Claus Beese

Geschichten aus dem Leben


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zu verschaffen. Etliche meiner schönen Sukkulenten lagen in ihren zerbrochenen Kübeln und Töpfen auf dem Boden. Dazwischen die sieben Stühle, die in dem Wirrwarr aus Kabeln, Wasserschlauch und Kamerastativen scheinbar untrennbar zu einem Gordischen Knoten verstrickt waren. Dann wanderte mein Blick Richtung `Taurigonadus´ - er war verblüht ...

      Es stiegen mir Tränen in meine vom grauen Star bedrohten Augen. Zwanzig Jahre umsonst gewartet? Mit meiner Hand, die wahrscheinlich im Moment mehr Kaktusstacheln als alle meine Lieblinge zusammen aufwies, erreichte ich Kamera Nummer zwei. Sie lief noch! Ich spulte sie zurück und sah durch den Gucker die Aufnahme. Oh je, von der Blüte meines `Taurigonadus´ war nichts zu sehen, dafür ein unglaubliches Szenario, das, wenn der Augenblick für mich nicht so traurig gewesen wäre, mich bestimmt zum Lachen gebracht hätte.

      Ich rappelte mich auf, stellte endlich das Wasser ab und schaltete das große Licht an. Kopfschüttelnd begann ich, die Trümmer aufzuräumen, die zerbrochen Töpfe würde ich morgen früh ersetzen, und ging traurig hinüber ins Haus. Meine Trauer schwand, als ich feststellte, dass ich zwar dank meines Alters nicht mehr live erleben würde, dass mein seltenster Kaktus noch einmal blüht, aber es einen Lichtblick gab. Als ich den Pocketfilm zum Fotoladen brachte, zeigte sich, dass ich wie durch ein Wunder wohl im Dunkeln genau einmal in Richtung Kaktusblüte geknipst hatte! Stolz trug ich den kleinen 6x9cm Farbbildabzug in der Hand nach Hause. Die darauf festgehaltene Blüte war wunderschön. Ich durfte sie zwar nicht wirklich genießen, war aber wenigstens mit ihr in einem Raum – das war doch immerhin auch schon mal was! Dank meines Enkels wurde das aufgenommene Chaosvideo ein Hit im Internet. Mit jedem Klick verdiene ich drei Euro-Cent. Wenn ich das Geld zusammen habe, werde ich nach Mexiko reisen, um mir dort in freier Natur einen blühenden `Taurigonadus doliaris´ anzusehen. Ein Traum geht in Erfüllung!

      Die verlorene Mutter

      Von Anita Koschorrek-Müller

      Endlich Feierabend! Ich sitze im Regionalzug auf dem Weg nach Hause. Den heutigen Tag sollte ich am besten ersatzlos aus meinem Gedächtnis streichen.

      „Ihre Aufgabe war es, eine Reportage zu schreiben, also Tatsachen, Fakten objektiv darstellen und keine Emotionen“, hatte der Chefredakteur wieder kritisiert. „In Ihren Texten ist zu viel Gefühl. Sie sollten sich überlegen, ob Journalismus das Richtige für Sie ist!“

      Was bildet der sich überhaupt ein, dieser Mann mit der Ausstrahlung eines Kühlschranks.

      Der Zug fährt in den nächsten Bahnhof ein, und ich öffne das Abteilfenster. Es ist schwül und heiß. Ein Gewitter liegt in der Luft. Ich atme tief durch. Die Kommentare dieses arroganten Heinis haben mir zugesetzt.

      Auf dem Bahnsteig herrscht geschäftiges Treiben. Einige schwarz gekleidete Menschen umarmen sich. Vermutlich kommen sie von einer Beerdigung. Noch einmal Hände schütteln, Tränen, Abschied. Ich werde ungeduldig, will nach Hause, über die gefühlsarme Welt der Presse und der Männer nachdenken. Der Zug setzt sich wieder in Bewegung. Die Schwarzgekleideten auf dem Bahnsteig winken mit Taschentüchern.

      Ich schließe das Fenster und setze mich. Na, endlich geht’s weiter. Rums, mit Schwung wird die Abteiltür aufgerissen und ein kleiner rothaariger Junge stürmt herein.

      „Papa, komm! Hier ist noch Platz!“

      Der Kleine trampelt auf meine Füße und schmeißt sich auf den Fensterplatz mir gegenüber. Ich blicke in ein sommersprossiges Jungengesicht mit leuchtend blauen Augen. Der Vater, schwarzer Anzug, schwarze Krawatte, betritt das Abteil, nickt mir zu und ermahnt seinen Sohn: „Oskar, nicht so wild!“

      Dann nimmt auch er Platz, zieht sich die Krawatte vom Hals, steckt sie in seine Jackentasche und wischt sich den Schweiß von der Stirn.

      „Papa, wie soll es denn weitergehen, jetzt, wo ich die Mutter verloren habe? Wie soll das denn gehen ohne Mutter?“ Das Kind reißt die Augen auf und die Unterlippe zittert verdächtig.

      „Ach, das weiß ich im Moment auch nicht. Lass mich jetzt erst mal telefonieren, damit ich unser Auto flottkriege.“

      Der Junge blickt aus dem Fenster und ich beobachte, wie sich seine blauen Augen mit Tränen füllen. Schniefend zieht er die Nase hoch. Der Vater schnauzt ihn an. „Hast du kein Taschentuch?“

      „Nee!“

      Der Vater durchwühlt seine Jackentaschen, wird fündig und wirft Oskar ein Papiertaschentuch zu.

      „Jetzt putz dir die Nase und hör mit der Heulerei auf. Wir kriegen das schon irgendwie hin.“

      Oskars Vater zückt sein iPhone und wischt über den Bildschirm.

      Was ist das denn für ein Vater? Der Sohn hat gerade die Mutter verloren, und er telefoniert wegen seines Autos in der Gegend herum, statt sein Kind zu trösten. Männer! Da ist mein Kühlschrank von einem Chefredakteur ein warmer Bollerofen gegen diesen Tiefkühlvater. Der Junge kann einem wirklich leidtun.

      „Aha, die Elektrik, ich dachte es mir“, quatscht der Vater in sein iPhone. Der Junge schnäuzt sich, blickt zu mir herüber. Seine Tränen sind ihm offensichtlich peinlich. Dann huscht ein spitzbübisches Grinsen über sein Gesicht und er will mir etwas erzählen.

      „Das war heute Morgen megalustig. Papa wollte das Auto aufschließen und alle Fenster sind rauf und runter gesaust.“

      „Oskar, sei still! Ich versteh nichts!“, maßregelt der Vater den Sohn und quakt wieder in sein iPhone: „Ja! Jetzt kann ich sie besser verstehen. Ich sitze im Zug und die Verbindung ist sehr schlecht.“

      Hast du Töne! Da zeigt das Kind ein bisschen Freude und lacht, schon wird es von diesem Despoten niedergemacht.

      Ach, ich kann mich noch gut daran erinnern, als meine Mutter starb. Wie lange ist das her? Zehn Jahre, nein, sogar schon elf. Ich fühlte mich wie entwurzelt. Ich war fünfundzwanzig und habe lange gebraucht, um über diesen Verlust hinwegzukommen. Und dieser Knabe, der mir hier gegenübersitzt, ist höchstens zehn.

      Ich schiele vorsichtig zu diesem Vatermonster hinüber. Was ist das nur für ein Mensch? Managertyp, eindeutig, das sieht man an den Schuhen und an den Socken. Alles akkurat aufeinander abgestimmt und teuer. Das ist nicht der Turnschuh-Papa, der am Sonntag mit seinem Sohn zum Fußballspiel fährt oder das ganze Wochenende mit dem Sohnemann ein Baumhaus baut. Wahrscheinlich wirft er spät abends, wenn er nach Hause kommt, noch einen Blick auf sein schlafendes Kind und erkundigt sich bei Mama nach den Schulnoten.

      Ja, und diese Mama gibt es jetzt nicht mehr. Das arme Kind sitzt da und stiert todtraurig aus dem Fenster. Mütterliche Instinkte regen sich in mir. Finster blicke ich diesen sogenannten Vater an, der inzwischen das, ach so wichtige, Telefonat beendet hat und frage: „Darf ich Ihrem Sohn ein paar Gummibärchen geben?“

      „Von mir aus!“ Der gleichgültige Unterton in der Stimme schockiert mich. Aber Oskar lächelt. Ich wühle in meinem Rucksack, finde zwei Päckchen Gummibärchen und überreiche sie dem strahlenden Kind.

      „Wie sagt man?“

      „Danke“, sagt Oskar.

      Aha, Vati erzieht. Dieser Vater ist echt ein Arsch. Irgendwann, wenn er sein Kind ins Leben entlässt, ist alles Herzliche und Mitfühlende erloschen und dieses Kind wird sich so verhalten wie dieser Kühlschrank von Chefredakteur.

      „Papa, ich muss mal!“ Oskar springt auf.

      „Moment“, der Vater erhebt sich, „ich komme mit.“

      „Nein, das kann ich alleine!“

      „Okay, links den Gang runter.“

      „Mensch, Papa, das weiß ich!“

      Kaum hat Oskar das Abteil verlassen, klingelt Papas iPhone.

      „Hallo, Schatz, schön, dass du anrufst“, säuselt er und wendet sich ab, „Du bist süß! ... Nein, wir sitzen im Zug ... Oskar ist gerade aufs Klo.“

      Aha, das Kind ist nicht da und Papa kann ungestört Süßholz raspeln.

      „Wann es passiert ist? Am Samstagnachmittag ... Mmh ... Ja, er war fix und fertig und hat den