Straße wieder vor uns auftauchte. Auf ihr angekommen, trat ich aufs Gas und der Motor wurde furchtbar laut.

      „Vielleicht solltest du einen Gang höher schalten!“, brüllte Dala.

      „Okay!“, schrie ich nervös, doch es klappte problemlos, sah man davon ab, dass Dala zum zweiten Mal zu Boden katapultiert wurde.

      Nach einigen langen Kilometern mit vielen Engstellen und Kurven erreichten wir schließlich die Fischereisiedlung. In diesem Augenblick ertönte mein Textnachrichten-Klingelton. Ich erschrak so sehr, dass ich auf die Bremse sprang.

      „Das ist Saat!“, rief ich.

      „Nein“, keuchte Dala vom Boden herauf. „Das bin ich. Das sind all meine Warnungen. Jetzt kommen sie wohl etwas zu spät...“

      Kapitel 5, Leva

      Nach zwei Anrufen bei Luigis Pizzakolosseum erwischte Dala die Nummer des Taxiunternehmens. Dann gab es für uns nichts mehr zu tun, als zu warten. Dala schlief erschöpft auf der Rückbank ein und ich griff zögerlich nach meinem Handy. 13 versäumte Anrufe von Dala DeLuca stand dort. Darunter war eine ganze Liste von Textnachrichten. Es waren immer verzweifeltere Warnungen. Gerade als ich meine Sprachnachrichten abhören wollte, war der Akku leer. Ich war beinahe froh darum. Ich schaltete das Radio an, um mich abzulenken und versuchte, mich auf die Musik zu konzentrieren. Dieses Lied hatte ich bestimmt seit Jahren nicht – ach... Ich hatte es überhaupt noch nie gehört. Nicht in diesem Leben jedenfalls. Ob man sich an etwas so Absurdes wie Amnesie überhaupt gewöhnen konnte? Mit einem Mal erinnerte ich mich an mein größtes Problem, bevor das alles hier geschehen war. Unglaublich, dass das erst wenige Stunden her war. Dalas Verhalten, plötzlich tat es wieder weh. Ich beobachtete sie durch den Rückspiegel, wie sie mit zuckendem Gesicht schlief. Sie war wohl nur deshalb wieder hier bei mir, weil in der Zwischenzeit... Ich runzelte die Stirn, plötzlich verstand ich alles sogar noch weniger. Dala wusste Dinge über Saat, von denen ich keine Ahnung hatte, aber über mich wusste sie nichts? Wie hatte sie herausgefunden, was er plante, sie hatte ihn doch noch nicht einmal getroffen! Oder etwa doch? Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass sie in etwas Böses verwickelt war. Es musste ein Zufall sein. Ja, sie hatte zufällig etwas beobachtet, was Saat gemacht hatte... Vielleicht war sie bei mir zu Hause gewesen um mit mir zu reden - heute, als ich längst von der Schule zurück sein hätte sollen. Und Saat - ja, was hatte Saat gemacht? Was hatte sie gesehen? Wollte sie sich deshalb mit mir beim Hafen treffen? Um mich zu warnen?

      Sie schnarchte ein wenig.

      Auf jeden Fall war sie eine wahre Heldin. Meine Heldin. Wie könnte ich ihr überhaupt noch Vorwürfe machen wegen gestern, nach allem, was sie heute für mich getan hatte? Sie war erschrocken, wer konnte ihr das verdenken? Es ist erschütternd, wenn der Glaube, jemanden zu kennen mit einem Schlag zerstört wird. An Saat nur zu denken ließ mein Herz rasen.

      Endlich kam das Taxi. Ich winkte es heran und weckte Dala sanft auf. Saats Wagen ließen wir einfach am Straßenrand zurück.

      „Wohin?“, fragte der Fahrer, als wir uns Tromsø näherten.

      Das war eine gute Frage. Ich konnte unmöglich nach Hause!

      „Du kommst natürlich mit zu mir", sagte Dala, als hätte sie meine Gedanken gelesen. Ich war erleichtert und der Fahrer genervt.

      „Und jetzt soll ich wissen, wo das ist?“

      Dala nannte ihre Adresse und für einen Moment wurden Anspannung, Verwirrung und Schmerz von einer sehr alten Freude verdrängt: Dala lud mich zu sich nach Hause ein.

      Als wir ankamen, war ich überrascht, wie schnell die Fahrt vergangen war. Erschrocken fiel mir ein, dass ich überhaupt kein Geld hatte, doch Dala winkte ab und bezahlte den mürrischen Fahrer mit nassen Scheinen.

      Das Haus war groß und weiß und stand inmitten eines etwas verwilderten Gartens. Dala führte mich in eine weite Eingangshalle und bat mich, kurz zu warten. Mit Orangensaft, Brot und einer kleinen Plastikdose unterm Arm kam sie wieder. Ich folgte ihr eine marmorne Treppe hinauf in ein riesiges Zimmer. Obwohl es protzig eingerichtet war, hatte es eine tröstliche, beruhigende Wirkung auf mich. Jeder