Mathias Bestle

Robinson.Leva


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tut mir leid wegen vorhin, ich habe überreagiert", sagte er. „Lass uns zum Schwimmen an den Strand fahren, die Mitternachtssonne genießen und darüber reden.“

      Ach ja, der Streit, den hatte ich völlig vergessen. Hätte Saat es bloß geschafft mich aufzuhalten...

      „Nein", sagte ich und begann, die Treppe hinauf zu gehen.

      „Hör mal, ich habe mich entschuldigt!“, rief er mir entrüstet hinterher.

      Ich drehte mich um. „Es ist nicht... Ich bin nicht böse auf dich..."

      „Dann komm mit zum Meer!“

      „Ich will nicht.“

      „Warum nicht?“

      Ich seufzte. Er gab einfach nicht auf. „Ich bin abgeblitzt."

      Für einen Augenblick sah ich Triumph und Erleichterung über sein Gesicht huschen. „Das tut mir leid", sagte er scheinheilig.

      „Was hast du eigentlich für ein Problem?“, rief ich, rannte die Treppe hinauf und schlug die Zimmertür hinter mir zu. Ich warf mich auf mein Bett und begann, mich abwechselnd selbst zu bemitleiden und zu hassen. Ich würde Dala nie mehr in die Augen sehen können. Ich hatte meine einzige Freundin verloren. Sie war der Grund, warum ich noch nicht vor Einsamkeit zugrunde gegangen war. Wieso hatte ich etwas so Schönes kaputt gemacht? Was hatte ich mir erwartet? Dass sie mir verkündete, auf diesen Augenblick habe sie gewartet, seit sie mich zum ersten Mal gesehen hatte? Wie konnte ich mir überhaupt einbilden, dass sie mich mochte? Ich war dumm und hässlich und niemand würde mich je mögen. Ich starrte an die Decke und fühlte mich hilflos und verletzlich wie ein kleines Kind.

      Ich las ‚Die Leiden des jungen Werther’, bis ich das Gefühl hatte zu verhungern. Ich stand auf und lauschte an der Tür. Als ich mir sicher war, dass Saat bereits zu Bett gegangen war, schlich ich nach unten in die Küche. Dort stand ein großer Topf Mousse au Chocolat und daneben lag ein Zettel:

       Es tut mir ehrlich leid

       (Rest bitte in den Kühlschrank stellen)

      Wenn er nicht gerade ein Idiot war, konnte er so nett sein. Vielleicht hatte ich mich vorhin ja geirrt? Vielleicht war er nur erleichtert gewesen, dass mein Frust gar nicht gegen ihn gerichtet war? Ich löffelte die ganze Schüssel aus und wartete auf die Schokolade-Glückshormone, doch sie kamen nicht. Mir wurde nur schlecht.

      Am nächsten Morgen tat ich beim Frühstück, als wäre nichts geschehen und Saat stieg darauf ein. Bevor ich die Küche verließ, murmelte ich „Danke für das Mousse“ und er lächelte.

      Bis zum Montagmorgen hatte sich meine Stimmung ein wenig gebessert. Ich hatte ein paar Dinge festgestellt:

      1 Werther ging mir auf die Nerven.

      2 Ich war nicht der erste, der je bei einem Mädchen abgeblitzt war.

      3 Selbstmitleid war auf Dauer ganz schön anstrengend.

      4 Dala hatte nicht gewirkt, als wollte sie nicht mehr mit mir befreundet sein.

      5 Wenn ich mich damit begnügen konnte, war nicht alles verloren.

      6 Ich stand voll auf Freundschaft.

      Als ich am Nachmittag im Bus saß, begann meine Aufbauliste allerdings blass zu werden. Das bevorstehende Wiedersehen mit Dala machte mir Angst. Wie würde sie sich verhalten? Ich hoffte inständig, dass sie die Sache einfach nicht ansprechen würde. Ich selbst würde jedenfalls bestimmt nicht davon anfangen. So zu tun, als wäre nichts gewesen, hatte sich mit Saat schon bewährt...

      Dala stieg ein und ich hielt die Luft an. Sie entdeckte mich, kam auf mich zu und setzte sich neben mich.

      „Hi", sagte sie.

      „Es tut mir leid!“, rief ich. „Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist und es wird nie wieder passieren! Bitte sag, dass wir noch Freunde sind...!“ Soviel zu meinem Vorsatz. Ich zwang mich, sie anzusehen, obwohl ich viel lieber meine Schuhe beobachtet hätte.

      „Das ist wirklich keine so große Sache", sagte sie lächelnd. „Und natürlich sind wir noch Freunde, wo denkst du denn hin!“

      Ich war furchtbar erleichtert.

      „Aber ich verlange von dir, dass du wieder normal mit mir redest. Immer nur ‚Ja’ und ‚Nein’ als Antwort zu bekommen, ist nämlich nicht sehr unterhaltsam, weißt du?“

      „Ja.“

      „Versprochen?“

      „Ja.“

      „Machst du das mit Absicht?“

      „Nein.“

      Sie lachte. „Wie geht’s deiner Hand?“

      „Die hatte ich ganz vergessen...", murmelte ich. Ich betrachtete die Flecken, die inzwischen hellbraun geworden waren.

      „Ein Glück", sagte sie. Heute fasste sie meine Hand nicht an, um sie zu untersuchen. „Mein Bruder musste damals eine Woche lang Babybrei essen. Mit einem Strohhalm.“

      Alles war anders.

      Es fühlte sich anders an.

      Statt natürlicher Nähe war da nun bedachte Distanz. Wir vermieden es sorgfältig, uns zu nahe zu kommen oder uns auch nur zufällig zu berühren. Dala hörte vorübergehend sogar auf, mir in die Seite zu boxen. Ehemals hoffnungsfroh in mir aufkeimende Gefühle taten nun weh. Öfter denn je lag ich reglos in meinem Zimmer und fühlte mich einsam.

      So gesehen war es mir nur recht, dass sich mit dem letzten Schulmonat die Arbeitslast ein letztes Mal steigerte. Und dass sich Saat, zumindest was den Sport betraf, sogar noch stärker mit mir befasste. Denn auch wenn ich nicht gut mit ihm reden konnte, sein immerwährender Ansporn half mir, Frust und Druck abzubauen.

      Und den Rest erledigte die Zeit. Schicht um Schicht umspann sie meine Gefühle für Dala und packte sie weg. Natürlich musste ich mithelfen, Dinge ersticken, Dinge ignorieren, Dinge umbewerten, aber von Tag zu Tag weniger, bis ich darüber nicht einmal mehr nachdenken musste.

      In der letzten Schulwoche wurde ich ungeduldig. Ich wollte, dass Dala das Thema Ferien endlich ansprach. Nach der gerade erst überstandenen Krise kam es nicht in Frage, dass ich es war, der davon anfing. Meine größte Sorge war natürlich, dass sie wieder die ganze Zeit in Italien verbringen würde. Doch sicherlich waren sieben Wochen bei den Verwandten entschieden zu lang...?

      Dass das größte Problem nicht die Ferien waren, begriff ich erst auf der Heimfahrt an meinem vorletzten Schultag.

      „Sag mal Rob, ist dir bewusst, dass wir uns morgen zum letzten Mal hier im Bus sehen werden?“, sagte Dala.

      „Warum?“, fragte ich erschrocken.

      „Na, weil ich ab Herbst doch wieder zur Schule gehe!“

      „Aber ich dachte... Haben unsere Schulen denn nicht zur selben Zeit Unterrichtsende?“

      „Nein. In der Raske Skole ist alles ein wenig anders. Außerdem-“

      „Aber morgens!“, unterbrach ich sie. „Morgens müssen wir doch bestimmt zur selben Zeit fahren!“

      „Rob, das wäre ja schön, aber ich muss den Bus nehmen, der durch den Tunnel fährt. Meine Schule ist oben, neben der Universität.“

      „Oh", sagte ich betreten. „Das heißt...“

      So, das wars. Nett, dich kennengelernt zu haben.

      „Das heißt, wir müssen einen anderen Weg finden, uns regelmäßig zu sehen", sagte Dala.

      „Auf jeden Fall!“, pflichtete ich ihr erleichtert bei.

      „Wir sollten uns ein gemeinsames Hobby suchen...“

      „Gute Idee! Wie wäre es mit-“

      „Schwimmen fällt aus.“