Mathias Bestle

Robinson.Leva


Скачать книгу

lassen.

      Kurz schien er fassungslos zu sein. „Dieses verdammte Mädchen!“, schimpfte er dann. „Ich dachte, du wärst bei ihr abgeblitzt!“

      „Das ist über einen Monat her.“

      „Hatte ich nicht gesagt, du sollst dich von ihr fernhalten?“

      „Du kannst dich abregen, sie geht mir ohnehin aus dem Weg, seit ich ihr von meiner Amnesie erzählt habe.“

      „Was?“, krächzte er und klang ernsthaft schockiert. Ich hätte mir eher erwartet, dass er froh sein würde.

      „Sie will anscheinend nicht... Sie will nicht mit jemandem-“ Meine Stimme brach.

      „Das tut mir leid", sagte Saat nach einer längeren Stille. „Wo bist du genau? Ich hole dich ab.“

      Zwanzig Minuten später saß ich in seinem Auto.

      „Wo fährst du hin?“, fragte ich ihn, als er nicht den Weg nach Hause einschlug.

      „Ich bringe dich auf andere Gedanken", sagte er. „Heute beginnen die Ferien und du hast das Jahr auf der Raske Skole erfolgreich hinter dich gebracht. Eigentlich solltest du dich freuen!“

      „Mein Zeugnis kommt erst nächste Woche", sagte ich, einfach nur um ihm zu widersprechen.

      „Aber du weißt, dass du gut abgeschnitten hast", sagte er und wuschelte mir durch die Haare.

      Ich schob gereizt seine Hand beiseite. „Verrätst du mir endlich, wo wir hinfahren?“

      „Nach Kvaløya", sagte er und ließ sich seine Fröhlichkeit offenbar nicht verderben. Kvaløya war eine große, gebirgige Insel, die Tromsøya, auf der der Hauptteil der Stadt Tromsø lag, zwischen sich und dem Festland einschloss. „Ich dachte, du hättest vielleicht Lust, endlich einmal das offene Meer zu sehen.“

      Ich gab mir Mühe zu verbergen, dass ich von dieser Idee tatsächlich angetan war. Es würde mir guttun, abgelenkt zu sein.

      Wir näherten uns dem Flughafen und ein Tunnel führte uns unter der Rollbahn hindurch. Auf der anderen Seite erreichten wir eine Brücke. Sie war noch größer als jene, die ich zu Anfang in Tromsø so bestaunt hatte, und die später zu meinem täglichen Schulweg geworden war. Wir überquerten sie und Saat bog in Richtung Norden ab. Bald schon ließen wir die letzten Häuser hinter uns. Die Straße verlief parallel zur Küste. Zu unserer Linken stiegen Berghänge empor, rechts grasten Schafe auf grünen Wiesen. Zum Wiederkäuen legten sie sich am liebsten auf den warmen Asphalt. Saat hupte genervt, und mein Handy stimmte mit ein. Mein Herz machte einen Satz. Nur zwei Menschen hatten meine Nummer, und einer davon saß neben mir.

      „Ist das dieses Mädchen?“, fragte Saat. „Schreib ihr, sie soll dich in Ruhe lassen.“

      Ich ignorierte ihn und las Dalas Nachricht:

       Triff mich in einer Stunde am Hafen

      Ein Satz, mehr stand da nicht. Kein 'Es tut mir leid, ich habe mich blöd benommen'. Kein Wort davon, dass sie all meine Anrufe ignoriert hatte und sogar von der Arbeit zu Hause geblieben war, um mich nicht sehen zu müssen. Dafür hatte ich nun den Beweis, denn krank war sie ja offenbar nicht. Trotzdem wusste ich, dass ich zum Treffpunkt gegangen wäre, wäre ich zu Hause gewesen. Ich wollte schließlich mit ihr reden.

      Vielleicht war es besser so. So sah es zumindest aus, als hätte ich ein wenig Stolz.

      Ich fahre mit Saat ans Meer

      schrieb ich und legte das Handy beiseite.

      „Hast du sie abgewiesen?“, fragte Saat.

      Ich nickte.

      Eine halbe Minute später kam schon Dalas Antwort:

       Nein!!Ich flehe dich an fahr nicht mit saat zum meer komm zu deiner haltestelle ich bin in 10 min dort!

      ‚Ich flehe dich an’ – das klang ja geschwollen. Jetzt verstand ich sie wirklich nicht mehr. Was war so wichtig?

      Geht nicht, wir sind schon auf Kvaløya

      schrieb ich.

      „Wieso reagierst du jetzt doch wieder auf sie?“, fragte Saat gereizt.

      „Schon gut, reg dich ab", murmelte ich.

      Plötzlich läutete mein Handy. Mein Bruder protestierte lautstark, doch ich hob ab. Ich hörte ein Rauschen, dazwischen unverständliche Wortfetzen von Dala und schließlich, nach einem Klicken, das Besetztzeichen.

      „Kein Empfang?“, fragte Saat, als ich das Handy genervt ausschaltete. Ich antwortete nicht, ich konnte seinen zufriedenen Gesichtsausdruck nicht ausstehen.

      Inzwischen waren die Felder neben uns verschwunden, die Straße verlief direkt am Ufer. Noch immer konnten wir das offene Meer nicht sehen, nur einen Meeresarm, auf dessen anderer Seite eine weitere große Insel lag. Wir kamen zu einem Tunnel, der die beiden Inseln verband, fuhren jedoch weiter geradeaus. Unsere Straße wurde nun deutlich schmäler.

      Nach einiger Zeit bogen wir in eine Bucht ein, in der ein kleines Fischerdorf lag. Gerade als ich überlegte, ob ich hier den Empfang noch einmal prüfen sollte, ging die asphaltierte Straße in einen Schotterweg über. Saats altes Auto holperte nun ächzend über Schlaglöcher hinweg. Dala würde warten müssen. Mit Funkmasten war hier draußen wohl wirklich nicht mehr zu rechnen...

      Ziemlich durchgeschüttelt erreichten wir nach einigen weiteren Kilometern zwei einsame Scheunen. Hier endete der Weg, alles schien verlassen zu sein. Saat stellte das Auto ab.

      „Und jetzt?“, fragte ich.

      „Jetzt gehen wir zu Fuß weiter.“

      Ich seufzte, obwohl ich eigentlich nichts dagegen hatte. Im Gegenteil, es würde mir sogar guttun, mich ein wenig zu bewegen. Saat holte unsere zwei Schwimmbad-Rucksäcke aus dem Kofferraum und drückte mir Jeans, ein T-Shirt und den dicken, grünen Pullover in die Hand, den er mir zum Julfest geschenkt hatte. Ich zog mich um, den Pullover verstaute ich genervt. Hätte er sich zum Packen eine Minute mehr Zeit gelassen, hätte er wohl auch einen gefunden, der nicht viel zu heiß war...

      „Hast du etwas zu trinken dabei?“, fragte ich.

      Er wühlte in seinem Rucksack herum und warf mir eine Flasche mit einem Powerdrink zu. „Einen Schokoriegel habe ich auch noch für dich.“

      Noch bevor ich zum zweiten Mal abgebissen hatte, marschierte er los. Ich musste mich beeilen, ihm nachzukommen, er schien plötzlich ungeduldig zu sein. Unser Weg führte uns über leicht ansteigendes Gelände, das mit Heidesträuchern, grobem Gras und einigen wettergebeugten Birken bewachsen war. An einer sumpfigen Stelle schreckten wir ein paar Rentiere auf. Ab hier gingen wir einem kleinen Bach entlang wieder bergab, verfolgt von lästigen Fliegen

      „Pass auf, dass du nicht hineinfällst", sagte Saat, bevor ich sicher übers Wasser sprang. Er selbst trat eine Sekunde später hinein und versank bis zum Knie. Ich lachte und konnte nicht mehr aufhören, obwohl es wirklich nicht so lustig gewesen war. Es fühlte sich an, als würde Gewicht von meinen Schultern abfallen, es tat einfach gut - Saat wirkte allerdings sauer.

      Der Bach mündete in einer kleinen Bucht im Meer, ein paar verlassene Hütten standen daneben. Ab hier konnten wir direkt dem schmalen Strand folgen. Erst als der schütter bewaldete Berghang zu unserer Linken flacher wurde und das Ufer einen Bogen machte, tat sich endlich ein Streifen des offenen Meeres vor uns auf.

      „Hast du dir mehr erwartet?“, fragte Saat.

      „Nein", antwortete ich wahrheitsgemäß, denn der Anblick, der sich uns bot, war wunderschön. Der Himmel war bewölkt und der Horizont nah, doch Lichtstrahlen hingen so deutlich in der Luft, dass man das Gefühl hatte, sie berühren zu können. Wo sie auf das ruhige Wasser trafen, hinterließen sie goldene Flecken. Wir waren vollkommen allein und hörten nichts als die vereinzelten Schreie von ein paar Möwen.

      Saat führte mich an die Spitze einer schmalen,